Wachend werde ich dein Angesicht sehen.

Psalm 17,15 'Esbe'ah Behaqitz Temunatekhah. Ein Kapitel aus dem Buch von Rabbiner Dr. M. S. Cohen, Travels on the Road Not Taken

Martin Samuel Cohen

"Wachend werde ich dein Angesicht sehen"

Psalm 17,15: "Esbe"ah Behaqitz Temunatekhah

Vorbemerkung:

In seinem Buch, "Travels on the Road Not Taken" (Auf dem Weg, der nicht begangen wurde), setzt sich Rabbiner Martin S. Cohen mit der Tatsache auseinander, daß die fünfteilige Tora (die fünf Bücher Moses oder der Pentateuch) mit starker priesterlicher Orientierung ergänzt wird vom fünfteiligen Psalter, der durchdrungen ist vom prophetischen Geist des alten Israel. Cohen beginnt mit einer Untersuchung darüber, wer die levitischen Sänger waren, deren Hymnen zu unserem Buch der Psalmen wurden. Er verwirft die Vorstellung, sie seien Glieder einer Art von geringerer priesterlicher Ordnung gewesen, die ganz selbstverständlich den "wirklichen" Priestern zur Hand gingen. Dagegen entwickelt er den Gedanken, daß sie wahrscheinlich als Rivalen angesehen wurden und als unbeliebte Vertreter einer anderen Art von israelitischer Spiritualität, was sich dann in verschiedenen Texten niedergeschlagen hat (z. B. 4. Mose 3,9 und 18,19), wo die Leviten als Leibeigene oder Sklaven der Priester bezeichnet werden. Cohen nimmt an, daß zwischen den beiden Gruppen Feindschaft bestand und daß die grausamen, ungenannten Feinde, denen sich die Dichter der Psalmen in ihren Gesängen wieder und wieder ausgesetzt sehen, jene priesterlichen Herren der Leviten waren oder zumindest eine besonders feindlich gesinnte Untergruppe der alten Priesterschaft. Cohen schreibt in seinem Nachwort: "Wenn der fünfteilige Psalter Davids als Antwort auf die fünfteilige Tora Moses geschrieben wurde, dann stand sicher der Versuch dahinter, eine Art und Weise des frühen Judentums zu erhalten, das in Gefahr war, durch einen institutionalisierten, kultischen Glauben unterwandert und erstickt zu werden, der Macht, Geld und die unermeßlich grandiose Autorität des Jerusalemer Hohepriestertums hinter sich hatte." In seinem Buch ruft Cohen anhand der Auslegung mehrerer Psalmen Israel dazu auf, nicht nur ein Volk von Priestern, sondern nicht weniger ein Volk von Propheten zu sein. Im Blick darauf, daß der Gott Israels, wie er sagt, "ein überragend kommunikativer", Gemeinschaft suchender Gott ist, sollte dieser Ruf den Christen wohl nicht weniger gelten als den Juden.

Der Verfasser des Gedichts, das wir als den siebzehnten Psalm kennen, beginnt nur zögernd und bezeichnet seine Bemühung schlicht als Gebet Davids. Er überläßt es uns, seinen Lesern, zu erraten, welcher besondere Anlaß im Leben Davids ihn inspiriert haben mag.

Dies ist kein einfaches Gedicht. Und der altertümliche Stil, der ohne Frage an das Hebräisch der Tage Davids erinnern soll, macht das Wasser nur noch trüber als es ohnedies schon wäre. Trotzdem, die grundsätzliche Ausrichtung der religiösen Weltanschauung des Dichters ist offensichtlich und, für mich jedenfalls, äußerst bedeutsam. Ich meine verstehen zu können, warum die Art seiner Weltbetrachtung Menschen anzog, die Gott in ähnlicher Weise leidenschaftlich und mit den Sinnen ihres Körpers zu erfassen suchten.

Wie der Verfasser des dreiundsechzigsten Psalms – und die Autoren vieler anderer Gedichte im Buch der Psalmen - fühlt auch dieser sich verfolgt und arg bedrängt. Wenn er schreibt, daß Gott ihn rechtfertigen wird, besteht kein Zweifel über seine deprimierte Verfassung: Gott wird ihm möglicherweise, ja vielleicht sogar ganz sicher vergeben. Aber von schwächlichen, stupiden, voreingenommenen Menschen kann er keinen Freispruch erwarten. Wenn er Gott anruft, daß er ihn "wie seinen Augapfel" bewahre vor seinen sterblichen Feinden – namenlosen Schurken, die ihn von allen Seiten bedrängen – dann ist es sicher nicht einmal für uns abgestumpfte moderne Typen leicht, seine Dichtung als Produkt eines desillusionierten, verschnupften und weinerlichen Mannes abzutun. Und wenn er – nur für einen Augenblick – vom Plural zum Singular übergeht und seine Nemesis als "Löwen voller Gier zu zerreißen, im Hinterhalt lauernd" bezeichnet und Gott anruft, sich zu erheben und den Frevlern entgegenzutreten, dann gibt es keinen logischen Grund, solche Klage verallgemeinernd als Beschreibung des Verhältnisses von gut und böse in der Welt auszulegen. Der Dichter war ein Mensch wie wir, der wirkliche Feinde hatte, die ihn in jeder nur denkbaren Weise herabsetzten und verspotteten.

Ich kann über den anonymen Feind nicht viel Information anbieten. Über den Psalmisten jedoch gibt es einiges zu sagen. Zunächst war er ein Mensch, der sich danach sehnte, Gott direkt zu sich reden zu hören. Ich meine sogar der sechste Vers seines Gedichts kann so übersetzt werden, daß sich die Vorstellung ergibt, Gott wird gerade deshalb mit ihm reden, weil er Gott in genau der rechten Weise angerufen und wahrscheinlich Gottes Ohr erreicht und in Gott das Verlangen erweckt hat, ihm zu antworten. Aber der Dichter will nicht nur Gottes Stimme hören, sondern Gott auch sehen. Und er scheut sich nicht, das zu sagen.

Der letzte Vers seines Gedichts ist so zuversichtlich wie präzise. "Ani betzedeq "ehezeh panekhah, schreibt er, "esbe "ah behaqitz temunatekhah. Ich zitiere diese Worte zuerst in Hebräisch, weil jedes einzelne geladen ist mit soviel sinnträchtigen Schichten, daß es fast unmöglich ist, sie mit einiger Genauigkeit zu übersetzen.

Um am Ende anzufangen: Der Dichter weiß genau was er will, nämlich nicht nur Gott sehen in einer Art von nächtlicher Traumvision, sondern Gott zu sehen in wachem Zustand in der Weise der großen vorexilischen Propheten. Heute, einige tausend Jahre später mag das vielleicht ein bißchen banal klingen. Aber im Umkreis der Welt, in der der Dichter lebte waren dies – gelinde gesagt – kämpferische Worte. Und ihre Wucht kann nur gemessen werden am Maß, in dem sie anderen überlieferten Texten widersprechen, die Anspruch auf unanfechtbare Autorität erheben. Die verschiedenen Beispiele prophetischen Umgangs mit Gott, die aufgeschrieben und uns in der Bibel überliefert wurden, werden fast alle als Visionen in wachem Zustand beschrieben. Wenn sich jedoch die (priesterliche) Tora mit dem Thema solcher intimen Erfahrung Gottes beschäftigt, behauptet sie klar und unzweideutig, daß allein Mose einen derart vertraulichen Umgang mit Gott haben konnte. Mose allein, und kein anderer Prophet. Nie und nimmer.

Vielleicht sollten wir uns diese Verse anschauen bevor wir fortfahren. Im zwölften Kapitel des vierten Buchs Moses (Numeri) wird eine kurze Geschichte darüber erzählt, wie Aaron und Miriam der Status ihres Bruders als als Gottes besonderer Vertrauter unangenehm wurde. Die genauen Einzelheiten ihrer Beschwerde und die außergewöhnliche Antwort, die sie hervorrief, sind hier nicht so wichtig, umso wichtiger sind die Worte, die in der Schrift als Gottes Antwort auf ihre Unverschämtheit festgehalten wurden. Es sind die anderen Propheten, sagt die Tora, die Gott in Träumen und Gesichten schauen – Mose aber ist anders. Gott redet zu ihm "von Mund zu Mund", eine Redewendung, die sowohl an den Nachruf Moses erinnert, wo es heißt, Gott habe mit ihm "von Angesicht zu Angesicht" geredet, als auch an die Notiz in der Schrift, wo es heißt, Gott habe zu Mose gesprochen "wie ein Mensch zum andern".

Die Tora unterscheidet Mose aber nicht allein durch die Art seines Hörens von anderen Propheten, sondern besonders durch die seines Sehens. Es scheint, daß die anderen Propheten Gott tatsächlich in ihren Träumen sehen. Und hier haben wir einen gewissen Anachronismus im Text: Sollen wir uns wirklich vorstellen, daß zwischen den Erzählungen des elften und zwölften Kapitels des Buches genug Zeit verstrichen ist, so daß die Tora verallgemeinernd sagen könnte, welcher Art die prophetischen Visionen der neuerlich eingesetzten prophetischen Ältesten ist? Aber wichtiger noch ist hier die Behauptung, Mose sei einzigartig. Temunat hashem yabit, behauptet der Text: Mose sieht die temunah Gottes, nämlich gerade den Aspekt Gottes, den der Psalmist zu sehen wünscht, während die anderen (geringeren) Propheten, etwas weniger Markantes, weniger Transzendentes sehen. Aber mehr noch: Wenn Mose das Angesicht Gottes sieht, ist er hellwach und nicht in einer Art mystischen Trance. Genauso und nicht anders will ihn nun aber auch der Dichter unseres Psalms sehen.

Was ist nun aber diese temunah? In modernem Hebräisch ist das Wort zum einfachen Begriff für "Bild" geworden. Das ist wahrscheinlich auch die Bedeutung, die in den zehn Geboten gemeint ist, wenn den Kindern Israel verboten wurde, ein Bildnis, vermutlich eine Art Fetisch irgend eines Geschöpfes zu machen, das in der Luft fliegt, im Meer oder auf dem Land lebt. Aber ist das auch die Bedeutung des Begriffs, wenn wir lesen, daß Mose die anderen Propheten überragte, weil er allein würdig war, die göttliche temunah zu sehen, vermutlich etwas Besseres, Realeres und Intimeres, als was andere in ihren Träumen sehen konnten?

Es gibt in der Tora einen Passus, der hier sicher sehr bedeutungsvoll ist: Die fast berühmte Aussage, in der Mose das Volk daran erinnert, daß Israel am Sinai nur eine schwache prophetische Erfahrung in nationalem Umfang gemacht habe: "Der Herr sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Ihr hörtet nur den Donner der Worte," sagt Mose. Es konnte eigentlich nicht klarer gesagt werden, aber um es eindeutig zu machen, fügt er hinzu: "Eine temunah habt ihr nicht gesehen." Und als hätte er im Augenblick vergessen, daß seine Zuhörerschaft fast ausschließlich aus den Kindern der Leute bestand, die am Sinai dabeigewesen waren: "…Ihr habt nur den Donner gehört."

Wenn es unsere priesterliche Tora betrifft können wir nur zu dem Schluß kommen, daß es drei grundsätzliche Ebenen der Prophetie gibt: Die Massenerfahrung, die das Volk am Sinai machte, bei der es nichts von der göttlichen Gestalt wahrnahm und sich mit dem Hören der Stimme Gottes abfand (oder abfinden mußte). Dann die ein wenig höhere transzendente Ebene, wo die Propheten (außer Mose selbst) etwas sehen - etwas, aber nicht die göttliche temunah. Und dann natürlich Mose selbst, der einzige Prophet äußerster Transzendenz, der würdig war, Gott zu sehen – nicht in Visionen oder Träumen, sondern in wacher Erfahrung. Aber selbst für Mose bedurfte es der Gewöhnung. Die Schrift macht deutlich, wie er in seiner ersten Gottesbegegnung am brennenden Busch, als er merkt um was es hier geht, sofort sein Gesicht bedeckt, "denn er fürchtete sich Gott anzuschauen."

Andere Schriftstellen, ganz abgesehen von der berühmten, in der es heißt, "niemand kann Gott sehen und (über)leben," scheinen dieses allgemeine Verständnis, wie Menschen Gott wahrnehmen, zu unterstreichen. Doch diese priesterliche Vorstellung war offensichtlich sowohl den vorexilischen Propheten, wie auch ihren späteren nachexilischen levitischen Nachfolgern fremd. Sie sahen Gott und sie alle (über)lebten, um uns ihre Erfahrung zu erzählen. Aber mehr noch, sie scheinen die Erfahrung mit Behagen und Enthusiasmus kultiviert zu haben, ohne den leisesten Anflug von selbstmörderischer Manie. Und was der Autor des siebzehnten Psalms begehrt, ist die Erfahrung der temunah Gottes in wachem, bewußtem Zustand. Gott wahrzunehmen (in leichter Abwandlung der Schrift) "so wie eine Person vor der andern steht". Gott zu kennen in genau der gleichen Weise, wie die Tora behauptet, daß nur Mose es je konnte. Genau diese Erfahrung Gottes zu überleben, von der die Tora unzweideutig sagt, daß allein Mose sie durchleben konnte.

Der Psalmist will nun diese Erfahrung nicht etwa nur ein- oder zweimal machen. Das Zeitwort, das er hier gebraucht – "esbe"ah – beinhaltet, daß er gierig ist nach der Erfahrung und sie vollkommen befriedigend machen will. (Ein anderer biblischer Text gebraucht das gleiche Zeitwort, um die Art und Weise zu beschreiben in der jemand sich so mit Honig vollschlägt, daß er sich übergeben muß, ehe er überhaupt etwas davon verdauen kann.) Sicher, das klassische Hebräisch gebraucht den Begriff in einer Anzahl von Stellen, die weit weniger dramatisch sind und einfach nur Übersättigung bedeuten. Aber ich denke, der Dichter verwendet den Begriff hier in seiner gröberen Bedeutung, so wie er an anderer Stelle in seinem Gedicht davon spricht, Reichtum nicht nur für seinen eigenen Lebensunterhalt zu haben, sondern genug als Hinterlassenschaft für seine Kinder, mit andern Worten, Überfluß, mehr als genug.

Das Zeitwort in der ersten Hälfte des Verses ist ebenfalls schwerwiegend. "Ehezeh, sagt der Dichter, dein Angesicht schauen. Auch dieses Wort hat seine beziehungsreichen Nebenbedeutungen in der Geschichte israelitischer Prophetie. Der Verfasser der Bücher Samuel betont, daß hozim, "Seher", der ursprüngliche hebräische Name für die ekstatischen Propheten Israels war. Ich nehme an, daß sie so genannt wurden, weil sie Gott schauten. Selbst die Tora mit ihrer im allgemeinen negativen Einstellung zur Prophetie gebraucht diesen Ausdruck in ihrem Bericht über das große Bundesmahl, das die Ältesten an den Hängen des Sinai ausrichteten. Und auch hier hat es genau die gleiche Bedeutung. Vayehezu "et ha"elohim, sagt die Tora, "die Ältesten schauten Gott. (Es ist natürlich wahr, daß die Tora diesem Begriff mit der vorangestellten Bemerkung einen Dämpfer aufsetzt, indem sie betont, daß in diesem besonderen Fall – und wahrscheinlich allein in diesem Fall – Gott sie nicht getötet habe. Aber diese Art von "Rückzieher vor dem Ereignis" ist nur ein weiteres Beispiel für die unbewiesene priesterliche Behauptung, daß niemand außer Mose je die göttliche temunah schauen kann.)

Wenn wir nun all das zusammentun, können wir den letzten Vers des siebzehnten Psalms tatsächlich als die Gewißheit eines frühen Dichters ansehen, der Gott schauen will, und das trotz der Schmähungen und Angriffe seiner Feinde, trotz der Feindschaft der Tempelpriester und ihrer anti-prophetischen Tora und trotz der schreckerregenden Hybris, die schon der Idee innewohnt (ganz zu schweigen von der realen Praxis), Gott schauen zu wollen - trotz allem: "Ich bin gerechtfertigt dein Angesicht zu suchen, und ich werde mich übersättigen an der wachen, bewußten Erfahrung deiner temunah."

Der Dichter begegnet uns in der Maske Davids, des Propheten-Königs Israels, dessen unübersehbares prophetisches Reservoir dem Psalmisten offensichtlich groß genug erschien, seine eigenen Bemühungen um das Schauen der Gottheit zu rechtfertigen. Aber an welches besondere Ereignis im Leben Davids dachte er dabei? Mit andern Worten: Welches konkrete Ereignis stellt sich der Dichter vor, das den König bewegt hätte, dies Gedicht zu schreiben?

Radak (Rabbi David Kimchi von Narbonne 1157-1236), dessen Kommentar der Psalmen unter die psychologisch und theologisch scharfsinnigsten zählt, schreibt, daß David diesen besonderen Psalm nach den Ereignissen, die mit Uria, dem Hittiter (und seiner lieblichen Frau Bathsheba) zu tun hatten, geschrieben habe.

Die Geschichte gehört zwar zu den bekanntesten der Bibel, aber vielleicht sollte ich sie kurz wiedergeben, im Fall ihre Einzelheiten verdrängt oder vergessen wurden. Es beginnt damit, daß David sich spät nachmittags auf dem Dach seines Palasts die Zeit vertreibt. Plötzlich sieht er eine schöne Frau auf dem Dach ihres ein wenig niedrigeren Dachs ein Bad nehmen. Er wird sehr neugierig, läßt die notwendigen Nachforschungen anstellen und erfährt, daß es sich um Bathsheba, die Frau Urias, des Hittiters, eines Soldaten Davids handelt.

Nun entwickelt sich eins nach dem andern und bevor man sich versieht - der Erzähler gebraucht taktvoll hier nur einen halben Satz – ist die Frau schwanger. David ist nicht gerade erfreut. (Und gewiß auch Bathsheba nicht, die in der Erzählung nichts sagt, außer daß sie dem David die drei Wörter mitteilt: "Ich bin schwanger." Die Erzählung geht aber schließlich um David, nicht um sie… dennoch, man müßte meinen, der Erzähler hätte ihr wenigstens etwas zu tun geben können – außer dem Schwanger-Werden. Aber er tat es nicht.)

David muß nun schnell handeln, um seine Untat zu verheimlichen. Die Verheimlichung der Schwangerschaft wäre nicht nötig gewesen, wenn Uria zu Hause gelebt und mit seiner Frau geschlafen hätte. Das Kind wäre dann von ihrem Mann gewesen, obwohl es vielleicht Davids rote Harre geerbt hätte. Uria, der Heimaturlaub hat, ist nun aber ein zu gewissenhafter Mann – und dies ist ein Höhepunkt biblischer Ironie – von seinem Recht Gebrauch zu machen und in seinem eigenen Bett zu schlafen. Er lehnt dies aber ab, weil er an seine Kameraden denkt, die in Nähe der feindlichen Front zelten müssen. Darum greift David zu einem andern Mittel: Er gibt seinem General Joab Befehl, Uria nach seiner Rückkehr in die vorderste Linie der Front zu senden, wo er prompt beim nächsten Angriff der Ammoniter getötet wird. Problem gelöst.

Nicht ganz. David läßt Bathsheba zu sich in den Palast kommen und zwar unmittelbar nachdem die formelle Trauerperiode vorüber ist. Die Schrift sagt nicht, wie lang sie war, aber wir dürfen annehmen, Bathsheba wurde früh genug in den Serail des Palasts aufgenommen, daß niemand an der Vaterschaft Davids gezweifelt hätte.

Jetzt kommt der Prophet Nathan ins Bild. Gott zeigt dem Propheten den Sachverhalt. Er legt David ein Gleichnis vor, in dem ein Reicher das Lamm eines Armen stiehlt, um es für seinen unerwartet erscheinenden Besucher zu rösten. Nathan trägt dick auf – das beste Beispiel dafür ist, daß er sagt, das Lamm sei ein so geliebtes Glied der Familie des Armen gewesen, daß er es wie seine eigene Tochter angesehen habe. David kriegt es trotzdem nicht mit und nimmt das Gleichnis Nathans als wahre Geschichte, entscheidet auf der Stelle, daß der Reiche getötet werden und (als ob das nicht genug wäre) den vierfachen Gegenwert des Lammes als (vermutlich posthume) Strafe für seine diebische Gier zahlen solle. Nathan, der vermutlich eine derartige Antwort erwartet hatte, nimmt nun all seinen Mut zusammen und sieht dem König ins Auge. Atah ha"isch, sagt er - "Du bist der Mann!" – und packt damit mehr gerechte Entrüstung in zwei Wörter als viele Schriftsteller in zwei Kapiteln ausdrücken können.

Was nun folgt, sind nur Ausläufer der Erzählung. Weil David um seines Verlangens nach der Frau eines andern willen mordete, muß er nun die Schmach erleiden, daß ein anderer mit einigen seiner eigenen Frauen schläft. Aber nicht nur das, sondern das Kind, mit dem Bathsheba schwanger ist, wird sterben.

Beide Vorhersagen erfüllen sich – mit dem zusätzlichen ironischen Dreh, daß dieser andere Davids eigener Sohn Absalom ist, der mit zehn Konkubinen seines Vaters schläft. Aber David braucht nicht auf die Erfüllung dieser Voraussagen zu warten. "Ich habe vor Gott gesündigt", erklärt er offen und rückhaltlos, und der Prophet zögert nicht, ihm die Vergebung Gottes zuzusprechen, die David dringend ersehnt. "Gott hat deine Sünde weggetan," erklärt er mit Gewißheit und fügt hinzu, daß David selbst nicht sterben wird, obwohl der Sohn, der ihm geboren werden soll, sterben muß.

In jüdischer Sicht ist dies (und weder der Tod Urias noch der des Kindes) das Zentrum der Erzählung und ihr Höhepunkt: Es ist der Augenblick der Reue, die so rein und so real ist, daß sie allein das göttliche Gericht abwendet, obwohl das Kind dennoch sein Leben verliert. Es ist dieser Augenblick, dem die Kommentatoren die Komposition des siebzehnten Psalms zuschreiben. Wir können uns in Spitzfindigkeiten verlieren über die Frage, ob David selbst oder ein späterer Dichter als David dieses Gedicht geschrieben hat. Doch weit wichtiger ist hier der Schrei des Dichters nach Rechtfertigung, wenn er die bittere Folge seiner Sünden bedenkt… und seine nicht weniger authentische Gewißheit, die angesichts der schrecklichen Umstände erstaunlich ist, daß er gerechtfertigt dennoch das Angesicht Gottes sehen soll, und zwar nicht nur in der üblichen prophetischen Weise, sondern daß er sich mit der erfahrenen Erkenntnis Gottes vollstopfen und übersättigen will.

Der Dichter weiß, er hat gesündigt hat, wie es alle Erdgebundenen tun müssen. Aber er hat eine Position totaler Reue bezogen. Dafür will er nun ebenso bedeutungsvoll entlohnt werden, wie es die angemessene Schwere der Strafe gewesen wäre. Ich stelle mir vor, daß er sich sagt, er habe sich niemals so schwer versündigt wie David, warum sollte sein Lohn dann geringer sein? Keine so unmögliche Frage…

Niemand, der sich nach Gotteserkenntnis sehnt, wird nicht wenigstens gelegentlich an die Möglichkeit denken, daß dem menschlichen Unternehmen, Gott schauen zu wollen, von vornherein eine gewisse Blasphemie innewohnt. Immerhin sagt die Schrift ziemlich eindeutig, daß kein Mensch Gott sehen und eine solche Erfahrung überleben kann. Wenn nun aber die Berichte der Propheten dieser Versicherung widersprechen, dann stehen wir einem schwierig zu lösenden Dilemma gegenüber, das uns nicht leicht zur Ruhe kommen lassen will.

Der siebzehnte Psalm aber bietet einen zweiten Hinweis, besonders wenn ein Ereignis im Leben Davids ihn inspirierte, wie Radak meinte. Es gibt in dieser Welt beides: das schlichte Bedauern und die tiefgehende Reue. Aber keins von beiden kann die lähmende, blasphemische Absurdität überwinden, die das Gottsuchen jedes denkenden Menschen ständig gefährdet. Wer in der Gegenwart Gottes (be)stehen will, muß zuerst in völliger Reue zu Gott zurückkehren, in diese Haltung transzendentalen Zerbruchs, in der ein Mensch, der sie erfährt, verwandelt wird.

Wie alle wahren religiösen Erfahrungen kann auch tiefe Reue nicht in komplexen Ritualen gesucht und weder durch das Singen von Hymnen oder das Studium heiliger Texte vorbereitet oder bewirkt werden. Sie ist nicht leicht faßbar und nur schwer zu erreichen. Dennoch ist sie der Zustand des menschlichen Herzens, das sich auf Gott hin ausrichtet und sich nicht durch Trägheit, Gleichgültigkeit oder Gier davon abhalten läßt, Gott in Reinheit seiner Motivation mit allen Sinnen und leidenschaftlich zu suchen. Und um es ganz schlicht zu sagen: Wer Gott sehen will, muß zuerst wagen, ehrlich und offen sich selbst anzusehen…

Anmerkungen:

Es gibt dutzende von Texten in den Psalmen, die entweder als persönliche oder kommunale Klagen bezeichnet werden können – Gedichte, in denen der Dichter sich über sein persönliches Schicksal oder das seiner Nation beschwert. Die stärksten persönlichen Klagen finden sich in den Psalmen 6, 7, 9, 10, 28, 31, 36, 55, 57 und 64. Die bekanntesten kommunalen Klagen finden sich in den Psalmen 12, 14, 60, 85 und 126. Alle diese Texte sind im einzelnen zur Sprache gebracht bei W. H. Bellinger Jr. in Psalmody and Prophecy (Sheffield [U.K.], 1984 =Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series, volume 27, pp. 32-77.


Der Verfasser des siebzehnten Psalms ist gewiß, daß Gott ihn rechtfertigen wird - so nach der Übersetzung des hebräischen mishpat in der Jewish Publication Society von 1985. Der Hinweis auf den Feind des Dichters, der wie ein Löwe ihm auflauert, findet sich im 12. Vers, und der Hilferuf zu Gott, der um die Überwindung des Feindes gebeten wird in Vers 23. Des Dichters Gewißheit, daß Gott zu ihm sprechen wird, erscheint in Vers 6. Die Bemerkung, daß Gott zu Mose "von Mund zu Mund" sprach, findet sich in 4. Mose 12,8. Es finden sich weitere Hinweise auf das Reden Gottes mit Mose "von Angesicht zu Angesicht" in 2. Mose 33,11 und 5. Mose 34,10. Die Referenz über Gottes Reden mit Mose "wie ein Mann zum andern" findet sich in 2. Mose 33,11. Das Wort temunah erscheint in den Zehn Geboten, 2. Mose 20,4 und 5. Mose 5,8. Mose bemerkt, daß das Gotteserlebnis Israels sich auf das Hören der Stimme Gottes beschränkte und kein Sehen einschloß: 5. Mose 4:12 (wiederholt in Vers 15). Der Text in 4. Mose 12 scheint die Begriffe temunah und mar"eh ("Vision" oder "Gesicht") zu wesentlich verschiedenen Erfahrungen des Göttlichen zu gebrauchen, wobei sie in Hiob 4:16 das gleiche meinen. Die Schrift sagt, Mose bedeckte sein Gesicht als er merkte, daß er Gott sehen würde am brennenden Busch: 2. Mose 3:6. Die Bemerkung, daß kein Mensch das Angesicht Gottes sehen könne und (über)leben, findet sich in 2. Mose 33,20. Der Hinweis auf das Sich-Übergeben-Müssen nach dem Genuß von zu viel Honig steht in Sprüche 25,16. Der Verfasser des siebzehnten Psalms spricht im Vers 14 von genug Reichtum, um seinen Kindern ein Erbteil hinterlassen zu können. Die Geschichte, in der David den Tod Uriahs arrangiert und ihre Folgen findet sich in 2. Samuel 11 und 12. Bathshebas Nachricht ("ich bin schwanger") ist 2. Samuel 11:5 notiert. Daß Absalom mit den Konkubinen seines Vaters schlief wird am Ende von 2. Samuel 16 erwähnt. Radak verbindet in seinem Kommentar zu Vers 2 den siebzehnten Psalm mit der Geschichte über Uria und Bathsheba und so auch Sforno.


Raschi verbindet in seiner Bemerkung zu Vers 11 den Psalm mit den Ereignissen unmittelbar nach dieser Geschichte. Wir können sicher sein, daß die Geschichte Davids und Bathshebas beim Psalmisten des einundfünfzigsten Psalms am Anfang eine Rolle spielte, wo es heißt, daß der Psalm von David speziell als Antwort auf den Einspruch Nathans geschrieben wurde. Außerdem ist es möglich, daß die dunklen Anspielungen auf den Tod eines Kindes in den unklaren Überschriften zum neunten und sechsundvierzigsten Psalm auf diese Geschichte hinzielen, der letztere allerdings noch unklarer als der erstere.

Editorische Anmerkungen

Der vorstehende Artikel ist mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlags dem Buch "Travels on the Road Not Taken: Towards a Bible-Based Theory of Jewish Spirituality" entnommen. (Auf dem Weg, der nicht begangen wurde). Übertragung aus dem Englischen: Fritz Voll.

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