Von Gott reden - nach Auschwitz

Rev. Dr. Franklin Sherman geht der Frage nach, wie die göttliche Souveränität und Auschwitz zusammengehalten werden können, und überdenkt dabei sieben Theorien, die eine Antwort zu geben versuchen.

Franklin Sherman

Von Gott reden - nach Auschwitz

Die Tatsache, dass wir ein Thema wie „Von Gott reden - nach Auschwitz“ aufgreifen können1zeigt, dass ein gewisser Reifegrad im lutherisch-jüdischen Gespräch erreicht ist. Immerhin ist es noch nicht sehr lange her, dass man allgemein bezweifelt hat, ob die tieferen Fragen des Glaubens überhaupt in einem interreligiösen Rahmen behandelt werden können. Sind sie nicht zu persönlich, ureigen und zu sehr mit dem Gepäck unserer je eigenen Geschichte beladen, als dass sie das geeignete Thema für einen Dialog sein könnten, der einen Neuanfang in unseren gegenseitigen Beziehungen ins Auge fasst?

Es ist das Verdienst der Initiatoren des lutherisch-jüdischen Gesprächs, dass sie von Anfang an mutig genug waren, solche biblischen und theologischen Themen aufzugreifen, in denen die tiefsten Überzeugungen beider Seiten zum Ausdruck kommen konnten. Auf vielen dieser Themen lag jedoch – auf beiden Seiten – ein solches Gewicht fester Lehrtraditionen, in jahrhunderte-, ja jahrtausende-langer Diskussion herausgebildet, so dass die Wortführer beider Glaubensgemeinschaften nicht viel mehr als Berichterstatter überlieferter Lehrsätze sein konnten. Vielleicht traf das eher auf Lutheraner zu, die sehr viel eher bereit waren, ihren Glauben in Lehrsätze oder dogmatische Formen zu gießen, als auf das Judentum. Das heutige Thema aber konfrontiert uns mit einer Frage, auf die es diese fertigen Antworten nicht gibt.

Selbst das Judentum, das nun seit einigen Generationen mit der Erinnerung an den „Holocaust“ lebt, hat bisher kaum einen Konsens über dessen Bedeutung gefunden – wenn der Begriff „Bedeutung“ überhaupt auf ein derart irrationales und tragisches Ereignis angewandt werden darf. Und unter Lutheranern, wenigstens amerikanischen Lutheranern, gibt es Zweifel, ob man sich der Frage bereits überhaupt ernsthaft ausgesetzt hat. Deshalb darf ihr Erscheinen auf unserer Tagesordnung nicht als Hinweis genommen werden, dass die Zeit für ein abschließendes Wort schon reif wäre. Ganz im Gegenteil: Es ist an der Zeit, das Problem mit ernsthaftem Engagement anzugehen. Der vorliegende Text hat deshalb den Charakter eines Essays – er ist eher der Versuch, die Frage zu erschließen, als eine endgültige Erklärung.

Der Mensch nach Auschwitz

Unser Thema könnte leichter behandelt werden, wenn es lauten würde: „Reden vom Menschen – nach Auschwitz“. Denn was über den Menschen nach der Erfahrung des Holocaust gesagt werden muss, scheint mir ziemlich deutlich. Lassen Sie es mich mit den Gedanken eines der Nebenfiguren der Lutherischen Reformation, Matthias Flacius Illyricus, sagen.

Sowohl die lutherische als auch die kalvinistische Theologie des 16. Jahrhunderts beharrten bekanntlich auf einem sehr realistischen, wenn nicht gar pessimistischen Menschenbild. Doch Flacius ging in diesem anthropologischen Realismus zu weit. Die Sünde, sagte er, ist zur Substanz des natürlichen Menschen geworden, und das Bild Gottes im Menschen ist „zu einem Bilde des Satans umgeformt“. Deshalb wurde er von den lutherischen Vätern verurteilt, wie man im 1. Artikel der Konkordienformel von 1577 sehen kann. Seine Verwerfung war entscheidend dafür, dass das Luthertum die Fähigkeiten des Menschen in Kultur und Geschichte stärker eingeschätzt hat, als man ihm manchmal zuschrieb.2

Aus der Sicht des Zeitalters „nach Auschwitz“ müssen wir wohl sagen, dass Flacius seiner Zeit voraus war. Wenn er behauptet hat, dass das Bild Gottes im Menschen zum Bild des Satans geworden sei, irrte er, wenn er das auf die ganze Menschheit bezog. Aber er hatte, wie wir heute zugeben müssen, eine richtige Ahnung von den Untiefen, in die der Mensch in Gestalt der Massenmörder unserer Zeit fallen kann. Elie Wiesel beschreibt dies Phänomen so:

Es ist möglich, in eine Oberschicht oder Mittelklasse-Familie geboren zu werden, eine erstklassige Erziehung zu empfangen, Eltern und Nachbarn zu respektieren, Museen und literarische Zirkel zu besuchen, eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen und eines Tages damit zu beginnen, Männer, Frauen und Kinder zu massakrieren, ohne zu zögern und ohne Schuldgefühl. Es ist möglich, seine Waffe auf lebende Ziele zu richten und dennoch sich am Rhythmus eines Gedichts oder der Komposition eines Gemäldes zu erfreuen. Das geistige Erbe eines Menschen ist kein Schirm, ethische Entwürfe geben keinen Schutz. Einer kann den Sohn vor den Augen seines Vaters quälen und sich weiterhin als Mann von Kultur und Religion empfinden. Und von einem friedlichen Sonnenuntergang über dem Meer träumen.3

Das ist der Satan als Engel des Lichts verkleidet. Und wie die Berichte von den Grausamkeiten in Vietnam gezeigt haben: So etwas kommt nicht nur in Deutschland vor, noch wurde es nur von Deutschen begangen. Wenn wir aufrichtig vom Menschen, so wie wir ihn in unserer Zeit kennengelernt haben, sprechen wollen, dürfen wir nicht vergessen, was wir über diese dämonischen Tiefen menschlicher Natur gelernt haben.

Aber was ist mit Gott? Das ist die Frage, mit der wir heute konfrontiert sind. Kurz gesagt ist es diese Frage: Wie können wir länger an einen liebenden und mächtigen Gott glauben, an einen Gott der „Herrscher des Universums“ ist, wenn sechs Millionen Juden – fast Zweidrittel des europäischen Judentums – geschlachtet werden konnten, ohne das geringste Zeichen eines Eingreifens, weder von außen noch von oben? (Ich bin sicher, dass es den Insassen der Konzentrationslager gleich gewesen wäre, ob Gott, um sie zu retten, mittelbar oder unmittelbar gehandelt hätte, ob durch Blitze aus dem Himmel oder durch die U.S. Regierung oder den Papst. Nichts geschah!)

Die Theodizee-Frage

Hier stellt sich die Theodizee-Frage in kosmischer Dimension. Bereits das Wort „Theodizee“ selbst – Leibniz soll diesen Begriff geprägt haben – enthält den Kern unseres Problems: Wie ist unsere Vorstellung von Gott, theos, mit unserer Vorstellung von Gerechtigkeit, dike, zu vereinbaren? Oder: Wie sind Gottes Wege mit den Menschen zu rechtfertigen?

So gewendet klingt die Frage blasphemisch. Wer ist der Mensch, dass Gott sich vor ihm rechtfertigen müsste? Doch diese Frage wohnt der biblischen Religion selbst integral inne, von Hiob bis Paulus. Man könnte sagen, die Auschwitzfrage ist die Hiobfrage, sechs Millionen Mal vervielfacht.

Es ist von tieferer Bedeutung, dass die eingehendste Behandlung des Problems des Bösen in der Hebräischen Bibel in die Worte einer dramatischen Erzählung von einem Individuum und seiner Familie gekleidet ist. Auch heute gilt, dass uns der Schrecken und das Geheimnis von Auschwitz eher durch die Geschichte eines Jungen und seiner Familie, wie sie uns Elie Wiesel in seiner Autobiographie mitteilt, nahegebracht werden, als durch alle Statistiken und verallgemeinernden Schlussfolgerungen derer, die versucht haben, das Problem im Ganzen zu analysieren. Vielleicht liegt das daran, dass es dem menschlichen Geist einfach unmöglich ist, Intensität und Ausmaß des Problems gleichermaßen zu bearbeiten. Wenn sich einer einmal bis zu einem gewissen Grad dem Leiden einer einzigen Person genähert hat, die von dem namenlosen Schrecken der Pogrome und Verfolgungen, der Deportationen und der Todeslager betroffen ist, dann ist es schwer, dies, sagen wir, sechzig Mal zu vervielfältigen und dennoch dem Leid nahe zu bleiben. Es sechshundertfach zu vervielfältigen, sechstausendfach, sechzigtausendfach, sechshunderttausendfach, sechsmillionenfach – das ist unmöglich. Und so kehrt der Geist, schwindlig geworden, zu dem Bild des einzelnen Menschen zurück. Ihn sehen wir dann nicht nur als dieser eine, sondern als Inbegriff der ganzen Zahl der Leidenden.

Für unsere Untersuchung ist die Gestalt Hiobs vor allem wegen der wichtigsten Eigenschaft, die ihm die Erzählung zuspricht, relevant: seiner Unschuld. „Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse.“(1,1) Das straft die Vergeltungsdoktrin, wie sie Hiobs Freunde repräsentieren, Lügen – die Idee, dass Leiden als Strafe für Sünden erklärt werden kann. Hiob verteidigt seine Unschuld, und wird dabei am Ende des Dramas von Gott selbst besiegt. Er beansprucht dann nicht mehr, völlig sündlos zu sein – er ist schließlich ein Mensch. Aber er ist in keinster Weise für so große Übertretungen verantwortlich, als dass sie ein Leid, wie das seine, begründen könnten. Darin ist er den Opfern des Holocaust vergleichbar. Denn es ist vor allem ihre Unschuld, die bewegt, und die so verwirrend für die Theodizee ist.

Die Doktrin der Vergeltung ist jedoch zählebig. Wir sollten beachten, dass sie auf zweierlei Weise wirken kann: Erstens als Warnung: „Wenn du sündigst, wirst du leiden.“ Diese Warnung enthält zweifellos eine gewisse Wahrheit und kann erzieherisch wirken. Aber zweitens kann die Vergeltungsdoktrin auch als eine ex post factum Erklärung dienen: „Weil du leidest, musst du gesündigt haben.“ Logisch ist das nicht sinnvoll. Wenn jedes „A“ „B“ ist, dann heißt das noch lange nicht dass jedes „B“ „A“ sein muss. Psychologisch aber ist die Vergeltungsdoktrin „sinnvoll“, weil sie dem sadistischen Impuls entgegen kommt, das Leid anderer dadurch zu vergrößern, dass man ihm eine weitere Schuldlast hinzufügt – muss er das Leid sich doch selber zuschreiben. Wie es umgekehrt auch dazu dienen kann, masochistisch das eigene Leid zu vergrößern.

Der richtende Gott

Wie wird nach dieser Theorie von Gott gesprochen? Er ist ein Gott des Richtens, mehr noch, ein Gott der Rache. Die Trennlinie zwischen Urteil und Rache ist die: In beiden Fällen wird das Leiden auf vorhergehende Sünden bezogen; aber ein „Urteil“ setzt ein vernünftiges Verhältnis zwischen Sünde und Strafe voraus, während „Rache“ ein Missverhältnis impliziert.

Ist der Holocaust als Gottes Gericht über die Juden, oder als ein Racheakt vorstellbar? Herz, Verstand und Seele weisen einen solchen Gedanken instinktiv zurück. Ihn überhaupt zu erwähnen, kommt kaum über die Lippen. Christen müssen jedoch anerkennen, dass die Kirche jahrhundertelang genau diese Theorie bemüht hat, um den Fall Jerusalems und die Zerstörung des jüdischen Staates zu erklären. Die belagernden Römer, so sagte man, waren das Werkzeug Gottes zum Gericht über die Juden, weil diese den Messias nicht anerkannt haben.

Zwar stimmt es, dass sogar einige jüdische Denker die Theorie, Israels Leiden und seine Zerstreuung durch die Römer müsse als Strafe für seine Sünden gedeutet werden, akzeptiert haben. Das macht sie aber keineswegs richtiger. Ihre Unangemessenheit muss deutlich offen gelegt werden. Dazu trägt die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die den Vorwurf an die Juden und das Judentum, für die Kreuzigung verantwortlich zu sein, aufhebt, erheblich bei – genauso wie vergleichbare lutherische Erklärungen. Aber in der Erziehung der großen Menge der Kirchenmitglieder bleibt noch viel zu tun, um das letzte Gespinst dieser Schuld-Strafe-Theorie zu zerschneiden. Das ist eine Präventivmaßnahme, damit in Zukunft niemals die Versuchung auftritt, sie erneut anzuwenden.

Der erziehende Gott

Wenn auch die Vergeltungsdoktrin das wichtigste Erklärungsmuster von Hiobs Gesprächspartnern war, gab es als untergeordnetes Motiv doch noch eine weitere Theorie, die wir die Theorie der moralischen Erziehung nennen können. In einem Wort: Leiden ist gut für dich! „Siehe, selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; drum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht ... Aber den Elenden wird er durch sein Elend erretten und ihm das Ohr öffnen durch Trübsal.“ (Hiob 5,17; 36,15) Auch diese Theorie hat eine Spur Wahrheit in sich, aber eine sehr eingeschränkte Wahrheit. Sie beschreibt richtig, was ein Mensch des Glaubens aus seinem Leiden machen kann – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn die Menschlichkeit selbst zerstört wird, wie in den Konzentrationslagern, dann ist es sinnlos von Veredlung des Charakters zu sprechen.

In beiden Fällen, der Theorie der Vergeltung und der Theorie der moralischen Erziehung, wird das, was der Soziologe Robert K. Merton in anderem Zusammenhang „Theorien mittlerer Reichweite“ nennt, zu einem umfassenden Erklärungsprinzip ausgeweitet; doch diese Ausweitung ist schlicht nicht zu rechtfertigen. Wenn sie es wäre, würde sie uns mit dem Bild Gottes als eines Monsters allein lassen, der seine Geschöpfe quält, um sie zu verbessern – die kosmische Version des amerikanischen Kommandeurs in Vietnam, der erklärte, er musste „das Dorf zerstören, um es zu retten.“

Es ist sehr aufschlussreich, dass sich Parallelen dieser beiden Theorien der Gesprächspartner Hiobs in der Geschichte christlichen Denkens widerspiegeln. Ein bedeutendes Werk, das dieses Problem behandelt, stammt von John Hick „Evil and the God of love“.4 Hick unterscheidet zwei Hauptlehren vom Bösen (eigentlich zwei Haupttypen der Theodizee) im christlichen Denken. Die erste nennt er die Augustinische Lehre, die zweite die Irenäische, nach dem Kirchenvater des zweiten Jahrhunderts, Irenäus.

Die Augustinische Sicht ist an den Kategorien Sünde und Strafe orientiert. Die Existenz von Leiden und Bösem in der Welt kann dem Sündenfall zugeordnet werden, d. h. dem Verschulden des Menschen. Irenäus dagegen blickt für seine Erklärung nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Er „findet die Rechtfertigung für das Böse in einem unendlichen (weil ewigen) Guten, das Gott im Prozess der Zeit hervorbringt.“ Das Leben ist ein Jammertal zur Erziehung der Seele und alles dient am Ende zum Guten. Hick fasst den Gegensatz zwischen den beiden Ansichten so zusammen:

Anstelle der [augustinischen] Lehre, dass der Mensch endlich und vollkommen geschaffen wurde und danach unbegreiflicherweise seine eigene Vollkommenheit zerstört hat und in Sünde und Elend gestürzt ist, äußert Irenäus die Ansicht, dass der Mensch als ein unvollkommenes unfertiges Wesen geschaffen wurde, das sich einer moralischen Entwicklung unterziehen und wachsen muss und schließlich zu der Vollkommenheit gebracht wird, die von seinem Schöpfer für ihn gedacht war ... Statt der augustinischen Sicht der Heimsuchungen des Lebens als göttliche Strafe für Adams Sünde, sieht Irenäus unsere Welt und ihre Vermischung von Gut und Böse als die von Gott vorgegebene Umgebung zur Entwicklung des Menschen ...5

Irenäus selbst gibt diese „optimistische Sicht“ recht bildhaft wieder:

Kenntnis des Guten hätte er [der Mensch] nicht haben können, wenn er das Gegenteil davon nicht kannte... Denn wie die Zunge durch den Geschmack das Erlebnis von Süß und Bitter hat und das Auge durch das Sehen Schwarz von Weiß zu unterscheiden lernt... so auch unser Verstand. Durch das doppelte Erlebnis erhält er die Kenntnis des Guten und kann es sicherer bewahren, indem er Gott gehorcht.6

Die Theorie ist sehr interessant, aber sie reicht in keiner Weise zur Erklärung des Holocaust aus.

Wer mit dem Denken Teilhard de Chardins vertraut ist, sieht, dass er in dieser irenäischen Tradition steht. Alles Leben strebt gegen einen Omega-Punkt und wird in seinem begrenzten Wert durch die vollständige Erfüllung gerechtfertigt, auf die hin sich alle Dinge bewegen. Das ist eine anregende Vision – aber zugleich eine, die auf das Unglück auf diesem Weg nur eingehen kann, indem sie es faktisch kleiner macht. Teilhard ist stark dafür kritisiert worden, dass er in den Begriffen seiner kosmischen Vision die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht erfassen kann, die wohl das umgekehrt haben, was im 19. Jahrhundert als humaner Fortschritt erscheinen konnte.

Gott des Geheimnisses

Während die erste Theorie von Gott als einem Gott des Gerichts spricht, handelt die zweite von Gott als einem Gott des schöpferischen Plans. Aber keine der beiden reicht aus Auschwitz zu erklären, geschweige denn zu rechtfertigen. Keine der beiden hielt Hiob als Erklärung für sein Leid angemessen. Die einzige Antwort, die Hiob bekam, war eine Theophanie: die Erfahrung der überwältigenden Majestät und Erhabenheit Gottes. In diesem Sinn ist die Antwort auf Hiobs Frage: Es gibt keine Antwort – Ich bin Gott und du ein Mensch; und die Tatsache, dass du ein Mensch bist, spiegelt sich genau darin, dass du meine Wege nicht begreifen kannst. Hiob beugt sich zum Staube, in Demut und Vertrauen.

Was bedeutet das für unser Reden von Gott? Es bedeutet, dass wir von Gott als einem Gott des Geheimnisses sprechen und die Unerforschlichkeit Gottes anerkennen.

Wenn wir für einen Augenblick zu Hicks Analyse zurückkehren, dann sehen wir, dass – obwohl er im Großen und Ganzen der Irenäischen Sicht folgt und das Leiden in der Gegenwart durch seinen möglichen Ertrag rechtfertigt, – es eben der Holocaust ist, der nicht in den Rahmen dieser Erklärung eingefügt werden kann. Hick erkennt das auch an; er muss zugeben, dass der Holocaust ein unerklärbares Ereignis bleibt.

Man muss einen schwerwiegenden Mangel von Hicks ganzer Studie nennen: In seinem Buch von 400 Seiten, 1966 veröffentlicht, bezieht er sich erst auf Seite 397 auf den Holocaust! Bis zu diesem Punkt bleibt seine Erörterung allzu sehr eher im Persönlichen, Psychologischen und Metaphysischen, als im Bereich des Historischen und Politischen. Wenn er dieses bedeutendste Beispiel des Bösen in der Gegenwart früher in seine Analyse einbezogen hätte, dann wäre dadurch vielleicht das gesamte Ergebnis beeinflusst worden; es hätte vielleicht den relativen Optimismus seiner irenäischen Sicht zerstört.

Wenn er auf den Holocaust zu sprechen kommt, scheut er sich dennoch nicht, ihn als das zu beschreiben, was er ist. Hick hatte einen Weg beschrieben, der uns hilft, das eigene Leiden zu tragen, wenn wir es im Zusammenhang von Gottes Ziel der Liebe begreifen. „Was ist aber“, so fragt er, „mit den Sünden und dem Leid der Anderen?“ Und er fährt fort:

Wenn wir diese Frage heute stellen, denken wir fast unvermeidlich an das Programm der Nazis, das jüdische Volk auszulöschen, mit all der Brutalität und bestialischen Grausamkeit, die das einschließt und hervorruft. Was bedeutet das letzte Ziel göttlicher Absicht und göttlichen Handelns für Auschwitz und Belsen und die anderen Lager, in denen zwischen 1942 und 1945 zwischen vier und sechs Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder planmäßig und systematisch ermordet wurden? War das in irgend einer Weise von Gott gewollt?


Die Antwort ist offenkundig nein. Dieses Geschehen war absolut böse, sündhaft und teuflisch und ist – so weit der menschliche Geist reicht – nicht zu vergeben. Es war Unrecht, das nie gut gemacht werden kann, ein Schrecken, der das Universum bis an das Ende der Zeiten entstellen wird, und in Bezug darauf kann keine Verurteilung scharf genug ausfallen, kein Abscheu angemessen sein ... Ganz gewiss wollte Gott nicht, dass die Täter dieser fürchterlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit so handelten. Sein Ziel für diese Welt ist durch sie verzögert und die Macht des Bösen in der Welt verstärkt worden.7

Deshalb kann Hick keine Erklärung für den Holocaust geben. Das Äußerste, was er anbieten kann, ist ein Wort der Hoffnung und des Trostes für die Individuen, die in ihm gefangen waren. Seine diesbezüglichen Worte verdienen es, ausführlicher zitiert zu werden.

Unser christliches Bewusstsein von einem universalen göttlichen Ziel und Handeln beeinflusst jedoch unsere Reaktion auch auf diese Ereignisse. Zunächst für die Millionen Männer, Frauen und Kinder, die in dem Vernichtungsprogramm zugrunde gegangen sind: Dieses Bewusstsein gibt die Gewissheit, dass Gottes Plan für jeden Einzelnen nicht durch die Bemühungen böser Menschen besiegt worden ist. Im Reich jenseits unserer Welt leben sie und werden ihren Platz in der endgültigen Vollendung der Schöpfung Gottes haben. Die verwandelnde Kraft der christlichen Hoffnung auf ein ewiges Leben – nicht nur für einen selbst, sondern für alle Menschen – ist bereits angesprochen und ist hier lebenswichtig.


Zweitens in der Situation selbst: Das Beispiel der sich hingebenden Liebe Christi für andere sollte die Christen dazu gebracht haben, bereitwillig ihr eigenes Leben zu riskieren, um die bedrohten Opfer zu retten; hier ist die Bilanz teilweise erfreulich, doch unseligerweise meistenteils schlecht. Und drittens: Christlicher Glaube sollte den Impuls, Hass und Grausamkeit mit Hass und Grausamkeit zu beantworten, aufheben ... Dieser Verzicht auf die Genugtuung der Rache kann für unsere sündigen Herzen durch das Wissen möglich werden, dass wir die unausbleibliche Reaktion des moralischen Universums auf die Grausamkeit erleben werden, in diesem Leben oder danach, ohne unser Zutun. „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.“8

Hick bezieht sich also auf die Lehre der eschatologischen Belohnung und Vergeltung und er endet dort, wo wir begonnen haben – mit dem Verweis auf einen Gott der Vergeltung, nun nicht mehr einer Vergeltung gegenüber den Juden, sondern gegenüber ihren Unterdrückern.

Ohne dieses Motiv als solches weiter zu diskutieren, halten wir fest, dass dieser wichtige zeitgenössische christliche Versuch einer Theodizee im Rahmen seiner Erklärung den Holocaust nicht erfassen kann. Es bleibt uns nichts anderes, als von Gott, soweit es seine Beziehung zu diesem Ereignis betrifft, als einem Geheimnis zu sprechen. Wie Hiob, beugen wir uns in Ehrfurcht vor seiner Unergründlichkeit.

In der lutherischen Theologie gibt es eine Kategorie, die als Anerkennung dieses Geheimnisses, dieser Unerforschlichkeit gemeint ist. Das ist der Gedanke des deus absconditus – des verborgenen Gottes. Luther hat die Formulierung aus der lateinischen Übersetzung von Jesaja 45,15 abgeleitet: Vere, tu es Deus absconditus. „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott.“ Für Luther ist der Wille Gottes aus dem normalen Lauf der Weltereignisse nicht klar ersichtlich. Sein Wille wird nur bekannt, wenn er ihn bekannt machen will; nur im Augenblick der Offenbarung, nicht im Leben als Ganzem. Wir leben aus solchen Augenblicken, aber darin stehen wir im Glauben, nicht in Erkenntnis. Und der Glaube ist für gewöhnlich das Gegenteil von Erfahrung.

Wir sprachen vom deus absconditus als einer Kategorie lutherischen Denkens. Es ist aber mehr als eine Kategorie: es ist der Hintergrund, oder der Unterton alles dessen, was in seiner Theologie gesagt wird. Ich glaube, es war Miguel de Unamuno, der die Wendung „das tragische Lebensgefühl“ geprägt hat; doch wir können sagen, dass Luther vor allen anderen Theologen dieses tragische Gefühl besaß. All seine Bekräftigungen des Glaubens, des Mutes und des Sieges wurzelten in dem, was ein Lutherforscher das „große Trotzdem“ genannt hat. Trotzdem – gegen alles – werde ich glauben!

Fassen wir die Diskussion bis hierher zusammen. Das Problem von Auschwitz, wie das Problem des Bösen als solchem, ist folgendes: Wie können diese Ereignisse geschehen, wenn Gott beides zugleich ist: gut und mächtig. Wenn er nicht gut ist, dann schaut er gleichgültig auf diese Ereignisse, oder wenn das vorstellbar wäre, mit Freude. Aber ein solcher Gott wäre in keinster Weise der Gott, den wir anbeten. Luther meint, dass das Wort „Gott“ im Konzept des „Guten“ wurzelt. Gut und Gott: die beiden können nicht auseinander gerissen werden, oder alles, was wir als christlichen oder jüdischen Glauben kennen, würde in sein Gegenteil verdreht. Wenn die Güte Gottes nicht aufgegeben werden soll, wenn er wirklich der All-liebende und zur gleichen Zeit der Allmächtige ist, dann kann man Auschwitz nicht erklären. Es bleibt im Bereich des Geheimnisses. Deshalb ist es nicht überraschend, dass man sich auf die andere Seite der Gleichung konzentriert und gefragt hat: Ist Gott wirklich allmächtig? Oder in welcher Weise ist er es?

Wir kommen hier in einen Bereich theologischer Fragen, die wir im Rahmen dieses Aufsatzes in keiner Weise zureichend behandeln können. Wir können nur kurz einige der Hauptformen streifen, die das Nachdenken über diese Frage gefunden hat – der Frage nach der Natur und den Grenzen der Macht Gottes und wie Gott von ihr Gebrauch macht.

Der endliche Gott

Die erste [dieser Hauptformen] ist der Entwurf eines endlichen Gottes. Es ist überflüssig zu sagen, dass diese Lehre in keiner Gestalt in einer offiziellen Kirche Platz gefunden hat. Zweifellos hat die Idee eine lange Geschichte. Ihr wichtigster Vertreter in der amerikanischen Theologie, ja ihr einziger Vertreter von einigem Gewicht, war Professor Edgar Sheffield Brightman von der Universität Boston. Brightman setzt ein Element voraus, das er „das Gegebene“ (the given) nannte, mit dem Gott selbst zurecht kommen muss, entweder indem er es als Instrument nutzt oder indem er es, wenn das unmöglich ist, als Hemmschuh akzeptiert.

Das Gegebene besteht aus den ewigen ungeschaffenen Gesetzen der Vernunft und auch aus den gleichfalls ewigen und ungeschaffenen Prozessen des Nicht-Bewussten, ... ungeordneten Impulsen und Sehnsüchten, Erfahrungen von Schmerz und Leid, die Formen von Zeit und Raum, und was immer in Gott die Quelle des sinnlosen Bösen ist.9

Der letzte Satz ist wichtig. Mit „sinnlosem Bösen“ meint Brightman böses, das nicht als Mittel zu einem größeren Guten erklärbar ist. Er spricht von ihm, als habe es seinen Ursprung „in Gott“; für Gott bedeutet es jedoch eine Beschränkung seiner Natur, eine Beschränkung seines Liebeswillens.

Brightmans Sicht hat, wie wir schon angedeutet haben, wenig bis keine Akzeptanz gefunden. Ich erwähne sie aber gerade deswegen, weil sie so wenig bekannt ist und dennoch so genau auf unser Problem zielt.

Der sich selbst beschränkende Gott

Die zweite Sichtweise, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, spricht nicht von einem endlichen, sondern von einem sich selbst beschränkendem Gott. Im Gegensatz zu Brightmans Entwurf hat sie eine lange und ehrwürdige Geschichte im christlichen Denken, ebenso im jüdischen Denken. Ich spreche von Gottes Selbstbeschränkung in diesem Sinn: Er hat eine Welt mit zwei aufeinander bezogenen Merkmalen – Freiheit und Gesetzmäßigkeit – geschaffen. Der Mensch ist frei: frei, gut und böse zu wählen. Aber seine Natur ist gebunden: daran gebunden, in Übereinstimmung mit Ursache und Wirkung zu handeln. So ist der Mensch frei, Gaskammern zu entwerfen und zu bauen, aber wenn der Hahn einmal aufgedreht ist, fließt das Gas durch die Röhre. Gott ist machtlos, es sei denn, er will entweder die menschliche Freiheit oder die physikalischen Naturgesetze verletzen. Das ist es aber, was er nicht tun will.

Hier ist die ganze Frage nach Gnade und freiem Willen eingeschlossen, von Vorhersehung und Prädestination, wahrlich eine ganze Metaphysik und eine ganze Theologie. Meine Absicht hier ist einfach anzudeuten, dass das Problem des Redens von Gott nach Auschwitz, kaum abseits der Weite dieser Überlegungen behandelt werden kann. Es ist eine Frage, die an den Kern unserer Vorstellung von Gott und Mensch und ihrer Beziehungen zueinander vorstößt.

Um es persönlich zu sagen: In intellektueller Hinsicht mag diese Lösung eines sich selbst beschränkenden Gottes befriedigend sein, in religiöser oder moralischer Hinsicht aber ist sie es nicht. Denn wenn der Schrecken so übermächtig wird wie in Auschwitz, dann schreit die eigene Seele zu Gott, notfalls der Geschichte selbst ein Ende zu setzen, um das Schlachten zu beenden.

Doch wenn wir weiter denken, können wir das nicht wirklich wünschen. Wenn wir die relative Bedeutung unseres eigenen Lebens trotz des Schattens solcher Schrecken wie des Holocaust erwägen, und wenn wir die Auferstehung Israels nach der Katastrophe – der Rückkehr der Juden in ihr altes Heimatland und ihre Wiedergeburt als Nation – erwägen, dann wird uns klar, dass wir gar nicht gewollt haben könnten, dass die Geschichte an irgendeinem Zeitpunkt in den frühen 40iger Jahren aufgehört hätte. Deshalb haben wir ein Mitgefühl, wenn man so sagen will, mit dem Dilemma, in dem sich Gott selbst befunden hat und in dem er sich beständig wiederfindet, nämlich mit einer Welt konfrontiert zu sein, die er selbst mit den Merkmalen von Freiheit und Gesetzmäßigkeit auszustatten gewählt hat.

Der bekämpfte Gott

Wir haben von dem endlichen und dem sich selbst beschränkenden Gott gesprochen. Der dritte Entwurf ist der des kämpfenden Gottes. Ich spreche hier von Ansichten, die eine dämonische Kraft voraussetzen, die gegen das Göttliche kämpft. Man kann es Paul Tillich zu Gute halten, die Vorstellung des Dämonischen wieder in die zeitgenössische Theologie eingeführt zu haben.10 Es repräsentiert eine entmythologisierte Form der traditionellen Lehren vom Teufel oder Satan. Den Teufel gibt es nicht als Person, aber das Dämonische ist schrecklich real. Es besteht aus dem, was Tillich die „Strukturen des Zerstörerischen“ genannt hat – Kräfte, Trends, Mächte, irrationale Bewegungen und Augenblicke von Massenhysterie. Alle führen zu der schrecklichen Möglichkeit, das Böse nur um des Bösen willen zu verfolgen.

Die Wiederentdeckung dieses Faktors war nicht in erster Linie ein intellektuelles Ereignis, sondern ein historisches. Sie hat ihren Grund im Zutagetreten des dunklen Untergrundes menschlicher Geschichte im 20. Jahrhundert. Paul Tillich war so vorausschauend, sein Konzept bereits in den zwanziger Jahren zu formulieren – auf der Basis sowohl seiner Erfahrung im 1. Weltkrieg, als auch auf der Basis einer Langzeitanalyse von Trends im modernen Leben und Denken, die sich im Nazismus verbinden sollten, und die in diesem Jahrzehnt bereits an Kraft zu gewinnen begannen. Seine Einschätzung des Nazismus und sein Kampf gegen ihn waren sehr klar, so sehr, dass der Name Paul Tillichs, als die Nazis 1933 die Macht ergriffen, auf der allerersten Liste von Universitätslehrern stand, die von ihrem Posten entlassen werden sollten.

Die Wiederentdeckung des Dämonischen hatte einen enormen Einfluss auf unser Menschenbild, denn das Dämonische wirkt durch Menschen. Aber es hatte auch Einfluss auf unsere Vorstellung von Gott. Es brachte uns dazu, Gott als einen kämpferischen Gott vorzustellen, der noch immer gegen die Mächte des Bösen in der Welt streitet. Unter lutherischen Theologen hat Gustav Aulén diese Vorstellung vertreten. Er war Theologieprofessor in Lund und später Bischof der Kirche von Schweden. In seinem Buch Christus Victor und in seiner systematischen Theologie hat er eine dualistisch-dramatische Theorie der Versöhnung entwickelt. Sie ist darin dualistisch, dass sie einen radikalen Gegensatz zwischen Gott und den Mächten des Bösen annimmt. Sie ist darin dramatisch, dass sie diesen Gegensatz sich auf der Bühne der Geschichte in den Formen eines konkreten Zusammenstoßens der destruktiven und konstruktiven Kräfte ausagieren läßt. Es ist insofern eine Theorie der Versöhnung, dass sie eine entscheidende Bedeutung für das Christusereignis postuliert und in seiner Kreuzigung und Auferstehung die entscheidende Schlacht in dem Krieg zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen sieht.

In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg haben Aulén und andere folgendes Bild gebraucht: Unsere jetzige Situation in der Geschichte, sagten sie, nach der Auferstehung und vor der Parusie, – also zwischen der ersten und der zweiten „Erscheinung“ – ist wie die Situation des besetzen Europa, als die erfolgreiche Invasion der Alliierten in der Normandie bekanntgegeben wurde. Die Menschen im besetzen Europa wussten in diesem Moment, dass ihre Befreiung nahe bevorstand. Der Siegeszug hatte begonnen, und obwohl Rückschläge auftreten konnten, war der endgültige Triumph der Sache der Alliierten sicher. So ist es, nach diesen christlichen Theologen, in der Zwischenzeit von der Ankunft des Messias und dem endgültigen Sieg seines Reiches. Wir leben zwischen D-Day und V-Day.

Diese Theorie, das sei unterstrichen, kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Es ist wie das sprichwörtliche halb volle Glas Wasser, das man genauso als halb leer ansehen kann. Einerseits kennzeichnet sie das Vertrauen in das, was Gott getan hat. Andererseits zeigt sie einen nüchternen Realismus angesichts der Kämpfe, die noch ausstehen. In dieser Weise von Gott zu sprechen heißt, von einem bedrängten Gott zu sprechen. Aber das betont vielleicht das Negative zu sehr. Wir wollen positiver und biblischer vom „Gott des Kampfes“ sprechen.

Wir haben drei „Lösungen“ unseres Problems überprüft, die zwar die göttliche Souveränität nicht antasten, aber darin versagen, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Wirklichkeit Gottes und die Realität von Auschwitz zusammengehalten werden können. Es waren die Sünde-Strafe-Theorie, die Charakter-Erziehungs-Theorie, und die Theorie, die eine Antwort auf die Frage verweigert und sie im Reich des Geheimnisses beläßt. Dann haben wir drei Theorien überblickt, die in gewisser Weise Gottes Souveränität abschwächen, zumindest für die Gegenwart. Das waren die Theorien des endlichen Gottes, des sich selbst beschränkenden Gottes und des kämpferischen Gottes. Damit haben wir jedoch noch nicht von Gott in der Weise gesprochen, die am ehesten der Natur des Problems und auch den tiefsten Einsichten des christlichen Glaubens entspricht – und, wie ich glaube, auch des jüdischen – nämlich vom leidenden Gott.

Der leidende Gott

Abraham Joshua Heschel hat uns gelehrt vom „Pathos Gottes“ zu sprechen. Er hat uns erinnert an den Unterschied der griechischen Vorstellung von Gott, der für sich in Apathie ruht und ewig sich selbst denkt, von der hebräischen Vorstellung eines lebendigen und aktiven Gottes, der von den Angelegenheiten der Menschen höchst betroffen ist. Nach Heschel dürfen wir nicht davor zurückscheuen von Gott – zwar sicher nicht anthropomorphisch – aber doch antropopathisch zu sprechen. Nach der Bibel kennt auch Gott Trauer und Liebe, Eifersucht und Freude. Wenn die Gefahr dieses Denkens Gottes Vermenschlichung ist, dann, so Heschel, wäre seine Anästhetisierung noch schlimmer.11

Nach Heschels Arbeit über die Propheten hat uns vor allem Jeremia Gottes Betroffensein vom Leiden der Menschen nahe gebracht. Es ist faszinierend festzustellen, dass der japanische Theologe Kazoh Kitamori in seinem Buch Theologie des Schmerzes Gottes12genau dasselbe Argument anbringt. Kitamori schreibt:

Man sagt, dass Jesaja Gottes Heiligkeit sah, Hosea sah Gottes Liebe und Amos sah Gottes Gerechtigkeit. Wir möchten hinzufügen, dass Jeremia Gottes Schmerz sah.

Es ist ein Schmerz, der nach Kitamori zugleich Gottes Liebe ist.

Religiös ist das für mich die Lösung des Problems. Gott nimmt am Leiden der Menschen teil, und der Mensch ist aufgerufen, an Gottes Leiden teilzunehmen. Vielleicht ist das auch die einzig angemessene intellektuelle Lösung. Es war der deutsche Philosoph Friedrich Schelling, der in seinem Buch Über das Wesen der menschlichen Freiheit schreibt „Ohne den Begriff eines menschlich leidenden Gottes ... bleibt die ganze Geschichte unbegreiflich.“13 Das halte ich für eine bemerkenswerte Äußerung.

Für Christen ist das Kreuz Christi das Symbol des Qualen erleidenden Gottes. Es ist tragisch, dass dieses Symbol zum Symbol der Trennung von Juden und Christen geworden ist, denn die Wirklichkeit, auf die es sich bezieht, ist genauso die jüdische Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit des Leidens und des Martyriums.

Das Kreuz ist nicht das Werkzeug der Juden, mit dem sie Jesus und andere umbrachten; vielmehr waren die römischen Oberherren die Täter, die die Juden durch Kreuzigung töteten. Und das schon lange vor der Zeit Jesu. Nach Josephus drohte Kyros in seinem Edikt über die Rückkehr der Juden aus Babylon die Kreuzigung für jeden an, der die Ausführung des Ediktes behinderte. Der Perser Darius drohte diese Todesstrafe denen an, die seinen Anordnungen den Gehorsam verweigerten. Antiochus Epiphanes kreuzigte gläubige Juden, die ihren Glauben nicht auf seinen Befehl hin aufgaben. Und Titus kreuzigte nach der Belagerung Jerusalems so viele Juden, dass es nach Josephus „nicht genug Platz für die Kreuze gab, und nicht genug Kreuze für die Verurteilten“.

So bezieht sich das Kreuz zuerst auf eine jüdische Realität: auf die Realität des Leidens, die diesem Volk nur allzu bekannt ist – seit der Zeit, als sie unter der Bedrückung des Pharao aufschrien, bis hin zur Zeit ihrer noch unaussprechlicheren Leiden unter dem modernen Pharao. Die darüber hinausgehende Deutung, die Christen dem Kreuz Christi gaben, ist bekannt, aber was ich möchte, ist dies: uns hinter diese Deutung auf die Realität dieses Menschen, der als ein Jude litt, zurückführen. Auf der Basis dieses Leidens sollten Christen die ersten sein, sich mit dem Leiden eines jeden Juden zu identifizieren.

Die Tatsache aber, dass dies nicht der Fall war und dass das Kreuz statt zum Symbol der Identifikation zum Symbol der Inquisition geworden ist, ist Anlass für tiefste Scham auf Seiten der Christen. Eines ist für unser Reden von Gott nach Auschwitz klar: Wir dürfen und wir können nicht in den Begriffen irgendeines Triumphalismus sprechen. Wir können nur in Reue sprechen. Ein Gott, der leidet, ist das Gegenteil eines Gottes, der triumphiert. Wir können von Gott nach Auschwitz nur sprechen als von einem, der uns zu einer neuen Einheit der geliebten Brüder ruft – nicht nur zwischen Juden und Christen, aber vor allem zwischen ihnen.

Wir haben unterschiedliche Aspekte der Frage „Von Gott reden nach dem Holocaust“ überprüft. Vielleicht sind viele der Überlegungen nutzlos gewesen. Als Schlussfolgerung können wir uns auf Karl Marx’ berühmten Satz in der letzten seiner „Thesen über Feuerbach“ beziehen. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“

Man kann bezweifeln, ob es angemessen ist, Gott als Erklärungshypothese zu beanspruchen, wie es einige der vorgestellten Denker getan haben. Gott ist nicht in erster Linie eine Erklärungshypothese; er ist eine bewegende Macht. Der allerbeste Weg, nach Auschwitz von Gott zu sprechen, ist deshalb, von ihm in einer Weise zu sprechen, die Menschen bewegt, darauf zu achten, dass sich dies nicht wiederholt. Leider können wir in einer Welt, in der menschliche Freiheit und menschliche Perversität gleichermaßen real sind, nicht sagen, dass es nicht wieder geschehen könnte. Deshalb sagen wir, es darf nicht geschehen.

Wie es das Thema verlangte, haben wir das Problem des Holocaust in den Kategorien der Gottesfrage behandelt. Aber wir müssen von dieser höchsten Ebene der Frage auf die nächstliegende Ebene zurückkehren, auf der der Holocaust in den Kategorien seiner unmittelbaren historischen Ursachen behandelt wird. Das jedoch ist keine Aufgabe für ein oder zwei kurze Konferenzsitzungen, sondern einer fortgesetzten Untersuchung, die trotz aller schon geleisteten Arbeit Jahre und Jahrzehnte erfordert, bis die Bedeutung dieses Geschehens wirklich erfasst ist. Lasst uns als Juden und Christen uns gemeinsam dieser fortdauernden Aufgabe widmen.

Anmerkungen
  1. Der Beitrag ist zuerst veröffentlicht worden in: Speaking of God Today. Jews and Lutherans in Conversation. Ed. by P.D. Opsahl und M. H. Tanenbaum, Fortress Pres, Philadelphia, 1974, S. 144-159. (Übersetzung W. R.-R.).
  2. F. Sherman verweist hier auf Reinhold Niebuhrs Kritik, an dem, was dieser den „kulturellen Defätismus“ des Luthertums nennt.
  3. Elie Wiesel, One Generation After, New York 1972, 10.
  4. John Hick, Evil and the God of Love, New York, 1966.
  5. Hick, 220f.
  6. Irenäus von Lyon, Adversus Haereses - Gegen die Häresien, IV, 39, 1. (Fontes Christiani, Band 8/4, S. 343).
  7. Hick, 397.
  8. Hick, 397f.
  9. Edgar Sheffield Brightman, A Philosophy of Religion. New York, 1940, 337.
  10. Paul Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. Tübingen: Mohr 1926 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge... Nr. 119). Auch: Gesammelte Werke, Band VI, 42-71. „Die Tiefe des Dämonischen ist gerade die, dass das Sinnhafte und Sinnwidrige in ihm unlösbar verbunden sind.“ (S. 70).
  11. Abraham J. Heschel, The Prophets, 1962. Für den deutschen Kontext vgl.: Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. München: Kaiser, 1972, 259ff.
  12. Kazo Kitamori, Theology and the Pain of God, englisch 1965; deutsch: Theologie des Schmerzes Gottes, Göttingen, 1972.
  13. F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 403.

 

Editorische Anmerkungen

Rev. Dr. Franklin Sherman, Allentown, PA, ist Associate for Interfaith Relations der Evangelical Lutheran Church in America. Er war in den vergangenen Jahren für die ELCA Teilnehmer der Lutherischen Europäischen Kommission Kirche und Judentum.

Übersetzung: Wolfgang Raupach-Rudnick.

Wer die von Franklin Sherman angesprochenen Fragen auch in der neueren deutschen Theologie weiter verfolgen möchte, denen sei empfohlen: Birte Petersen, Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort. 2. Aufl. Institut Kirche und Judentum Berlin, 1988; 143 Seiten. DM 22,-, Norbert Reck, Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1998, 267 Seiten.