Von der Leidensgeschichte Jesu zur Leidensgeschichte der Juden.

Zu den Folgen missbräuchlicher Verwendung neutestamentlicher Aussagen im Kontext der Passionsgeschichte

Von der Leidensgeschichte Jesu zur Leidensgeschichte der Juden.

Folgen missbräuchlicher Verwendung neutestamentlicher Aussagen.

Johann Maier

1. Die Passionserzählungen des Neuen Testaments

Christen sollten täglich dafür danken, dass es nicht bloß ein einziges Evangelium und somit nur einen Passionsbericht gibt. Ein einziges Evangelium allein hätte wohl die Gefahr eines massiven Fundamentalismus nach sich gezogen, eine Diktatur der Wortwörtlichkeit, mit einem entsprechenden Maß an Intoleranz.

Uns liegen vier Passionsberichte vor, drei einander ähnliche in den so genannten Synoptikern (Markus, Matthäus und Lukas), und ein vierter, in manchen Punkten abweichender, im Evangelium des Johannes. Diese Quellenlage macht es unmöglich, das damals Geschehene genau zu rekonstruieren.1 Das ist für einen Historiker unbefriedigend. Theologisch bedeutet es, dass die historischen Einzelheiten nicht das Entscheidende sein können, und dass sie, in den Vordergrund gedrängt, sogar den Blick auf die Hauptsache verstellen können. Und diese Hauptsache besteht in der Bedeutung und in der Wirkung des damals Geschehenen. Wann immer in der Geschichte des Christentums Einzelheiten gegenüber der Hauptsache ein Übergewicht erhalten haben, ist es folgerichtig zu einer Fehlentwicklung und auch zu entsprechend unchristlichen Verhaltensweisen gekommen. Der vierfache Passionsbericht bewahrt also davor, die Richtigkeit historischer Einzelangaben an die Stelle der Wahrheit der christlichen Botschaft zu stellen. Und auch davor, einzelne Angaben zu verabsolutieren.

Prüft man die vier Passionsgeschichten auf beteiligte Personen bzw. Personengruppen, begegnen am häufigsten bestimmte Institutionen und deren Repräsentanten. Es sind vor allem Vertreter von Gruppen, die im Synhedrion vertreten waren, im obersten jüdischen Gremium der römischen Provinz Judäa, mit dem Hohepriester an der Spitze. Die priesterlichen Mitglieder werden im Neuen Testament (aber nicht in jüdischen Quellen) die Hohepriester genannt, und mit ihnen treten häufig Schriftgelehrte auf, das sind Juristen. Die Laienmitglieder heißen meist Älteste, bei Lukas auch Amtsträger (archontes). Im Synhedrion bildeten die Priester mit ihren Anhängern eine Art Fraktion, die sog. Sadduzäer. Ihnen gegenüber stand eine laienorientierte Gruppe, die Pharisäer. Die Sadduzäer verloren nach dem Krieg gegen Rom (66-70 n.Chr.) mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. ihre politische und soziale Position. Nach und nach übernahmen dann die Pharisäer die Führungsrolle, und auf dieser neuen Basis entstand als neue Führungsschicht das rabbinische Judentum, auf dem noch heute das sogenannte orthodoxe Judentum fußt.

Dieser historisch sehr deutlich wahrnehmbare Machtwechsel blieb aber für das Geschichtsbewusstsein der jüdischen wie christlichen Seite fast bedeutungslos. Obwohl man nämlich die Tempelzerstörung auf beiden Seiten als folgenreiche geschichtliche Epochengrenze wahrgenommen und gedeutet hat, legte man größeren Wert auf die Kontinuität als “Israel“ überhaupt. Für die Passion Jesu heißt dies folgendes: Trotz des historischen Machtwechsels von den Sadduzäern zu den Pharisäern haben die späteren Rabbinen sich rückblickend mit dem Judentum so identifiziert, dass sie den Prozeß gegen Jesus als ihre Sache anerkannt und ihn so geschildert haben, als hätte er nach rabbinischem Recht stattgefunden. Mit der Steinigung als Todesstrafe und mit der ausdrücklichen Behauptung, das sei – wegen Volksverführung und Zauberei – durchaus rechtens geschehen.

Spiegelbildlich ergab sich dasselbe auf der christlichen Seite. Auch hier ging es um die heilsgeschichtliche Kontinuität, mit dem Unterschied, dass die Kirche sich selber als das eigentliche Israel verstand, aber mit Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi als endzeitlichen Wendepunkt. Die Tempelzerstörung wurde als Straffolge für die Ablehnung Christi gedeutet. Für die Wirkungsgeschichte der Passionsberichte in der Kirche ist diese spiegelbildliche Konstellation eines auf das Kollektiv “Israel“ fixierten Geschichtsverständnisses von so grundlegender Bedeutung, dass die historischen Details der heilsgeschichtlichen Sicht unter- und eingeordnet wurden. Wie dies vor sich ging, zeichnet sich schon in den Passionserzählungen deutlich ab.

In bestimmten Szenen der Passionsgeschichten taucht ein Publikum auf. Anwesend konnten tageszeitlich und umständebedingt eigentlich nur die Wenigen sein, die bei der Verhaftung dabei waren und noch hinzukamen, doch ist eine deutliche Tendenz zu beobachten, Rolle und Bedeutung dieses Publikums zu vergrößern. Im griechischen Originaltext wird das Publikum zudem auf eine kennzeichnende Weise unterschiedlich bezeichnet und in den Bibelübersetzungen auf bemerkenswerte Weise unterschiedlich und teilweise sehr folgenreich wiedergegeben.

Es gibt im Griechischen den Ausdruck plêthos, der bezeichnet eine Menschenmenge. Meist begegnet aber ochlos oder in der Mehrzahl ochloi; das bedeutet auch eine Menge oder Masse von Leuten, jedoch auch eine Schar von Kriegsleuten; im älteren Deutschen gibt es dafür die Bezeichnung “Haufen“; aber auch “Volk“ wurde für eine Volksmenge und für “Kriegsvolk“ verwendet. Die Übersetzung mit Volk erweckte allerdings den Eindruck, dass im Griechischen das Wort laós oder ethnos zu Grunde liegt, eine Bezeichnung für eine ethnische und eventuell auch politische Einheit. Das kann zu einem Missverständnis führen, zu einer Verabsolutierung der betroffenen Textaussage: nicht mehr die anwesende Menge, sondern das ganze Volk erscheint als Akteur der Leidensgeschichte.

Tatsächlich begegnet laós (“Volk“) statt ochlos da und dort auch im griechischen Text der Passionsgeschichten. Der Gedanke, es sei nicht eine “Volksmenge“ gemeint, sondern das in der Regel so bezeichnete “Volk Israel“, liegt für den Leser in solchen Fällen auf den ersten Blick nahe. Es ist daher wichtig, das ein Bibelleser auf den Sprachgebrauch aufmerksam gemacht wird, denn Übersetzungen lassen das Gemeinte oft nicht erkennen.

Der Sprachgebrauch zeigt in den vier Evangelien eine Entwicklung von konkreten Einzelangaben hin zu verallgemeinernden Behauptungen an, von “Volksmenge“ zu “Volk“. Und zudem einen Wechsel der Hauptakteure, der dem Machtwechsel vor und nach 70 n.Chr. entspricht: Neben den Sadduzäern bzw. den priesterlichen Instanzen und den Schriftgelehrten treten zusätzlich und schließlich vorrangig die Pharisäer als Gegner Jesu hervor, im Johannesevangelium sind es dann “die Juden“ überhaupt.

In den einzelnen Erzählungseinheiten der Passionsgeschichten ergibt sich folgender Befund in Bezug auf Beteiligte:

    • Mk 14,1-2 und Lk 22,1-2 beraten die Hohepriester und die Schriftgelehrten (grammateis), wie sie Jesus durch List festnehmen und töten könnten.
    • Nach Mt 26,1-5 versammelten sich die Hohepriester und die Ältesten (presbyteroi) des Volkes (laós). Sie befürchteten nämlich einen Aufruhr des Volkes (laós) auf dem Fest und wollten dieses Unglück vermeiden.
    • In Joh 11,45-52 hingegen versammelten die Hohepriester und die Pharisäer das Synhedrion. Und die Hohepriester und Pharisäer lassen nach Jesus fahnden.
  1. Mk 14,10f. und Mt 26,14f. ging Judas zu den Hohepriestern, nach Lk 22,4 zu den Hohepriestern und Kommandanten (strategoi).
    • Judas kommt mit einem ochlos, einem “Haufen“ daher, laut Mk 14,43 und Mt 26,47 kommt dieser von den Hohepriestern und den Ältesten.
    • Lk 22 nennt ohne nähere Angaben einen ochlos, aber in Lk 22,52 spricht Jesus die herbeigekommenen Hohepriester und Kommandanten (strategoi) des Heiligtums und die Ältesten an.
    • In Joh 18,3 kommt Judas gar mit einer speira, einer Kohorte römischer Soldaten, und mit Bütteln (hypêrétai) von den Hohenpriestern und Pharisäern daher.
    • Laut Mk 14,53 ff: und Mt 26,57ff brachte man Jesus zum Hohepriester, und dazu versammelten sich alle die Hohepriester und die Ältesten und die Schriftgelehrten zum Synhedrion.
    • Joh 18,12 sind es römische Soldaten und ihr Anführer und die Leute, die von den Juden geschickt worden waren, die Jesus gefangen nehmen.
    • Laut Mk 15,1-2 berieten die Hohepriester mit den Ältesten und Schriftgelehrten und dem ganzen Synhedrion.
    • Mt 27,1-2 nennt alle die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes.
    • Bei Lk 22,55 - 23,1 kam der Ältestenrat (das presbyterion) des Volkes (laós), die Hohepriester und Schriftgelehrten, zusammen, und führten ihn in ihr Synhedrion.
  2. Lk 23,4 Pilatus sagt zu den Hohepriestern und zu den Volkshaufen (ochlous (!): “Ich finde nichts Schuldhaftes an diesem Menschen“
  3. Lk 23,10 nennt die Hohepriester und die Schriftgelehrten. Pilatus versammelt die Hohepriester und die Amtsträger (archonta) und das Volk(ton laón), und-Jesus wird vorgeführt als Volks-Verführer (apostrefanta ton laón), wird aber als unschuldig erkannt.
    • Mk 15,6-15 stacheln die Hohepriester den Volkshaufen (ochlos) auf, die Freilassung des Barrabbas zu verlangen Bei Mt 27,15-26 sind es die ochloi (Plural), und diese Mengen verlangen alle: “kreuzige ihn“.
    • Und Mt 27,24 – nur hier! - begegnet die verhängnisvolle Formulierung: da antwortete das ganze Volk (laós): sein Blut komme auf uns und auf unsere Kinder. Dieser Versteil hatte eine verhängnisvolle Nachgeschichte.2
    • In Joh 19,6 schreien die Hohenpriester und ihre Büttel (hypêrétai): “Kreuzige ihn!“. Joh 19,12 will Pilatus Jesus freilassen aber die Juden lehnen ab. Auch v. 14 spricht Pilatus zu den Juden, und v.a 15 antworteten die Hohenpriester. Und dann übergab Pilatus sogar ihnen Jesus zur Kreuzigung!
  4. Nur in Lk 23,34a sagt Jesus zwischen 2 Übeltätern am Kreuz: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Gemeint sind offenbar die römischen Soldaten, aber auch dieser Vers hat eine bemerkenswerte Auslegungsgeschichte mit der Tendenz zu Kollektivurteilen nach sich gezogen.3
  5. Nach Lk 23,34-35 stand bei der Verlosung der Kleider Jesu durch die Soldaten das Volk (laós)dabei und sah zu. Hier bezeichnet laós zwar eine schaulustige Volksmenge, aber die Assoziation mit “Volk Israel“ war eben naheliegend.
    • Bei Mk 15,31 sehen die Hohepriester miteinander und mit den Schriftgelehrten spottend zu, in Mt 27,41 auch die Ältesten.
    • Lk erwähnt 23,34 aber wieder das Volk und Amtsträger (archontes).
    • Nach Joh 19, 17 haben die Juden Jesus gar zur Kreuzigung übernommen und die Hohenpriester ärgern sich über Pilatus, der als Kreuzesaufschrift den Titel “König der Juden“ hatte anbringen lassen.

Die gemeinsam bezeugten und wohl ältesten Angaben bei Mk und Mt erwähnen als jüdische Handelnde die Hohenpriester und mit ihnen die Schriftgelehrten, ihre juristischen Sachverständigen, ferner den Hohepriester selbst und Dienstleute des Hohenpriesters. Dazu treten da und dort noch die Ältesten (presbyteroi) oder Amtsträger (archontes) auf, also nichtpriesterliche Synhedrions-Mitglieder.

Die Ältesten werden aber von alters her auch Älteste des Volkes bezeichnet, und daher erscheint der Ausdruck laós im Sinne von “Volk“ mit in den Text. In der Folge wurde bei Lukas da und dort aus dem ochlos, dem anwesenden “Haufen“, der laós, das Volk, und bei Johannes gar die Juden.

Werden diese Angaben über das Volk und die Juden ohne Berücksichtigung der allgemeineren und offensichtlich älteren Nennungen verabsolutiert, erscheint nicht mehr das politische Establishment als verantwortlich handelnd, sondern die Gesamtheit. Das entspricht einer Situation in der Zeit nach 70 n. Chr., in der sich Christen und Juden bereits getrennt gegenüberstanden und sich miteinander konkurrierend als “Israel“ verstanden.

2. Die Schuldfrage und die Vorstellung von der Kollektivschuld

Die Frage, wer den Prozess gegen Jesus zu verantworten hatte, ist eine historische Frage, aber die theologische Literatur über den Prozess Jesu ist äußerst umfangreich und wächst laufend an, obschon aus den vorliegenden Quellen nicht mehr als bisher erschlossen werden kann.4 Das Verfahren gegen Jesus ist nicht in allen Punkten klar, weil sowohl jüdische wie römische Voraussetzungen zu beachten sind und die jüdischen sind für diese Zeit unzureichend bekannt. Man verweist zwar gern auf die späteren Quellen des jüdischen Rechts, auf Mischna und Talmud, aber diese enthalten eben pharisäisch-rabbinisches Recht und das kann man nicht einfach zurückdatieren. Dieser unsichere Sachverhalt ist für den Historiker unbefriedigend, aber theologisch sinnvoll: er lässt keine eindeutige Schuldzuweisung zu. Und theologisch ist die Frage der Schuld ohnedies grundsätzlich anders geartet, auch wenn immer wieder hartnäckig auf der Frage insistiert wird, wer damals Jesus ans Kreuz gebracht hat.

2.1 Die kirchliche Lehrtradition

Die christlichen Glaubensbekenntnisse und die maßgeblichen kirchlichen Quellen lassen keinen Zweifel daran, wieso und wozu die Passion Jesu stattgefunden hat. Demnach liegt die Ursache nicht bei einzelnen Juden oder Römern, sie ist vielmehr Folge der menschlichen Sünde überhaupt und insofern der Schuld jedes Einzelnen. Und das ist nicht bloß eine Lehrmeinung, auch in dem bekannten Karfreitagslied “O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt spricht jeder Christ sich selber die Schuld zu.5 Und in unserer Zeit hat im April 1982 auf Empfehlung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich auch die Pastoralkommission erklärt, “dass alle Schriften des Neuen Testaments die eigentliche Schuld am Leiden und Tod Jesu der Sünde zusprechen, in der alle Menschen verhaftet waren und sind.“

Trotz dieser eindeutigen grundsätzlichen Aussagen ist es im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder zu abweichenden und gegenteiligen Behauptungen und zu einseitigen Vorwürfen gekommen. Nicht nur bei Außenseitern, auch Kirchenmänner und Theologen haben sich in diesem Punkt verfehlt. Meistens im Rahmen populistisch-demagogischer Aussagen und Predigten, und oft mit beklagenswerten praktischen Folgen. Die didaktisch-homiletische Versuchung, mit der Schuldfrage Stimmung zu machen, war und ist stets akut.

Zwei Vorstellungen haben sich dabei als besonders unheilvoll wirksam erwiesen: die Vorstellung von einer Kollektivschuld, und die Vorstellung vom Gottesmord.

2.2 Kollektive Schuld

Kollektive Schuldzuweisungen und Kollektivstrafen sind als Begleiterscheinungen einer primitiven Rechtsauffassung und einer vorzivilisatorischen Politik bzw. Kriegsführung gang und gäbe. Für totalitäre, v.a. nationalistische Ideologien und Regime, sind sie bis heute kennzeichnend. In Bezug auf die Juden hat sich die Vorstellung von einer Kollektivschuld aber auch auf Grund einer biblisch-jüdischen Voraussetzung ausgewirkt, daher ist der Sachverhalt schwieriger und heikler als im Fall einer bloß ideologiegeschichtlichen Erscheinung.

Das Prinzip der persönlichen Verantwortlichkeit wird zwar im Alten Testament, jedenfalls beim Profeten Ezechiel, ausdrücklich festgestellt, dennoch kennt gerade die alttestamentlich-jüdische Tradition eine besondere Form von Kollektivverantwortung, Kollektivschuld und Kollektivstrafen. Nach der Tradition hat Gott Israel nämlich als Ganzes aus der Versklavung in Ägypten herausgeführt, und von daher wird es als Gottes Eigentumsvolk bezeichnet. Diesem Israel ist am Sinai der Gotteswille in Form der Tora offenbart worden, und diese Tora gilt als Erwählungs- und Bundesverpflichtung für ganz Israel. Daraus ergab sich ein Geschichtsbild, das voraussetzt, dass die Geschichte heilsam verläuft, wenn Israel Gott gehorcht, und heillos verläuft, wenn Israel nicht gehorcht. Der einzelne Israelit ist eingebunden in diese kollektive Verpflichtung und trägt auch die Folgen des Ungehorsams anderer Einzelner mit. Und da die Zugehörigkeit zum Volk Israel vorrangig abstammungsmüßig definiert wird, umfasst dieses Kollektivbewusstsein eben auch alle Generationen.

Dieses erwählungs- und geschichtstheologische Konzept hat natürlich, wie bereits im Zusammenhang mit der Tempelzerstörung erwähnt, auch seine Schattenseiten. Aber in der jüdischen Tradition galt die Annahme der kollektiven Aufgabe eben als Erfüllung eines göttlichen Auftrages, des “Bundes“, und man nahm die negativen Folgen als Teil des Zeugnisses für Gott in Kauf.

Ein besonders problematischer Aspekt dieser Sicht trat regelmäßig zutage, wenn in einer konkreten Situation strittig war, was der Gotteswille ist und an welcher Stelle der Heilsgeschichte man steht. Wenn eine jüdische Gruppe behauptet: jetzt ist die Stunde der Gottesherrschaft gekommen oder im Kommen, und daher entsprechendes Verhalten fordert, kommt das einem Ultimatum gleich. Entweder folgt man dieser Endzeitverkündigung, und riskiert ein pseudomessianisches Abenteuer, oder man lehnt ab und riskiert damit eventuell, die letzte Chance der Heilsgeschichte zu versäumen. Und jedes Mal wird vorausgesetzt, dass es um das Geschick ganz Israels und darüber hinaus um noch weit mehr geht.

In den Jahrhunderten vor und nach Beginn der christlichen Zeitrechung hat es im Judentum tief greifende Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf solche Fragen gegeben. Das Christentum ist aus solchen innerjüdischen Auseinandersetzungen erwachsen, und die frühen Christen waren überzeugt, dass die Herrschaft Gottes in und durch Jesus Christus gekommen sei. Es ging dabei also um Israel insgesamt und um die Herrschaft Gottes überhaupt. Kein Wunder also, wenn auch in den Passionsberichten kollektive Bezüge da und dort zutage treten, und dass in den frühen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden Kollektivvorstellungen sehr wohl eine Rolle spielten.

Der Kreuzestod Jesu war unter Christen freilich schon früh auch ein Anlass zu Vorwürfen, doch richten sich diese im Neuen Testament noch nicht gegen Israel als Ganzes, verstand man sich doch selber noch als Teil Israels. Die Verantwortung für die Kreuzigung wird vielmehr den damals in Jerusalem beteiligten Juden zur Last gelegt. So in der Apostelgeschichte, in der ebenso wie in den Synoptikern noch die Hohenpriester und deren Leute als Gegner auftreten.

Apg 2,23, in der Pfingstpredigt des Petrus in Jerusalem, heißt es, Jesus sei durch vorbestimmten Ratschluss und durch Vorsehung Gottes ausgeliefert worden, “und ihn habt ihr durch die Hand Gesetzloser (anomôn) kreuzigend beseitigt“. Und Apg. 2,36 wird die Kollektivvorstellung noch korrekt angewandt: “Als gewiss erkenne nun das ganze Haus Israel, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, sowohl zum Herrn wie zum Gesalbten gemacht hat.“ Die Unterscheidung zwischen dem ganzen Haus Israel und den wegen der Passion angesprochenen Jerusalemern ist deutlich.

Für spätere Leser klang eine Passage wie in Apg. 3 freilich schon anders. Petrus und Johannes erregten wegen einer Heilung im Tempelareal einen Volkauflauf: 11. pas ho laós - “das ganze Volk“ - lief zusammen, was nach “ganz Israel“ klingt. 3,13ff. spricht Petrus “zum Volk“ (laós):

“Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott eurer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr ausgeliefert habt und zurückgewiesen habt vor Pilatus, der ihn freizulassen entschieden hat. Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten zurückgewiesen und habt gebeten, euch einen mörderischen Mann zu schenken.“

In v. 17 fährt Petrus jedoch fort: “Nun aber, Brüder, weiß ich, dass ihr eurer Unkenntnis entsprechend gehandelt habt so wie auch eure Amtsträger (archontes).“ Auch die Angesprochenen haben also noch die Chance zur Umkehr.

Von verhängnisvoller Wirkung war der Text in 1 Thess 2,14-16. Durch eine willkürliche Satzteilung, durch einen Punkt statt eines Kommas, wurde in vielen Übersetzungen ein Relativsatz verselbständigt. Angesprochen sind die Christen in Thessalonich, die in der dortigen Judengemeinde auf Widerstand stießen und bedrängt wurden. Paulus meinte, sie würden dasselbe erleben, wie die Brüder in Judäa unter den dortigen Juden.6

Eine wörtliche Übersetzung der VV. 14-15: lautet etwa so:

“(14b) ..., ihr seid nämlich ähnlich geworden den Gemeinden Gottes, die in Judäa in Jesus Christus sind, weil auch ihr von euren eigenen Stammesgenossen dasselbe erlitten habt, wie diese unter den Juden/ Judäern, (15) die den Herrn Jesus und die Profeten getötet und uns verfolgt haben, und Gott nicht wohlgefällig sind und allen Menschen feind sind, (16) indem sie euch, um so ihre Sünden ganz voll zu machen, hindern, zu den Völkern zu reden, damit die gerettet werden.“

Ganz anders liest sich diese Passage, wenn zwischen V. 14 und 15 ein Punkt gesetzt wird. Denn dann sind in V. 14 “die Juden“ verabsolutiert - zu den Juden überhaupt. Ein verhängnisvoller Fehler, der bei der Ausbildung und Verfestigung des Kollektivschuldvorwurfs eine besondere Rolle gespielt hat.

Was in den erwähnten neutestamentlichen Passagen immer noch als innerjüdischer Vorwurf zu verstehen ist, steigert sich zu einer Anklage gegen das Judentum, sobald der Streit nicht mehr innerhalb Israels stattfindet, sondern die v.a. aus getauften Heiden bestehenden Gemeinden , den jüdischen Gemeinden bzw. “der “Synagoge“ gegenüberstehen. Und das war jedenfalls in dem Moment der Fall, da der römische Staat die Christen als eine Art Untergrundorganisation verfolgte und die jüdischen Gemeinden sich von ihnen demonstrativ abzugrenzen bemühten.

Die Vorstellung von einer Kollektivschuld ist also gewissermaßen systembedingt mit dem biblisch-jüdischen Geschichtsdenken in die christliche Glaubensvorstellungen geraten und bedarf einer sehr kritischen theologischen Beurteilung und entsprechenden didaktisch-homiletischen Behandlung, um schwerwiegende Fehlenwicklungen zu vermeiden. Vor allem die Fehlentwicklung, die allgemeine Schuld durch die Sünde der Menschheit zu einer partikularen Schuld einer Gruppe zu verengen und auf diese Weise sich selber selbstgerecht aus der Schuld auszunehmen.

3. Der Vorwurf des Gottesmordes

Ein merkwürdiger, ja grotesker Gedanke taucht im 2. Jh. n.Chr. auf: der Kreuzestod Jesu wird als Gottesmord bezeichnet und damit erhält die Schuldfrage eine zusätzliche und äußerst unheimliche Dimension.

Der Hintergrund dafür war ein innerchristlicher Streit über die Art und Weise, wie man von Jesus Christus als Mensch und als Gott reden soll. Es war ein unlösbares Problem. Arius und seine Anhänger, die Arianer, bestanden auf einer klaren Trennung der beiden Naturen Jesu Christi, der menschlichen und der göttlichen. Die sogenannten Monophysiten verabsolutierten die göttliche Natur (physis), und verstanden alles, was mit Jesu geschah, als Handeln gegen Gott selbst. Und das verband sich noch dazu mit der Kollektivschuldvorstellung.

Die Großkirche hat sich für eine paradoxe Formulierung entschieden: die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche, seien in der Person Jesu Christi “ungetrennt und unvermischt“. Es blieb aber kirchlich eine gewisse Spannweite von Meinungen zwischen Arianismus und Monophysitismus, und je nach dem Standpunkt in dieser Sache kam es zu entsprechend unterschiedlichen Haltungen in der Frage nach der Schuld am Tode Jesu. Doch es blieb nicht bei theologischen Meinungen, es kam zu weitreichenden politisch-rechtlichen Folgen.

Die Arianer hatten von ihrem Standpunkt aus kein theologisches Interesse an der Kollektivschuldthese und der Begriff Gottesmord erschienen ihnen als gotteslästerliche Rede. Jene Völker und Staaten, in denen der Arianismus überwog, haben den überlieferten Rechtsstatus der Juden respektiert. Monophysiten hingegen neigten zu tätlichen Übergriffen gegen Juden und deren Synagogen. Und als in den arianischen Staaten der Westgoten und Franken die römisch-katholische Linie zum Zuge kam, setzten dort alsbald Verschlechterungen der rechtlichen Position und massive judenfeindliche Polemiken und Maßnahmen ein.

4. Osterwoche und Haltung zu den Juden

Schon in der zweiten Hälfte des zweiten Jh. hat der Bischof Melito von Sardes in einer Homilie Über das Passah (Peri Pas-cha) diese unselige Verbindung zwischen Kollektivschuld und Gottesmordmotiv auf rhetorisch-demagogische Weise vollzogen und dabei Israel als Ganzem Schuld und vorsätzlich-schuldhafte Unwissenheit zur Last gelegt. In seiner Osterpredigt begegnen Formulierungen wie folgende:

“Dieser wurde getötet. Und wo wurde er getötet? Mitten in Jerusalem. ... Du (Israel) wurdest nicht als Israel vorgefunden, denn du hast Gott nicht wahrgenommen; du hast den Herrn nicht erkannt, du, Israel, hast nicht begriffen, dass dieser der Erstgeborene Gottes ist (Z. 603-607) ... Getötet hast du den Herrn inmitten von Jerusalem! Hört, alle Geschlechter der Völker, und seht: Unerhörter Mord ist geschehen mitten in Jerusalem, in der Stadt des Gesetzes, in der Stadt der Hebräer, in der Stadt der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt! Und wer wurde ermordet? Wer ist der Mörder? (Z. 710-718)... Der die Erde aufgehängt hat, wurde aufgehängt; der die Himmel festgebunden hat, wurde festgebunden; der das All gefestigt hat, wurde am Holz befestigt. Der Herr wurde geschmäht; der Gott wurde getötet; der König Israels wurde von Israels Hand beseitigt. Wehe des unerhörten Mordes! Wehe des unerhörten Frevels!"

Was bei Melito von Sardes noch didaktisch-rhetorischen Charakter hatte, wird in Osterpredigten und Osterspielen des Mittelalters und der Neuzeit zu Demagogie mit praktischen Konsequenzen. Es wurde gezielt der Volkszorn aufgestachelt und zu Übergriffen ermuntert. Und zu solchen Übergriffen kam es in der Osterwoche manchmal auf so heftige Weise, dass sogar christliche Obrigkeiten sich genötigt sahen, die Juden in ihren Wohnvierteln abzuschirmen, oder wenigstens zu verbieten, dass sie sich außerhalb ihrer Wohnvierteln bewegten oder aufhielten.

Ins Groteske reichen dann spätere Vorwürfe, etwa in Wiederaufnahme der aus der Antike stammenden Ritualmordbeschuldigung, mit befremdlichen Vorstellungen über den angeblichen rituellen Gebrauch von Christenblut, speziell zur Anfertigung der ungesäuerten Brotfladen (Mazzot) zum Passah-Mazzotfest.

5. Knechtschaft als Folge der Kollektivschuld

Der Kirchenvater Augustin hat theologisch die Vorstellung vertreten, dass die Juden im Gegensatz zu den Christen nicht Freie, sondern Knechte seien, weil unerlöst, nicht zuletzt wegen der Schuld am Leiden Jesu Christi. Hinzu kam ein rein politisch-militärisches Argument: Die Kaiser Vespasian und Titus hätten mit der Eroberung und Zerstörung Jerusalems nach dem Krieg von Jahre 66-70 n.Chr. nicht etwa nur kriegsgefangene Juden als Sklaven verschleppt, sondern überhaupt alle Juden als Sklaven erworben. Und die christlichen Amtsnachfolger hätten dieses Erbe eben übernommen. Diese Überzeugung hat angesichts der gängigen Vorstellung, dass ein Eroberer Land und Leute erwirbt, in der Folgezeit die Rechtsstellung und die Lebensumstände der Juden in den großen christlichen Staaten mehr und mehr negativ bestimmt. Denn man folgerte daraus, dass man an den Juden diesen Knechtsstatus auch erkennen müsse.

Allerdings haben die christlichen Herrscher selbst diese Konstruktion noch lange nicht so interpretiert. Unter den Karolingern und Saliern blieben konkrete Konsequenzen noch aus. Diese Herrscher begnügten sich damit, einzelne jüdische Familienhäupter oder einzelne jüdische Gemeinden aus wirtschaftlichen Gründen mit Privilegien zu versehen, was ein besonderes Schutzverhältnis zwischen den Privilegierten und dem einzelnen Herrscher begründete. Später kam es zu einer Verknüpfung der theologischen Behauptung von der Unerlöstheit und geistlichen Knechtschaft der Juden mit dem politisch-rechtlichen Konzept und das hatte nun Folgen für alle Juden. Theologisch-kirchlich entfaltete sich dies unter Papst Innozenz III. (1198-1216) Im Heiligen Römischen Reich wurde unter Kaiser Friedrich II. diese Auffassung schließlich in eine juristische Form gebracht: alle Juden sind dem Kaiser zugehörig und unterstehen der camera, der kaiserlichen Finanzverwaltung. Diese “Kammerknechtschaft“ setzte die kirchlich-theologische Knechtschaftsthese zwar voraus, zog aber nicht die geforderten negativen Konsequenzen. Praktisch bedeutete diese Rechtsstellung bei allen finanziellen Verpflichtungen nämlich eine Bewegungs- und Handlungsfreiheit, von der die Mehrheit der Bevölkerung, die ja aus Untertanen bzw. Hörige und Leibeigene örtlich-regionaler Grundherren bestand, nur träumen konnte. Mit dem Verfall der kaiserlichen Zentralgewalt zeigte ich freilich der Pferdefuß dieser Konstruktion: Bei örtlichen oder regionalen Übergriffen gegen Juden war der Kaiser selbst weit weg und seine Organe, die Grafen, teils zu schwach, teils nicht willens, rechtzeitig einzugreifen. Und als die Herrscher die Verfügung über die Juden an Landesherren und Städte zu verpfänden begannen und sie schließlich den Territorialfürsten überlassen mussten, waren die Schutzbefohlenen vor Willkür alles andere als sicher.

6. Der Verfall der Rechtssicherheit und die Aushöhlung des christlichen Verantwortungsbewusstseins

Dieser Verfall der Rechtssicherheit ging Hand in Hand mit wirtschaftlich-sozialen und religiösen Veränderungen, die sich ebenfalls negativ auswirkten. Im Spätmittelalter verloren die jüdischen Gemeinden ihre wirtschaftliche Bedeutung als Träger des Fernhandels und mussten sich auf Betätigungsbereiche beschränken, in denen sie christlicherseits Konkurrenz hatten oder überhaupt unbeliebt machten. So blieb v.a. der Geldhandel als lukrative Einnahmequelle, doch die sog. Wucherer waren natürlich entsprechend unbeliebt und wurden als Judasse verschrien. Dazu kommt die rasche Bevölkerungszunahme und die starke Landflucht. Die Städte waren überfüllt, soziale Spannungen kamen auf und aggressive Stimmungen richteten unter anderem auch gegen ansässige Juden. In eben dieser Situation entfalteten die Predigerorden ihre Tätigkeit unter den städtischen Mittel- und Unterschichten, und sie leiteten auch leider soziale Ressentiments nicht selten gegen Juden. Dieser explosiven Stimmung entsprechen volkstümliche und literarische Quellen, nicht zuletzt Osterpredigten und Osterspiele. Passionsspiele haben dann auch später – bis in unsere Zeit – eine Rolle gespielt, mit streckenweise problematischen Textfassungen, nämlich Verabsolutierungen und Vergröberungen neutestamentlicher Formulierungen. Diese hat man in unserer Zeit allerdings in der Regel korrigiert.

Diese spezifisch österlichen Ausfälle gegen die Juden hatten weithin mehr oder minder gewohnheitsmäßigen Charakter ohne notwendigerweise weiterreichende praktische Folgen. Aber die Stoßrichtung gegen die Juden als ein Kollektiv, das sein Geschick selbst verursacht hat, was immer auch geschieht, hatte verheerende Folgen für die Moral auf der christlichen Seite selbst: Man fühlte sich auf Grund dieser Kollektivschuldthese nicht verantwortlich für das, was an und mit Juden geschah. Und da liegt auch eine der Hauptursachen für das Versagen zur Zeit des modernen Antisemitismus und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Es wurde kaum wahrgenommen, was mit Juden geschah. Die antisemitischen Propagandisten und die nationalsozialistischen Machthaber haben nämlich dieses Vakuum im christlichen Verantwortungsbewusstsein sehr wohl wahrgenommen und es gezielt ausgenützt. Und die Ansatzpunkte dazu bestanden eben nicht zuletzt in den Verallgemeinerungen und einseitigen Deutungen von Aussagen in den Passionsgeschichten.

Aus alledem sind Lehren zu ziehen:

  1. Übersetzungen allein reichen für ein angemessenes Bibelverständnis nicht aus. Eine ausreichende sprachliche Ausbildung von Theologen, kirchlichen Amtsträgern und Lehrern ist daher eine unerlässliche Voraussetzung für eine sachgemäße Predigt- und Unterrichtstätigkeit. Leider verläuft der derzeitige Trend in die entgegen gesetzte Richtung und das hat bereits entsprechend negative Auswirkungen. In der Folge nehmen die Fähigkeit und der Wille zu wirklichem Verstehen rapide ab und die Gefahr willkürlicher und demagogischer Rede nimmt wieder zu.

     

  2. Die Zweischneidigkeit von Kollektivvorstellungen ist stets im Auge zu behalten, insbesondere bei der theologischen Verwendung der Begriffe “Volk“, “Nation“ und “Gottesvolk“. Die beiden ersten sind ideologisch missbraucht worden und es reicht zur Korrektur nicht aus, sie in Bezug auf die Judenheit unkritisch zu verwenden, also gäbe es auf dieser Seite keine Probleme. Das Verhältnisses von “Israel“ als Gottesvolk, Judenheit als moderner Nation, und Judentum als Religion ist derzeit ein sehr umstrittenes Problem, wenn auch durch eine propagandistische Gleichsetzung von Judentum und Zionismus weithin verdeckt. Wer von Israel als Gottesvolk spricht, sollte nicht realitätsfern die heutige, pluralistische Situation der Judenheit und die Mehrheit der nicht religiös gebundenen Juden ignorieren. Sonst erliegt er aufs Neue den Versuchungen und Gefahren von Kollektivurteilen.

     

  3. Das Neue Testament enthält wie das Alte Testament nicht nur das Gute und Schöne. Die biblischen Quellen sind ziemlich realistisch. Das bewahrt vor Wunschvorstellungen und fordert zum Nachdenken heraus. Zur Realität des neutestamentlichen Zeitalters gehört eine zunehmende Konkurrenz zwischen christlichen und jüdischen Gemeinschaften. Während der römischen Christenverfolgungen hat sich dieses Konkurrenz- und Spannungsverhältnis verschärft. Manche neutestamentlichen Passagen spiegeln dergleichen auf emotional aufgeladene Weise und enthalten schroffe polemische Formulierungen. Dergleichen findet sich auch in jüdischen Quellen aus jener Zeit.

Was solche Formulierungen verursacht hat und wie weit sie nach den eigenen Glaubensgrundlagen tragbar sind, bedarf stets kritischer Prüfung. Denn die Ansprüche der beiden Religionen sind nun einmal bis zu einem gewissen Grad konkurrierende Ansprüche und daher muss immer neu entschieden werden, was eine angemessene Verhaltensweise und Redeweise sein kann.

Das erreicht man schwerlich, indem man, wie manchmal unrealistisch verlangt wird, die Bibeltexte revidiert und zurecht frisiert. Auch nicht dadurch, dass man die Konkurrenzsituation ignoriert und alles Unangenehme aus dem christlich-jüdischen Gespräch ausklammert. Die neutestamentlichen Problemstellen können vielmehr sehr wohl zum Nachdenken über das rechte Verhalten Anlass geben. Allerdings funktioniert das nur, wenn die Fähigkeit zu einem sauberen, sprachlich fundierten Textverständnis erhalten bleibt. Damit wird ein heilsame Selbstkritik ermöglicht, die Bereitschaft, aus den Fehlern und Fehlentwicklungen zu lernen, die z.T. eben schon in der Bibel beschrieben worden und dann im Lauf der Kirchengeschichte erweitert und gehäuft ausgetreten sind.

Die theologische Wissenschaft hat den kirchlichen Autoritäten sicher oft Ärger bereitet, aber sie hat weit mehr Unheil verhütet. Gerade heute sehen wir angesichts der erschreckenden fundamentalistischen Tendenzen, die unter Juden, unter Christen (v.a. der USA), und unter Muslimen grassieren, wie heilsam eine kritische Theologie sein kann. Auf sie kann gerade auch für die Bestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses nicht verzichtet werden. Sie kann auch nicht ohne Schaden ersetzt werden, etwa durch eine heute recht verbreitete, wohlgemeinte, aber wirklichkeitsfremde, demonstrativ philosemitische Schönmalerei des Judentums, sozusagen als Gegenstück zur antisemitischen Verteufelung. Bibel und Geschichte lehren nicht, dass Christen immer bösartig und Juden immer gutartig waren – oder umgekehrt. Christen haben allerdings auf Grund ihres Glaubensanspruchs, das Heil aller Menschen zu verkünden, und überdies nicht nur den Nächsten, sondern sogar den Feind zu lieben, eine besondere Veranlassung, Redeweise und Verhaltensweise immer neu kritisch zu überprüfen.

ANMERKUNGEN
  1. Reinbold W., Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien, Berlin (BZNW 69) 1994.
  2. Dazu siehe Kampling R., Das Blut Christi und die Juden. Mt 27,25 bei den lateinisch sprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen, Münster (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 16) 1984.
  3. Blum Matthias, “... denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Zur Rezeption der Fürbitte Jesu am Kreuz (Lk 23,34a) in der antiken jüdisch-christlichen Kontroverse, Münster (Neutestamentliche Abhandlungen 46) 2004.
  4. Das Standardwerk ist noch immer: Blinzler J., Der Prozeß Jesu. Das jüdische und römische Gerichtsverfahren gegen Jesus Christus auf Grund der ältesten Zeugnisse dargestellt und beurteilt, Regensburg 1963; Légasse S., Le procès de Jésus. La passion dans les quatre Évangiles, I-II Paris 1995.
  5. Was du, Herr, erduldet,
    Ist alles meine Last;
    Ich hab' es selbst verschuldet,
    Was du getragen hast.
    Schau her, hier steh' ich Armer,
    Der Zorn verdienet hat;
    Gib mir, o mein Erbarmer,
    Den Anblick deiner Gnad'!
  6. Lamp Jeffrey S., Is Paul Anti Jewish? Testament of Levi 6 in the Interpretation of 1 Thessalonians 2:13-16, Catholic Biblical Quarterly 65,2003, 408-427.

 

Editorische Anmerkungen

Der Autor ist emeritierter Professor für Judaistik der Universität Köln, Vortrag am 17. Jänner - Tag des Judentums 2006 in der Katholisch Theologischen Privatuniversität Linz

Quelle: Koordinierungsausschuss für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Österreich