Vom 'Heiligen Land' zur 'Heiligen Stätte'. Das Land der Verheißung im Kontext der katholischen Systematik

In diesem Artikel untersucht der Autor die Rede vom 'Heiligen Land' im Kontext des idealtypischen Bildes vom 'Judentum', das christlicherseits erstellt wird und zu einer christlichen Identität passt.

Vom ‚Heiligen Land‘ zur ‚Heiligen Stätte‘

Das Land der Verheißung im Kontext der katholischen Systematik

Wenn Christen in Deutschland heute vom ‚Heiligen Land’ sprechen, denken sie im allgemeinen an das heutige Israel als Pilgerland, ohne damit schon bestimmte geopolitische Grenzen zu meinen und damit beide Größen, das ‚Heilige Land‘ und das heutige Israel, einfach miteinander zu identifizieren. Wenn nachfolgend die katholische Systematik die Landfrage thematisiert, dann ist vor allem die Differenz der Standorte – Deutschland und Israel / Palästina – aber auch der unterschiedliche Stellenwert der theologischen Diskurse an diesen Standorten zu beachten. So hat sich der christlich-jüdische Dialog in Deutschland etwa seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts etabliert und in wesentlichen Teilen als Reaktion auf die Schoa hin beschrieben.1 In Israel / Palästina befindet sich dieser Dialog weit hinten auf der politischen, aber auch religiösen Agenda und macht quasi am Ort interreligiös nicht groß Reden von sich.2Daraus kann man den Schluss ziehen, dass der christlich-jüdische Dialog in Deutschland im wesentlichen als eine christliche Identitätsvergewisserung betrieben wird, was hier auch zum Gegenstand des Aufsatzes werden soll: Es tritt nämlich dabei das nicht unproblematische Moment einer christlich-jüdischen Legitimationsgestik zutage.3 Bekanntlich greift die katholische Systematik in allen ihren Traktaten auf Texte des ‚jüdischen Traditionsprozesses zurück, mit denen sie u. a. ihr eigenes Identitätsprofil erstellt. Das Problematische an dieser Profilierung liegt nun darin, dass dabei ein bestimmtes, idealtypisches Bild vom ‚Judentum‘, vom ‚jüdischen Traditionshorizont, von ‚jüdischen Traditionselementen‚ u.ä. christlicherseits erstellt wird, das eben zu einer christlichen Identität passt. Die Rede vom ‚Heiligen Land‘ in einer katholischen Systematik soll daher nachfolgend auf diese legitimatorischen Gesten hin untersucht werden.

1. Zur Abkoppelung der Verheißung vom Land

Für die systematische Perspektive ist entscheidend, dass das Neue Testament den griechischen Terminus Land (γη – Land, Vaterland, Erde usw. ausschließlich in den Evangelien, der Apostelgeschichte und im Judasbrief belegt) immer in geografischen und juristischen Bedeutungen, also im Sinne von Gegend, Landschaft, Besitz, Vaterland, Boden verwendet. Der Begriff ‚Heiliges Land‘ ist nur an einer einzigen Stelle in der sogenannten Stefanusrede belegt (Apg 7,33), in der auf die Theophanie am Dornbusch (Ex 3,15) angespielt wird. Die Apostelgeschichte setzt dabei bereits den zerstörten zweiten Tempel und den unabsehbaren Verlust des verheißenen Landes an die Römer voraus. Im Kontext dieser Rede wird außerdem das einzige Mal im Neuen Testament das Land als ein Abraham zugesagtes, verheißenes Erbland in Apg 7,3 erwähnt, ebenso in Hebr 11,9 (hier signifikant im Zusammenhang einer großen Glaubensparänese). Keine der insgesamt gut 60 neutestamentlichen Abraham-Belegstellen konnotiert das Verheißungsland, stattdessen wird Abraham vor allem als die paradigmatische Figur des Glaubens zitiert und dabei häufig auf die Verheißung seiner Nachkommenschaft angespielt.

Eine ungleich höhere und andere Bedeutung misst der hebräische Text in der Ordnung des Tanach und auch in seiner Übersetzung ins Griechische, der Septuaginta (LXX), dem Terminus Land zu. Die knapp 500 Einträge für Eretz (hebr. Land) können hier nicht ausdifferenziert werden, beziehen sich allerdings ausgeprägt auf die Landverheißung an Abraham. Eher marginal und nicht wirklich different sind Belege der prophetischen Tradition (im Kontext des babylonischen Exils), die eine Gottesbeziehung ohne exklusive Bindung an die Landverheißung kennen.4 Des weiteren führen sowohl der Tanach als auch die LXX die Bezeichnung „Heiliges Land“ an drei Stellen: einmal im Zusammenhang einer Rückkehrvision des Propheten Sacharja, wo es um die Rückkehr aus dem babylonischen Exil in das Land Juda und die Besitznahme des Landes durch JHWH geht (Sach 2,16); dann im Zusammenhang der Rede vom göttlichen Zorn auf frühere Bewohner des „heiligen Landes“ (Weish 12,3) und schließlich im Zusammenhang der Wiedereinweihung des zweiten Tempels (2 Makk 1,7).

Mit diesen knappen Strichen deutet sich bereits ein entscheidender Trend an: Während sich das Neue Testament signifikant nicht auf das Land Israel / Juda als Verheißungsland bezieht, bezieht sich der Tanach und die LXX nachdrücklich darauf. Auch die drei genannten Belegstellen „Heiliges Land“ stellen einen ausdrücklichen Zusammenhang mit dem Verheißungsland her, vgl. 2 Makk 1,1-6 und Weish 12,7 auf Dtn 11. Das Neue Testament hat offenbar das Verheißungsmoment vom konkreten Land Israel / Juda abgekoppelt, und u. a. auf diesen Kontext hin seine christologischen Aussagen hin formuliert bzw. in die christologischen Aussagen mit eingeschrieben.

Dies bestätigt sich auch durch eine signifikante terminologische Verschiebung im Neuen Testament, in dem die christologisch entworfene Verheißungsprogrammatik zwar an denselben Terminus γη, griech. Land, Vaterland, Erde usw.), gebunden, nun aber auffällig oft in Verbindung mit dem Begriff ‚Himmel‘ (ουρανος) genannt wird, so dass der Landbegriff an diesen Stellen im Sinne von Erdkreis zu verstehen ist. Damit zeigt sich, dass ein christologisches Profil offenbar im engsten Zusammenhang mit einer terminologischen Abkoppelung / Verschiebung der Verheißung vom Land Israel / Juda verbunden ist, dass somit eine christologisch perspektivierte Heilsgeschichte auf dieses Land nur ohne Verheißungsnarrativ anspielen kann. Dieser Zusammenhang erklärt auch, weshalb eine katholische Systematik nicht in der Lage ist, eine wie immer entworfene Landverheißung des Tanach weiterzuführen oder sie aufzuheben im Sinne von ungültig erklären, weil eine solche Landverheißung gar nicht in den heilsgeschichtlichen Horizont einer Christologie eingeschrieben ist. Der Philipperbrief drückt diese terminologische Ablösung der Verheißung vom Land für unseren Gedankengang am prägnantesten aus, auch wenn er primär einen anderen Kontext skizziert: „Unsere Heimat ist in den Himmeln, von woher wir auch den Retter erwarten, den Herrn Jesus Christus“, Phil 3,20.

Da die Kategorie Land im Tanach unlösbar an das erwählte Volk und an die Tora gebunden ist, so jedenfalls in religiöser Perspektive nicht weniger Selbst- und Fremdbeschreibungen, müsste sich die heilsgeschichtliche Strategie auch an diesen beiden Topoi bestätigen, ohne damit den Eindruck zu erwecken, dass mit dieser geradezu klassischen Triade (Land, Volk, Tora = Judentum) das ‚Judentum‘ idealtypisch in seinen wesentlichen Momenten erfasst wäre oder sich auf diese drei Begriff hin (re-)konstruieren ließe. Der Traditionsprozess ist lebendig, divers und uneinheitlich – schon auf jeden einzelnen dieser Begriffe hin – und hat bis in ausdrücklich nicht-religiös motivierte Selbstentwürfe nicht erst der Gegenwart geführt. Diese Triade bietet sich aber insofern hier als Lehrstück einer katholischen Systematik an, als sie entsprechende Textpassagen zur Darstellung der eigenen Identität aufgreift, und zwar unter dem signifikanten Ausfall der an das Land gebundenen Verheißung.5

Wenn die katholische Systematik vom ‚Heiligen Land‘ spricht, wird immer die Jesus-Geschichte als Heilsgeschichte aufgerufen, nicht aber eine der Narrative der Landverheißung(en) des Tanach. Das Leben in diesem Land, seine Grenzen, seine Geschichte oder sein Besitz, in dem diese Jesus-Geschichte historisch plaziert ist, spielt für die katholische Systematik keine konstitutive Rolle.6 Deshalb präjudizieren weder die Soteriologie (Erlösungslehre) noch die Eschatologie (früher die sogenannte Lehre von den letzten Dingen, heute besser wohl mit Lehre von der christlichen Hoffnung oder biblisch: vom Reich Gottes genannt) ein bestimmtes Verheißungsland für eine katholische Perspektive. Das hängt auch damit zusammen, dass das Christentum keine Landerfahrung zu seinen Entstehungserfahrungen zählt, sie beansprucht oder auf sie zurückgreift wie etwa Teile des Judentums, die sich auf grundlegende religiös kontextualisierte Erfahrungen des Landes der Verheißung beziehen, so etwa im Blick auf die Abrahams-Erzählung in ein verheißenes Land, die Unterdrückung und den Exodus in bzw. aus Ägypten, die Wüstenwanderung und die sogenannte Landnahme, schließlich auch die Rückkehr aus dem babylonischen Exil und im 20. Jahrhundert die Rückkehr aus der fast zweitausendjährigen Diaspora bzw. Exilserfahrung.7 Der religiöse Diskurs knüpft jedenfalls konstitutiv die Kategorie des Verheißungslandes an die des erwählten Volkes und an die Gabe der Tora.8

Auf dem Hintergrund eines heilsgeschichtlichen Horizontes spricht eine katholische Systematik hingegen vom ‚Heiligen Land‘ wie von einer großen ‚Heiligen Stätte‘. Das Verheißungsland ist sozusagen ein Pilgerland, worin sich ein ganz reales christlich-jüdisches Beziehungsverhältnis zeigt.9 Christologische Aussagen kommen vollständig ohne eine Landverheißung aus, woraus sich auch erklärt, weshalb der Begriff ‚Heiliges Land‘ im Judentum als auch im Christentum und natürlich auch im Islam verwendet werden kann, aber eben kategorial auf ein vollständig anderes Bezugssystem festgelegt ist, nicht nur geopolitisch.

2. Zur Abkoppelung vom Volk der Verheißung

Insofern das Verheißungsland nur mit der Rede vom Verheißungsvolk angemessen reflektiert werden kann, müsste auch umgekehrt gelten, dass vom Volk der Verheißung nur im Kontext des Verheißungslandes gesprochen werden kann. Die Umkehrung signiert jedoch eine beachtenswerte Differenz zur heilsgeschichtlichen Perspektivierung einer Christologie, die sich in der Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965 so darstellt: „Sie [die Kirche] bekennt, dass alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und daß in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist.“10 Die hier aufgegriffene Sohnes-Metapher (Christgläubige als Söhne Abrahams) knüpft eine Art familiäres Band der Christgläubigen mit Abraham und damit eine quasinatürliche Einheit von Christen und Juden. Das Christentum geht in dieser Sohnesmetapher aus dem Volk Israel hervor und gehört damit bleibend zum ihm. Allerdings, und da schreibt sich die oben angezeigte Differenz der Umkehrung ein, lässt sich dieser Horizont nur unter dem Paradigma des Glaubens (Söhne Abrahams dem Glauben nach) entwerfen. An dieser Stelle bezieht sich die Erklärung ausdrücklich in einer Fußnote auf Gal 3,7, wo Paulus eine Anspielung auf Gn 15,6 und die dort beschriebene Glaubensgerechtigkeit Abrahams macht. Diese Abrahamsfigur ist, wie oben gezeigt, im Neuen Testament insgesamt äußerst prominent. Allerdings wird diese Glaubensgerechtigkeit Abrahams genau an dieser Genesisstelle ausdrücklich an das verheißene Land gebunden, so in Vers 7: „Ich bin JHWH, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat, um dir dieses Land zum Besitz zu geben.“ Muss man daraus nicht folgern, dass der Einschluss der Christgläubigen qua Sohnesmetapher in einen gemeinsamen Traditionshorizont mit dem Volk Israels, nur unter Ausschluss des konstititiven Bezugspunktes, nämlich der Landverheißung funktioniert? Wir haben es hier ja nicht mit dem Abraham des Volkes Israels zu tun, mit dem sich ja konstitutiv die Landverheißung verbindet, sondern mit einem Abraham des heilsgeschichtlichen, christlichen Horizontes, also mit einer Glaubensfigur, wie sie dem Narrativ einer Christologie entspricht: Zeugnis geben, bekennen, glauben. Abraham ist hier also eine literarische Figur, die sich unter neuer Gestalt ohne Land, reines Vorbild des Glaubens, in den christlichen Horizont einschreiben lässt. Auf diesem Hintergrund zeichnet sich eine ‚Kontinuität‘ oder ein einheitlicher Traditionshorizont (Christgläubige als Söhne/Töchter Abrahams) genau genommen nicht zwischen ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ ab, sondern zwischen ‚Christentum‘ und ‚Christentum‘: Abkoppelung vom Volk der Verheißung. Das historische Hervorgehen des ‚Christentums‘ aus dem ‚Judentum‘ kann damit nicht bestritten werden, ebenso wenig aber eine systematische Differenz. Auch das paulinische Bild vom Pfropfen auf einen Stamm (Röm 11,16-18) lässt diesen Zusammenhang nicht notwendig als ein quasinatürliches Hervorgehen des ‚Christentums‘ aus dem ‚Judentum‘ interpretieren, sondern lässt sich auch als Hinweis auf eine Verträglichkeit von Differenzen deuten. Salopp gesagt: Weder aus der Kategorie Land noch aus der Kategorie Volk kommt man daher im Christentum an.11 Vorgängig ist hier nicht die Geschichte, sondern die Systematik, also das Bezugssystem, mit dem Heils-Geschichte entworfen wird. Das ‚Christentum‘ legitimiert sich somit nicht mittels oder aus einer historischen Entwicklung, sondern mittels oder aus einer personorientierten Entscheidung, dass Jesus Christus den Christinnen und Christen mehr bedeutet als alles in der Welt. Dieses ‚christliche‘ Paradigma, in dem ein zeitliches, endliches Objekt privilegiert wird, ist ein Liebesparadigma und insofern notwendig ausschließend, nicht jedoch enterbend, überbietend, feindlich oder hassgesonnen.12 Das christusbezogene Vergemeinschaftungsmodell „Kirche“13 bezieht sich daher nicht unwesentlich auf die grundlegenden christologischen Narrative: das Glaubensbekenntnis und seine orthodoxe Auslegung.

3. Zur Abkoppelung der Tora vom Volk

Zu den auffälligsten Hinweisen, dass die katholische Systematik in Bezug auf die Tora eine Differenz formuliert, gehört der verbreitete Ausfall dieses Begriffs „Tora“ in katholischen Dokumenten. Auch im Neuen Testament ist dieser Begriff nicht bezeugt, obwohl Hebraismen und eine hebräische Rhetorik durchaus nicht ausgeschlossen waren.14 Stattdessen wird auf die Tora immer wieder mit den Begriffen Gesetz oder auch Gebote angespielt. Das hängt nicht unwesentlich mit der neutestamentlichen Übersetzung ins Griechische, Nomos, in allen seinen Bedeutungen (dt. Gesetz, Brauch, Gewohnheit, das Angeordnete) leitend geworden ist.15

Dass mit dieser Übersetzung neutestamentlich die entscheidende systematische Weiche gestellt wurde, zeigt sich bereits an ganz wenigen Umrissen dessen, was in der ‚jüdischen Tradition Tora bedeutet: in begrifflicher aber auch sozialer Hinsicht bezeichnet Tora das Lehren und Lernen, Unterweisen und Anweisen, Einweisen und Führen; in einem engeren Sinn bezeichnet Tora auch die sogenannten fünf Bücher des Mose, die sogenannte geoffenbarte Heilige Schrift des erwählten Volkes Israel, worauf sich ein religiöses Judentums bezieht.16 In einer rabbinischen Tradition wird Tora auch als Gesamtheit von schriftlicher und mündlicher Tora bezeichnet. Die schriftliche Tora wird verschiedentlich als Produkt der mündlichen Tradition verstanden.17 Innerhalb der mündlichen Kommentartradition hat sich ein Bereich entwickelt, der sich mit dem Verstehen und Tun von Gesetzen beschäftigt, ein anderer mit dem, wir würden sagen, geistlichen Auslegen.18 Die Tora hat unbestritten die hervorgehobene Stellung schlechthin, nicht nur im Tanach.19

Mit diesen wenigen Andeutungen lässt sich erkennen, dass die neutestamentliche Übersetzung von Tora mit dem griechischen Nomos allenfalls ein Segment des hebräischen Torabegriffs trifft. Dabei ist jedoch noch nicht berücksichtigt, dass auch für dieses Segment ein unterschiedlicher Kontext beansprucht wird, so dass genaugenommen für die Übersetzung im Neuen Testament nicht einmal von einer reduzierten Tora gesprochen werden kann. Dies lässt sich in der christlichen Literatur an dem häufigen Verweis auf den sogenannten Dekalog nachvollziehen. Diese sogenannten Zehn Gebote gelten als „immer währendes und überall gültiges universales Sittengesetz in das menschliche Herz eingeschrieben“.20 Diese Einschreibung des universalen Sittengesetzes in das menschliche Herz ist hier aber mit einem Heraus-Schreiben, einem Heraustreten aus der Tora verbunden, was sich in zweifacher Hinsicht zeigen lässt. In dieser Anspielung auf den Dekalog wird der Kontext des Tanach einer Gabe an das Volk und dessen Bezug auf seine Volks- und Landerfahrung weitgehend ausgeblendet.21 Die Tora war nach Levitikus zum segensreichen Leben des erwählten Volkes im verheißenen Land gegeben, während die fast unüberhörbare Anspielung auf das universale Sittengesetz bei Immauel Kant22 diesen historiographischen Kontext der Gabe der Tora an Israel zugunsten einer christologischen Universalisierung de-konstruiert.23 Auch Anspielungen auf die Herzenstora in Jer 31 dürfen nicht übersehen, dass ein künftiger Bund mit dem Haus Israel / Juda gemeint bzw. konstruiert war, vgl. Jer 31,31. Nach Mt 5,17 und ähnlichen Stellen sei Jesus nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen. Von einer Aufhebung der Tora oder der Propheten kann allerdings insofern überhaupt keine Rede sein, weil das Gesetz im Neuen Testament in einem für die Tora und die Propheten inkompatiblen christologischen Bezugsrahmen aufgerufen wird.24 Wir bleiben also auch hinsichtlich der Tora vor einer systematischen Differenz, die nicht unterminiert werden sollte und im übrigen nicht schon in diesen angespielten Differenzen eine christliche Programmatik entwirft.

4. Ergebnisse

Die Rede vom ‚Heiligen Land‘ in einer katholischen Systematik knüpft an eine bereits im Neuen Testament entworfene Abkoppelungsgestik an. Die christliche Rede vom ‚Heiligen Land‘ hat allein einen Person-orientierten, auf Jesus Christus hin heilsgeschichtlich ausgebildeten Sinn, in dem das Bezugssystem von Verheißungsland, Volk und Tora für die Christgläubigen nicht konstitutiv ist. Damit sind aber weder der Tanach noch der ‚jüdische Traditionshorizont für die katholische Systematik obsolet, wie Marcion (ca. 85-160). Das Alte Testament und weitgehend neutestamentliche Teile müssen nicht ‚ent-judaisiert‘ werden, wenn man dieses monströse Wort noch gebrauchen will. Merkwürdigerweise entlarvt genau dieses marcionitische Verwerfen des ‚Judentums‘ für das Christentum auch einen äußerst sublimen Antijudaismus, der darin besteht, beide Bezugssysteme, das ‚christliche‘ wie das ‚jüdische‘ für kompatibel zu halten und sich deshalb auch für einseitig störend wahrzunehmen. Unter einem solchen verdrängenden Konkurrenzschema kann erst das ‚Christliche‘ als das Entfaltete, das Eigentliche, Erhoffte, endlich in Christus Erfüllte dargestellt werden. Die frühchristliche ‚Orthodoxie‘ hatte diesen Ansatz verworfen, weil sie offenbar nicht nur aus einem polemischen Horizont heraus von einer systematisch begründeten Diskontinuität zu wesentlichen Elementen des ‚jüdischen Traditionshorizontes ausging.

Auf den dargestellten Hintergründen liegt m. E. das Mandat des sogenannten christlich-jüdischen Dialogs heute darin, die Jahrhunderte lange Entzweiungs-, Verfolgungs- und Ermordungsgeschichte auf wissenschaftlicher Ebene dadurch zu beenden, dass ‚christliche‘ und ‚jüdische Traditionshorizonte durch ihre systematischen Grenzen klar (an-) erkennbar bleiben.

Anmerkungen
  1. Ein bibliografisches Projekt liegt meines Wissens dazu nicht vor, so dass hier nur sehr unsystematisch auf Einzelbeiträge und dort angegebene Literatur verwiesen werden kann. Ich möchte einführend auf Christina Kurth/ Peter Schmid (Hgg.), Das christlich-jüdische Gespräch. Standortbestimmungen, Köln 2000, verweisen.
  2. Dies hat sich auch mit den offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen dem Vatikanstaat und dem Staat Israel seit 1994 nicht wirklich geändert. Der Besuch Papst Paul VI. 1964 im ‚Heiligen Land‘ stellte zwar diese Entwicklung in den Kontext des 2. Vatikanischen Konzils und seiner theologischen Neuorientierung, insbesondere im Blick auf das sehr umstrittene Dokument Nostra aetate aus dem Jahr 1965, vgl. Karl Rahner/ Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilkompendium, Freiburg 31966, 355-361. Dazu auch Ulrike Koltermann, Päpste und Palästina. Die Nahostpolitik des Vatikans von 1947 bis 1997, Münster 2001. Eine signifikante gesellschaftliche Debatte hat sich daran nicht angeschlossen.
  3. Die alttestamentliche Wissenschaft reflektiert diese Thematik schon für die verschiedenen nicht subsumierbaren Landtheologien im Alten Testament, die das diverse Legitimationsbedürfnis politischer Programme belegen, so Egbert Ballhorn in seinem Vortrag „Liegt nicht das ganze Land vor dir? Landverheißung und Landtheologien im Alten Testament“ am 19. Juli 2001 in St. Andreas (Köln).
  4. Das heißt, ein Exilsjudentum war auch schon innerhalb des Tanach ohne Landverheißung denkbar. Allerdings bleibt die ‚Logik‘ dieser prophetischen Exils-Terminologie doch wieder an die Landverheißung geknüpft, insofern sie mit Rückkehrankündigungen verbunden sind.
  5. Vgl. Medard Kehl, Eschatologie, Würzburg 1996, vgl. Jürgen Werbick, Kirche, Freiburg Basel Wien 1994 sowie Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, München 1988. Für den lutherischen/protestantischen Bereich vgl. Stephan Vasel, Philosophisch verantwortete Christologie und christlich-jüdischer Dialog, Gütersloh 2001.
  6. Das gilt auch für Teile des Judentums, die weder vom Besitz noch vom Leben in diesem Land ein Konstitutivum des/ihres Judeseins ableiten.
  7. Vgl. z. B. Pnina N. Levinson, Einblick in das Judentum, Paderborn 1991, 171f.
  8. Israel ist das Land, in dem die Tora gelebt werden soll (Lev 18,24-28), ein Land, dass selbst der Tora untersteht (Lev 25,4) und sich deshalb unterscheidet, heiliges Land ist.
  9. Deshalb kommt „der Nachfolger Petri [...] als Pilger in dieses Land, das durch die Präsenz von Moses und Elija gesegnet ist; hier hat Jesus selbst gelehrt und Wundertaten vollbracht...“ VA 145, 29. Auch Mose und Elia sind hier heilsgeschichtlich perspektiviert, also als so etwas wie vorchristliche Figuren, die sich nicht mehr auf das Land der Verheißung beziehen, sondern auf die Person Jesu Christi. „Da die Christen den zweitausendjährigen Jahrestag der Geburt Jesu feiern, müssen wir diese Pilgerfahrt zu den Stätten machen, wo die Heilsgeschichte begonnen und stattgefunden hat...“, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls (AV) 145, 13.
  10. Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg u. a. 1966, 357f.
  11. Beliebte christologische Theorien, in denen Christus den Bund zwischen Israel und seinem Gott bestätigt, verfehlen daher ihren Adressaten, wegen des angesprochenen Kategorienfehlers, so etwa bei Hans Joachim Kraus, in: Stephan Vasel, a. a. O. 78.
  12. Weshalb auch die Rede vom Christentum bzw. der Kirche als wahrem Israel genau genommen den ‚jüdischen Traditionshorizont‘ nicht trifft und insofern keine Überbietung des ‚Judentums’ bedeuten kann.
  13. Diese Differenz markieren weite Teile der exegetischen Literatur mit dem Begriff der Schicksalsgemeinschaft, womit auch angedeutet wird, dass sich das Christentum konstitutiv über das Schicksal Jesu Christi, vergemeinschaftet, nicht über eine Land-Volk-Verheißung, vgl. u. a. Gerhard Hotze, Gemeinde als Schicksalsgemeinschaft mit Christus. 2 Kor 1,3-11, in: FS Karl Kertelge, Ekklesiologie des Neuen Testaments, hg. von R. Kampling und Th. Söding, Freiburg u. a. 1996, 336ff.
  14. Vgl. Pinchas Lapide, Hebräisch im Evangelium, in: Judaica 33 (1977) 7-29. Es ist bemerkenswert, dass der Begriff Tora im NT nicht ein einziges Mal belegt ist, hingegen Personen- und Ortsnamen, sowie die hebräischen Begriffe wie Amen, Rabbi, Maranatha, Abba, aram.: Eloi, Eloi, lama sabachtani zum Bestand geworden sind.
  15. Vgl. Manuel Goldmann, „Die große ökumenische Frage...“ Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition und ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel, Neukirchen-Vluyn 1997 sowie Christoph Dohmen/Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart u. a. 1996.
  16. Vgl. Emil L. Fackenheim, Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart, Berlin 1999, 128ff.
  17. Vgl. ebd. 61.
  18. Vgl. ebd. 65.
  19. Alle 28 Bücher des Tanach sind von Gott offenbart, nur die Tora aber wurde von Gott am Sinai direkt dem Volk gegeben, vgl. ebd. 58.
  20. AV 145, 23.
  21. Auch an Stellen, wo dieses „Gesetz“ im Kontext der Gabe an Mose und sein Volk bzw. auch im Kontext des Bundes erwähnt wird, vgl. AV 145, 22, wird dieses „Gesetz“ von seiner Bindung an das Volk und das Leben dieses Volkes im Land der Verheißung gelöst: „Hier [auf dem Sinai] wird ihm [dem Mose] das Gesetz übergeben, das ‚mit dem Finger Gottes geschrieben‘ ist (vgl. Ex 31,18). Was aber ist dieses Gesetz? Es ist das Gesetz vom Leben und von der Freiheit!“, AV 145, 22f. In dieser Formulierung ist das Gesetz nicht mehr spezifisch dem ‚jüdischen Traditionskontext‘ zugeschrieben.
  22. „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
  23. Bund und Gesetz umfassen in dieser Perspektive alle Menschen: „Wenn die Menschen sein Gesetz befolgen, werden sie in immer währender Freiheit leben. Auszug und Bund sind nicht lediglich Ereignisse der Vergangenheit; sie sind die ewige Bestimmung des gesamten Volkes Gottes!“, AV 145, 23.
  24. Vgl. Pinchas Lapide, Hebräisch im Evangelium, in: Judaica 33 (1977) 13.