Versöhnung

Vortrag gehalten auf der ICCJ Jahreskonferenz in Budapest, 25. Juni 2018.

Es ist eine große Ehre, dass ich heute am Beginn der Jahreskonferenz des Internationalen Rates der Christen und Juden an dieser Stelle sprechen darf. Gerade hier in Budapest, wo mich entlang der Donau über viele Jahre hinweg Freundschaften, Begegnungen und gemeinsames Engagement für die christlich-jüdische Zusammenarbeit verbinden. Besonders erwähne ich meinen geschätzten Kollegen Szécsi Jószef, meine engagierte Wegbegleiterin Hausmann Jutta und meinen innigsten Freund Várga Béla. Danke für eure Anregungen, eure Begleitung und eure Freundschaft.

Meine Rolle auf diesem Podium ist, Ihnen als Mitglied der römisch-katholischen Kirche einen kurzen Überblick zu geben, was meine Kirche zum Thema „Versöhnung“ zu sagen und anzubieten hat. Da bin ich diesmal in einer guten Position. Bei christlich-jüdischen Tagungen ist es ja oft so, dass unsere jüdischen Partnerinnen und Partner viel Praktisches präsentieren, was die Gebote und die Halacha zu tun vorgeben. Wir Christinnen und Christen ergehen uns dann in abgehobenen theologischen Reflexionen. Nun, heute ist das anders. Wenn ich als Katholik zu Ihnen über Versöhnung spreche, habe ich nicht nur zahlreiche theologische Reflexionen zur Verfügung. Ich kann ganz einfach sagen: Gehen Sie zur Beichte!

1. Das Sakrament der Buße

Sie kennen die Beichte aus unzähligen Kriminalfilmen: In einem dunklen Winkel der Kirche flieht ein Bösewicht in einen kleinen hölzernen Schuppen, den so genannten Beichtstuhl. Dort vertraut er dem Priester seine Last an. Dieser ist nun Mitwisser, der diese Last ab jetzt alleine tragen muss. Denn das Beichtgeheimnis ist in der Kirche absolut und heilig. So unabdingbar, dass sogar viele staatliche Rechtssysteme darauf Rücksicht nehmen. Und wenn nicht: Der Heilige Johannes Nepomuk zum Beispiel starb 1398 dem Märtyrertod in den Fluten der Moldau in Prag, weil er das, was er in der Beichte gehört hatte, nicht preisgeben wollte.

Lesen wir im Katechismus nach, was das Sakrament der Buße bedeutet:

KKK 1422 „Die zum Sakrament der Buße hinzutreten, erlangen für die Gott zugefügte Beleidigung von seiner Barmherzigkeit Verzeihung und werden zugleich mit der Kirche wieder versöhnt, die sie durch ihr Sündigen verwundet haben und die zu ihrer Bekehrung durch Liebe, Beispiel und Gebete mitwirkt" (LG 11).

Im Katechismus folgen nun einige erklärende Sätze zu den verschiedenen Dimensionen des Sakraments. Die Stichworte sind Umkehr, Buße, Beichte, Vergebung, Versöhnung. Dies sind die einzelnen Schritte, die jeder Gläubige im Akt der Beichte durchläuft.

KKK 1423: Man nennt es Sakrament der Umkehr, denn es vollzieht sakramental die Umkehr, zu der Jesus aufruft [Vgl. Mk 1,15], den Schritt der Rückkehr zum Vater [Vgl. Lk 15,18.], von dem man sich durch die Sünde entfernt hat.

Man nennt es Sakrament der Buße, weil es einen persönlichen und kirchlichen Schritt der Umkehr, der Reue und Genugtuung des sündigen Christen darstellt.

KKK 1424: Man nennt es Sakrament der Beichte, denn das Geständnis, das Bekenntnis der Sünden vor dem Priester, ist ein wesentliches Element dieses Sakramentes. Dieses Sakrament ist auch ein Bekenntnis im Sinn der Anerkennung und des Lobpreises der Heiligkeit Gottes und seines Erbarmens gegenüber dem sündigen Menschen.

Man nennt es Sakrament der Vergebung, denn durch die sakramentale Lossprechung des Priesters gewährt Gott dem Beichtenden „Verzeihung und Frieden" (OP, Absolutionsformel).

Man nennt es Sakrament der Versöhnung, denn es schenkt dem Sünder die versöhnende Liebe Gottes: „Lasst euch mit Gott versöhnen!" (2 Kor 5,20). Wer aus der barmherzigen Liebe Gottes lebt, ist bereit, dem Ruf des Herrn zu entsprechen: „Geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder!" (Mt 5,24).

[Eine kurze Beobachtung dazu: Es ist ja bemerkenswert, dass die Evangelienstelle Mt 5,24 hier genau im Gegenteil ihrer wörtlichen Leseart verwendet wird: Im Evangelium geht es ja gerade darum, sich mit dem Bruder zu versöhnen, bevor du vor den Ewigen hintrittst.]

Lassen Sie es mich eigenen Worten sagen: Die Beichte als Sakrament gehört zum Kern der katholischen Identität. Ein Sakrament bewirkt, was es ausdrückt; es ist nicht nur ein symbolisches Zeichen. In der Beichte spricht die Kirche die Lossprechung kraft göttlicher Vollmacht zu: Gott sagt dir zu, du kannst neu beginnen, du bist nicht auf das Bisherige festgenagelt, die Last ist von dir genommen. Es ist die Zusage Gottes und die Versöhnung mit der Kirche. Die Beichte macht die Sünde nicht ungeschehen und sie ersetzt nicht die Reue und Umkehr des Sünders und auch nicht die Vergebung durch den Geschädigten. Aber die feierliche Zusage der Liebe Gottes in der Beichte bietet ein Fundament für diese Umkehr und für die Bitte um Vergebung auch an die Person, welche durch mich verletzt worden ist.

Bleiben wir bei der Praxis. Der Weg zu Beichte geschieht in fünf Schritten, die sich im Deutschen zu einem Merkspruch mit fünf B eingeprägt haben:

-    Besinnen: Ich erkenne, dass ich etwas falsch gemacht habe.

-    Bereuen: Der Fehler tut mir leid.

-    Bekennen: In der Beichte bekenne ich meine Schuld.

-    Bitte um Verzeihung: Ich bitte um Verzeihung und der Priester vergibt mir im Namen Jesu.

(Traditionell ist das vierte B „Büßen“: Die Aufgabe, die der Priester gestellt hat – etwa eine bestimmte Anzahl von Gebeten, Werke der Nächstenliebe – erfüllen.)

-    Bessern: Ich werde mich bessern, den Schaden möglichst wieder gut machen und mit dem Guten neu anfangen.

Das persönliche und vollständige Bekenntnis der Sünden und die Absolution durch den Priester sind in der katholischen Kirche der einzige Weg, die sakramentale Versöhnung zu erlangen. Bis 2006 hatten die Schweizer Bischöfe die Möglichkeit eingeräumt, die Absolution in einer gemeinschaftlichen Bußfeier der Gruppe der anwesenden Gläubigen zu spenden. Diese Gemeinschaftsform war einst in der Kirchengeschichte üblich und diese Praxis findet heute in einem gemeinsamen Bußgebet zu Beginn jeder Messe ihren Widerhall.

An diesem Punkt lassen Sie mich eine wichtige Unterscheidung zwischen lässlicher Sünde und Todsünde treffen. Nach dem Katechismus der Katholischen Kirche (KKK 1854 ff) beleidigen lässliche Sünden Gott weniger als Todsünden. Um diese Sünden zu heilen sagt der Katechismus, der Verursacher müsse individuelle Akte der Nächstenliebe setzen, aber er oder sie ist nicht verpflichtet, lässliche Sünden dem Priester zu beichten.

Um eine Todsünde zu sein, muss ein Vergehen drei Bedingungen erfüllen: Es muss schwerwiegend sein; es muss im vollen Bewusstsein und vorsätzlich begangen worden sein. Sie heißt Todsünde, denn sie greift die Nächstenliebe an, sie braucht Gottes Erbarmen und eine Umkehr des Herzens. Diese kann ausnahmslos nur in der sakramentalen Beichte gelöst werden. Wenn der Wille etwas tut, das unvereinbar mit der Liebe zu Gott ist (Gotteslästerung) oder unvereinbar mit der Nächstenliebe (Mord, Ehebruch), dann ist es immer eine Todsünde.

2. Krise der Beichte

Auch wenn uns die Medien heute regelmäßig persönliche Beichten vor einem Millionenpublikum präsentieren, so ist diese individuelle Form in der Kirche in eine Krise geraten. Ich habe keine Zahlen, aber meiner Einschätzung nach ist sie im deutschsprachigen Bereich weitgehend außer Gebrauch. Als Gegenbewegung dazu geht die Förderung des Bußsakraments heute Hand in Hand mit der Förderung eines traditionellen, ja vorkonziliaren Kirchenbildes. Es gibt Bewegungen, welche die Zahl der Beichten geradezu als Maß der Evangelisierung und Erneuerung nehmen. Ein Vorbild dafür ist etwa Jean Marie Vianney, der Heilige Pfarrer von Ars. Gerade durch das Hören der Beichte erreichte er im Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wiedererstarken des katholischen Glaubens.

Vor dem Konzil gingen Katholikinnen und Katholiken häufig zur Beichte, aber sie gingen nicht zur Kommunion. Heute ist der Kommunionempfang bei der Messe die Regel, aber niemand geht mehr zur Beichte. Ich glaube nicht, dass der Rückgang der Beichte ein Zeichen des Niedergangs der römisch-katholischen Kirche nach dem Konzil ist. Ich glaube auch nicht, dass die Gläubigen heute schlechtere Christinnen und Christen seien als früher. Ich glaube, dass ein Beharren auf unveränderter Tradition vielfach nicht eine angemessene Antwort auf die Nöte unserer Zeit ist und tatsächlich ist es historisch falsch: Die Praxis des Bußsakraments hat durch die Geschichte immer wieder grundlegende Veränderungen erfahren.

Das könnten mögliche Gründe für den Rückgang der Beichte sein:

a) In der Volk-Gottes-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils wird der gemeinschaftliche Aspekt des Kirche-Seins gelebt. Mit dem Selbstbewusstsein des Volkes Gottes steht individuelle Sündhaftigkeit nicht so sehr im Focus.

b) Gleichzeitig betont die Kirche den heilenden – Sünden vergebenden – Aspekt vieler anderer Tätigkeiten: Werke der Nächstenliebe und Einsatz für Gerechtigkeit, Vater und Mutter ehren, der Empfang der Eucharistie, das Beten des kirchlichen Stundengebets und des Vater Unser, das Fasten … (Vgl. KKK 1434-1439) In all diesen Ausdrucksformen des Glaubens ist Gott gegenwärtig und wirksam. Diese Taten sind zur Vergebung lässlicher Sünden ausreichend.

c) Außerdem hat die Beichte vielfach einen schlechten Ruf: Durch die kurzsichtige Fokussierung auf die Sexualität wurde ihr früher oftmals nichts Gutes getan. Wie Papst Franziskus gesagt hat, „es ist nicht notwendig, über diese Dinge die ganze Zeit zu reden“. Wir wissen heute, dass die größten Sünden der Menschheit nicht unbedingt im Schlafzimmer geschehen.

d) Da sakramentale Versöhnung nur für Todsünden verpflichtend ist, kann der Rückgang der Beichtpraxis auch auf einen neues Menschenbild verweisen: Das Leben ist nicht mehr das Jammertal zwischen einer Sünde und der nächsten. Das Selbstbewusstsein der Katholikinnen und Katholiken hat sich emanzipiert von einem Denken, das in allem und jedem menschlichen – kreatürlichen – Handeln Schwäche, Fehler und Sündhaftigkeit zu finden vermeint. Als geliebtes Kind Gottes, als Ebenbild des Ewigen hat jede und jeder Getaufte eine unauslöschliche Würde; ein gutes Leben ist möglich – ganz im Sinn der biblischen Weisheitsliteratur. KKK 1440 stellt fest: „Die Sünde ist vor allem Beleidigung Gottes und Bruch der Gemeinschaft mit ihm (sic!).“ Lässt sich der Ewige so leicht beleidigen? Ist er nicht treu und barmherzig und gehört das Scheitern nicht einfach zum Menschsein dazu? So wie das Volk Israel Gott erfahren und Jesus ihn gepredigt hat, sind nicht seine Gnade, Langmut und Treue jenseits aller menschlichen Berechnung (Ex 34,16)?

e) Die Beichte ist ein Ritual, dessen Stärke Tradition und Vollmacht im Namen Gottes, repräsentiert durch das priesterliche Amt der Kirche, sind. Formale Riten müssen jedoch in die Gesellschaft passen, für welche sie gedacht sind: auch daher ist der Beichtritus vielleicht nicht mehr das, was Menschen heute anspricht. Manche Seelsorger haben daher versucht, das Beichtgespräch in Richtung einer seelsorglichen Beratung umzudeuten. Doch dazu braucht es eine spezielle Ausbildung.

f) Wo man früher vielleicht zu viel an jeder Ecke eine Sünde gesehen hat, so ist es heute bisweilen gerade umgekehrt: Es fehlt ein Blick auf die eigene Unzulänglichkeit, auf die eigenen Fehler, auf die Folgen der eigenen Handlungen und die Verantwortung, die man dafür trägt. Wir befinden uns in einem Diskurs, in dem jeder Einzelne und jede Gruppe sich als Opfer fühlt, sich selbst freispricht und die Fehler bei anderen sucht. (vgl.: Regina Ammicht-Quinn: Opferkonkurrenz, www.feinschwarz.net/tag/opferkonkurrenz/ [10.06.2018]; Anselm Neft: Das große Mimimi, www.zeit.de/kultur/2018-05/opferkultur-debatte-sexismus-freiheit-gesellschaft [10.06.2018], Markus Himmelbauer: Von Opfern und Opfern, www.furche.at/system/showthread.php?t=59314 [10.06.2018])

3. Versöhnung jenseits individueller Perspektive: Strukturen der Sünde

g) Last but not least: Die Beichte vergibt meine persönliche Schuld. In unserem privilegierten Leben als Bewohnerinnen und Bewohner wohlhabender Länder erleben wir jedoch immer stärker ein Verstrickt-Sein in Strukturen der Sünde, die unser Gewissen eindeutig als gegen Gottes Wille gerichtet empfindet, gegen die wir uns aber zutiefst ohnmächtig fühlen: so etwa, wenn wir durch unseren Lebensstil die Umweltzerstörung fördern, wenn wir wissen, dass unsere Alltagsgegenstände und Kleidung durch Ausbeutung zu uns gekommen sind, wenn wir den Umgang mit Armen, sozial Schwachen und Fremden in unserm Land und weltweit betrachten, wenn wir gegen unseren Willen im Prozess des Geld-Verdienens und Geld-Vermehrens eingebunden sind und mitmachen. Im Unterschied zu individueller Sünde, kann die klassische Beichte bei diesen schuldhaften Verstrickungen keine Antwort bieten: etwa bei meiner privilegierten Situation in der globalen Verteilung von Ressourcen und Wohlstand.

Verstrickung in Schuld, diese trifft auf anderem Gebiet etwa auch mich als Österreicher in den nicht geklärten fortbestehenden Traditionen des Autoritarismus und in unterdrückten Familientraditionen der NS-Zeit.

Wie sieht es aus, wenn wir nicht von individueller Sünde sprechen, sondern von gemeinschaftlicher Schuld, in die ich eingebunden bin? Papst Johannes Paul II. ging 1987 in Sollicitudo Rei Socialis weg von einer nur individualistischen Betrachtung der Ursachen falscher wirtschaftlicher Entwicklungen und sprach von „Strukturen der Sünde“ (SRS 36):

Wenn die heutige Situation Schwierigkeiten unterschiedlicher Natur zuzuschreiben ist, so ist es nicht verfehlt, von "Strukturen der Sünde" zu sprechen, die (…) in persönlicher Sünde ihre Wurzeln haben und daher immer mit konkreten Taten von Personen zusammenhängen, die solche Strukturen herbeiführen, sie verfestigen und es erschweren, sie abzubauen. Und so verstärken und verbreiten sie sich und werden zur Quelle weiterer Sünden, indem sie das Verhalten der Menschen negativ beeinflussen.

Die Überwindung von lebensfeindlichen Rahmenbedingungen geschieht für Sollicitudo Rei Socialis wiederum doch nur durch individuelle Einsicht und Besserung, „nur durch wesentlich moralische Entschlüsse, welche sich für die Glaubenden, besonders für Christen, mit Hilfe der göttlichen Gnade an den Prinzipien des Glaubens orientieren.“ (SRS 35)

Auf dem Newsportal der deutschen Bischofskonferenz fand ich unter dem Stichwort Versöhnung eine Predigt des Bischofs von Münster, Felix Genn. Die Welt habe eine Sehnsucht nach Frieden. Warum haben wir aber keinen Frieden? Ein Grund für die Auseinandersetzungen unter den Völkern, für die Zerwürfnisse in Europa, für die Gefährdung des Lebens in der ganzen Schöpfung, auch in Ehe und Familie, ist nach Ansicht des Bischofs „der Mangel an Versöhnung und Barmherzigkeit“. „Die Barmherzigkeit Gottes allein (kann) Frieden und Versöhnung schaffen (…) für die gesamte Welt, in großen internationalen Beziehungen wie auch im Umgang mit der Schöpfung und die Heilung der Brüche in unseren Familien und Gemeinschaften", betont Genn. (www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/genn-ruft-zu-frieden-und-versohnung-auf [04.06.18]) Dieser beschwörende Appell scheint mir nun weder theologisch sehr tiefgründig zu sein, noch ist sie eine erleuchtete Analyse, die hilft, Wege der Versöhnung konkret zu beschreiten.

Blicken wir in die Enzyklika Laudato Si von Papst Franziskus, die grundlegende Überlegungen für Frieden und Gerechtigkeit in globaler Perspektive anstellt. In der deutschen Version finden wir das Wort Versöhnung drei Mal: ein Zitat aus dem Kolosserbrief (Kol 1,19-20, LS 100) des Apostels Paulus, das Versöhnung und Frieden miteinander verbindet:

Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.

Und dann zwei Fundstellen bei einem Hinweis auf ein Schreiben der Australischen Bischöfe (LS 218) aus dem Jahr 2002:

Die australischen Bischöfe haben die Umkehr im Sinn einer Versöhnung mit der Schöpfung ausgedrückt:

„Um diese Versöhnung zu verwirklichen, müssen wir unser Leben prüfen und erkennen, auf welche Weise wir die Schöpfung Gottes durch unser Handeln und durch unsere Unfähigkeit zu handeln geschädigt haben. Wir müssen eine Umkehr bzw. einen Wandel des Herzens erfahren.“

Der hier angesprochene „Wandel des Herzens“ unterstellt, dass Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt durch eine Summe guter Einzelhandlungen entstehen. Versöhnung bleibt hier im traditionellen katholischen Kontext der Gewissensprüfung des Einzelnen. Papst Franziskus kennt – ebenso wie Johannes Paul II. – in seinen Überlegungen natürlich die Notwendigkeit der politischen Gestaltung (LS 197: „Wir brauchen eine Politik, deren Denken einen weiten Horizont umfasst und die einem neuen, ganzheitlichen Ansatz zum Durchbruch verhilft …“), bringt diese – so weit ich sehe – aber nicht mit dem theologischen Aspekt der Versöhnung in Verbindung.

In Amoris Laetitia, dem Schreiben von Papst Franziskus über die Liebe in der Familie, kommt das Wort „Versöhnung“ mehrere Male vor – klar, es geht ja um die Beziehung zwischen einzelnen Personen. Bei Krisen in der Partnerschaft und in der Familie geht (AL 236) werden Bedingungen für Versöhnung genannt:

Die mühevolle Kunst der Versöhnung, die der Unterstützung der Gnade bedarf, erfordert die großherzige Mitarbeit von Verwandten und Freunden und manchmal auch einer professionellen Hilfe von außen.

Hier finden wir endlich ein klares Bewusstsein dafür, dass die Gnade Gottes (auch) menschliche Prozesse und Strukturen braucht, in denen sie wirken kann. Einzelne Beispiele für diese Erkenntnis gibt es natürlich: Etwa die friedensstiftende, versöhnende Praxis der Gemeinschaft von Sant’Egidio in Rom, die über den Umgang mit individueller Schuld hinausgeht und nicht allein auf einer Art Mediation beruht und tief in einer spirituellen Dimension verwurzelt ist.

4. Wenn menschliche Kraft nicht ausreicht

Wenden wir den Dreischritt der Beichte „Umkehr, der Reue und Genugtuung“ (KKK 1423) einmal auf strukturelle Schuld an: Sprechen wir von christlich-jüdischen Beziehungen. Die Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. zum Heiligen Jahr 2000 hat die Schuld der Söhne und Töchter der Kirche gegenüber den Söhnen und Töchtern des Bundesvolkes benannt. Die „Theologie der Verachtung“ und ihre Folgen liegen auf dem Tisch, die Reue ist gegeben, der Wille zur Umkehr auch. Eine Konsequenz daraus formulierten die deutschen Bischöfe 1980, wiederholt von den Bischofskonferenzen der DDR, BRD und Österreichs 1988 zum 50-Jahr-Gedenken an das Novemberpogrom. Sie schreiben in der Erklärung „Die Last der Geschichte annehmen“:

Zur Liebespflicht der Christen gegenüber den Juden gehören auch das immerwährende Gebet für die Millionen im Laufe der Geschichte ermordeten Juden und die ständige Bitte an Gott um Vergebung des vielfachen Versagens und der zahlreichen Versäumnisse, deren sich Christen in ihrem Verhalten den Juden gegenüber schuldig gemacht haben.

(www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/deutsche-bischoefe/Db43.pdf, S. 6 [09.06.2018])

Ob diese „Genugtuung“ ausreichend ist, darüber diskutieren wir in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit und suchen, dies gemeinsam umzusetzen: Welche Früchte wir auf welcher Ebene sehen können oder doch sehen wollen. Das „immerwährende Gebet“ und die „ständige Bitte an Gott“ sind wahrscheinlich angemessen, wenn es um die Fehler der Kirche gegenüber Jüdinnen und Juden geht. Auf der praktischen Eben ist diese beschwörende Formel aber doch sehr ambitioniert und hoch gegriffen. Was nützt solch ein Vorsatz, wenn es nur leere Worte bleiben? Neben dem Gebet wird noch Anderes gefordert sein: Zumindest beherztes Eintreten gegen Rassismus und Antisemitismus im Alltag, die – wie wir alle wissen – zunehmend wieder lauter werden. Und eine Umkehr in Lehre und Verkündigung, sowohl von Einzelnen als auch von der Kirche als Ganzer und ihren Entscheidungsträgern. Wir wissen: Wenn die Täter nicht zu ihrer Schuld stehen, sie nicht erkennen und bekennen, fühlt sich die nächste Generation schuldig. Das mitgetragen und gefördert zu haben, ist auch Schuld der österreichischen Kirche. Solche Strukturen und Handlungen zu verändern folgt in einer großen, weltweiten und traditionsreichen Organisation anderen Gesetzlichkeiten als eine persönliche Umkehr.

Genau dieser dritte Schritt der Beichte, die „Genugtuung“, die Entscheidung, mein Verhalten zu ändern, scheint mir bei „Strukturen der Sünde“ am anspruchvollsten zu sein. Wir wissen um die Notwendigkeiten und Ziele, wie sich unsere Gesellschaft und Weltordnung zu ändern hätte; sie sind klar formuliert. Die Sünde wurde vielfach auch benannt, die theologische Basis ist vorhanden. Auch der Wille der einzelnen Gläubigen, etwas an den Zuständen der Welt zu ändern, ist vielfach da – kaum jemand wünscht, dass sich die Welt auf dem derzeitigen Kurs weiterbewegen soll. So finden wir hier die Schritte von Umkehr und Buße. Aber meine individuelle Bekehrung, meine Einsicht und mein guter Wille können den fehlgeleiteten Prozess nicht ändern. Ich kann mich guten Gewissens fühlen, dass ich es doch versucht hätte. Aber das ändert nichts an den Verstrickungen, in die ich gebunden bin und die ich wirklich auflösen möchte. (vgl: Michael Kopatz: „Erlöst endlich die Konsumenten!“ https://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/03/konsum-entscheidung-einfluss-welt-konzerne-lebenstil [18.06.18])

Vielleicht ist deswegen der Zuspruch zu esoterischen und schamanischen Riten heute so groß, weil gerade diese helfen, die Spannung zwischen einer umfassenden Krise und meiner eigenen Hilflosigkeit auszuhalten. Jedenfalls brauchen wir die immerwährende Hilfe Gottes, damit das uns das Mögliche für eine friedliche, gerechte und solidarische Welt nicht überfordert und unsere Last der Aufgabe und unsere menschlichen Grenzen beim Ewigen ihre Ruhe und ihren Trost finden. Und wir brauchen einen katholischen Ritus genau dafür: nicht zum eigenen Seelenheil, sondern um gemeinsam verantwortlich zum Heil der Welt tätig zu werden.


Ich danke Barbara Herbst, Regina Polak sowie Phil Cunningham und Martin Jäggle für die kritische Begleitung und Unterstützung bei der Entwicklung dieser Gedanken.