"Vergesset nicht - es ist unsre gemeinsame Welt"

Festbeitrag zum 50jährigen Jubiliäum der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Düsseldorf, 2001

"Vergesset nicht - es ist unsre gemeinsame Welt"

Zukünftige Aufgaben christlich-jüdischer Zusammenarbeit in Deutschland

Gedenk- und Jahrestage erinnern uns immer wieder daran, daß die Zeit nicht stehen bleibt, sondern unaufhörlich voranschreitet. In dem Bewußtsein, daß die Gegenwart bald selbst der Geschichte angehören wird, blicken wir auf vergangene Tage und Stunden, auf historische Ereignisse oder Menschen und fragen uns, was die Zukunft angesichts des Gewesenen noch bringen mag. Das fünfzigjährige Bestehen der Düsseldorfer Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bietet uns daher nicht nur einen Anlaß, in der alltäglichen Arbeit innezuhalten und dankbar auf das in den letzten Jahren und Jahrzehnten Erreichte zurückzuschauen, sondern erlaubt uns auch einen kritischen Blick auf gegenwärtige Entwicklungen und ihre möglichen Folgen.

So lautet zu Beginn dieses Beitrags, der einige drängende Aufgaben des christlich-jüdischen bzw. deutsch-jüdischen Gesprächs der nächsten Jahre zu skizzieren versucht, die Frage zunächst einmal: Wo stehen wir heute? Ohne die Antworten der vorangegangenen Aufsätze hier wiederholen zu wollen, lassen sich m. E. zwei grundsätzliche Einschätzungen der gegenwärtigen Situation unterscheiden: Angesichts der seit 1945 erkennbaren Um- und Neuorientierung der christlichen Kirchen in ihrem Verhältnis zum Judentum kann einerseits von einem nachhaltigen Erfolg der gemeinsamen Arbeit gesprochen werden. Andererseits häufen sich zunehmend die Stimmen, die eine tiefe Krise im christlich-jüdischen Miteinander konstatieren.

Auch wenn wir uns eingestehen müssen, daß in den vergangenen fünfzig Jahren manches versäumt und vernachlässigt wurde, ist ebenso klar, daß unsere heutige Arbeit ohne die beachtlichen Leistungen der letzten Jahrzehnte kaum bestehen könnte. In einem vergleichsweise kurzen Zeitraum konnte eine positive Veränderung der über Jahrhunderte von Haß und Leid geprägten Beziehungen zwischen Juden und Christen erreicht werden, und die deutschen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit haben zweifellos an der gegenseitigen Annäherung beider Religionen ihren maßgeblichen Anteil gehabt. Robert Raphael Geis zählte es sogar „zu den wichtigsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts, daß Juden und Christen einander als Brüder im Glauben wiederentdeckt haben.“[1] Bei aller berechtigten Freude über den „epochalen Wandel“ im Verhältnis der christlichen Kirchen zum jüdischen Volk seit 1945[2] bleibt aber dennoch ein gewisses Unbehagen. Mir wäre weitaus wohler zumute, wenn die Düsseldorfer Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in diesem Jahr nicht erst ihren 50. Geburtstag feiern würde, sondern bereits auf ein hundertjähriges oder noch längeres Bestehen zurückblicken könnte. Damit möchte ich unserer Arbeit keineswegs ihren Sinn absprechen, sondern vielmehr ausdrücken, daß der christlich-jüdische Dialog auch unabhängig von Auschwitz notwendig war und ist. Jesu Judesein und seine ganz in der biblischen Tradition stehende Frömmigkeit und Lehre, der frühjüdische Kontext der Evangelien, die große Bedeutung des sogenannten Alten Testaments für Christen, die Gemeinsamkeiten in der Liturgie usw. hätten schon lange vor 1933 gelehrt und gepredigt werden müssen. Daß sich Christinnen und Christen erst nach dem Holocaust, der Shoah, auf die „jüdischen Wurzeln“ ihres Glaubens besannen, daß erst der Schock von Auschwitz nötig war, um einen langsamen, freilich noch lange nicht abgeschlossenen Prozeß der Umkehr in den Kirchen einzuleiten, müßte uns zutiefst beunruhigen.

Aber vielleicht besteht gerade hier ein Grund für die sich abzeichnende Krise im christlich-jüdischen Gespräch. Der Schock, den die Gründergeneration der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit noch empfunden hat und der sie in ihrer Arbeit motivierte, scheint nachgelassen zu haben. Womöglich haben wir uns inzwischen an eine Welt, „die längst viel Schlimmeres kennt als den Tod und die etwa Menschen noch den Genickschuß verweigert, um sie langsam zu Tode quälen zu können“,[3] gewöhnt und sind innerlich schon so abgestumpft, daß uns die Erzählungen und Bilder aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern nicht mehr schockieren können. Tatsächlich gibt es „schon wieder jene gutgelaunten jungen Leute in Gemeinden, theologischen Fakultäten und Bildungsveranstaltungen, denen nicht mehr klarzumachen ist, inwiefern dieses Grauen unserer jüngeren deutschen Vergangenheit nicht einfach vergessen werden darf, sondern eine bleibende Anfrage an Kirche, Theologie, ja den Gottesglauben selbst darstellt – eine Herausforderung zu Bekenntnis und Umkehr, die noch gar nicht wirklich erkannt ist und doch bereits viele zu langweilen beginnt, und dies im Augenblick eines wiedererstarkenden Rechtsradikalismus und einer wachsenden Gewalt gegen Fremde“.[4]

Es geht hier nicht darum, jemandem die gute Laune zu verderben. Doch die Glaubwürdigkeit der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wird davon abhängen, ob wir bereit sind, uns auch in Zukunft der bleibenden Herausforderung von Auschwitz zu stellen. Ich befürchte allerdings, daß wir diesem Auftrag schon seit Jahren auszuweichen versuchen. Zumindest scheint es mir kein Zufall zu sein, daß unsere Kritiker fast einhellig von „Verdrängung“ oder „bloßer Betroffenheitsrhetorik“ reden, wenn sie auf unsere Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu sprechen kommen.

In den Gesellschaften finden zwar regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt, um an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern; doch es ist bezeichnend, daß dabei häufig ganze Themenbereiche ausgeklammert werden. Es wäre beispielsweise wünschenswert, wenn die sogenannte „Theologie nach Auschwitz“, die gerade in den letzten Jahren wichtige neue Impulse erfahren hat,[5] in christlich-jüdischen Gesprächskreisen mehr Beachtung finden würde und aus ihrem rein akademischen Umfeld befreit werden könnte.

Zudem müssen wir im gemeinsamen Erinnern an den Holocaust auf die unterschiedlichen Perspektiven von Juden und Christen achten.[6] Denn wenn sich in Deutschland, dem Land der Täter, Christen auf die Seite der meist jüdischen Opfer stellen und sich mit ihnen solidarisch erklären, drängt sich der Verdacht auf, daß sie sich der eigenen Schuldgeschichte entledigen wollen. Im Vordergrund einer christlichen Selbstreflexion nach der Shoah darf daher weniger das Leid der Opfer stehen; für Christen liegt das eigentliche Problem vielmehr in der „Tat, die inmitten einer sich traditionell christlich nennenden Nation, mitten im ‚christlichen Abendland’ von christlich getauften, meist noch irgendwie christlich sozialisierten und oftmals nicht mal offiziell von ihrer Kirche abgefallenen Menschen verübt wurde.“[7]

Nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter müssen in unser Blickfeld kommen. Während in den ersten Nachkriegsjahren allgemein nur von der „Hitler-Clique“ gesprochen und nicht selten das „Dämonische“ der NS-Verbrecher hervorgehoben wurde, wird erst allmählich das eigentliche Ausmaß der Verbrechen und die große Anzahl der Beteiligten deutlich: Ärzte und Juristen, Wehrmachtssoldaten und Polizeibataillone und eben auch die „kleinen Leute“ und Schnäppchenjäger, die sich an dem „arisierten“ Besitz der Deportierten bereicherten, wie Wolfgang Dreßen in seiner Ausstellung „Aktion 3“, die erstmals 1998 im Düsseldorfer Stadtmuseum zu sehen war, deutlich machte.[8] Aber auch die Wissenschaft – und mit ihr die Theologie – hat ihre Unschuld verloren: Von der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel, deren Nachschlagewerke wie „Daten deutscher Dichtung“ und „Motive der Weltliteratur“ sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen,[9] bis zum Standardwerk für die Musikwissenschaft, dem Lexikon „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“.[10] Daß auch Theologen wie der protestantische Alttestamentler Johannes Hempel[14] und der katholische Dogmatiker Karl Adam[12] das NS-Regime offen unterstützt haben, ist zwar seit längerem bekannt; eine wirkliche Diskussion hat bisher allerdings noch nicht stattgefunden.[13] Was bedeutet es beispielsweise, daß sich katholischerseits vornehmlich die progressiven, als modern oder „modernistisch“ geltenden Theologen gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie aufgeschlossen zeigten? Und wie gehen wir mit der Tatsache um, daß ihre theologischen Konzepte – angefangen bei der für das „organische“ Denken der Nationalsozialisten äußerst anfälligen Vorstellung der Kirche als „Corpus Christi mysticum“ bishin zur liturgischen Bewegung – auch nach 1945 beträchtlichen Einfluß ausüben konnten.

Seit der Uraufführung des „Stellvertreters“ von Rolf Hochhuth gibt es zwar eine Diskussion um Pius XII., die aufgrund mehrerer neuer, teils unsachlicher Bücher wieder an Aktualität gewonnen hat,[14] doch um m. E. viel wichtigere Fragen haben wir uns bisher gedrückt: Welcher Düsseldorfer Pfarrer oder Pastor hat denn beispielsweise öffentlich gegen die Reichspogromnacht im November 1938 oder gegen die Deportationen protestiert? Gerade auf lokaler Ebene liegt noch viel im Dunkeln.

Die Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit, die auf christlicher Seite zu einem Anerkennen der eigenen Schuldgeschichte führen muß, wird daher auch weiterhin zu den Aufgaben des christlich-jüdischen Gesprächs gehören müssen: Freilich dürfen wir auch in Bezug auf die Geschichte der christlichen Judenfeindschaft nicht bei Themen wie dem schmerzhaften Trennungs- und Entfremdungsprozeß der Kirche von Israel, der Israel-Vergessenheit christlicher Theologie, der Ursprünge judenfeindlicher Vorurteile und Stereotypen und deren Tradierung in Predigt und Katechese etc. stehenbleiben. Ohne eine direkte Linie von Ambrosius oder Luther zu Adolf Hitler ziehen zu wollen, bleibt es eine historische Tatsache, daß der christliche Antijudaismus Bedingung und Voraussetzung für den nationalsozialistischen Judenmord war; der neuzeitliche Antisemitismus konnte nur deswegen so erfolgreich sein, „weil er die judenfeindliche Einstellung der Christen für seine Zwecke einkalkulierte und zu nutzen wußte“, wie es vor einigen Jahren die herausragende Studie eines deutschen theologischen Arbeitskreises formulierte.[15]

Die Düsseldorfer Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat von Anfang an die Verbindungen zwischen christlicher Judenfeindschaft und den modernen Formen des Antisemitismus thematisiert und dazu beigetragen, daß antijüdische „Vorurteilsmuster nicht mehr ohne weiteres gesellschaftsfähig sind.“[16] Trotzdem besteht weder ein Grund, die Hände in den Schoß zu legen, noch ein Anlaß, sich selbstzufrieden auf die eigenen Schultern zu klopfen. Viele Stereotypen haben sich trotz aller Anstrengungen von Seiten der Gesellschaften erhalten, auch wenn der Besucher eines christlichen Gottesdienstes in Deutschland wohl kaum mehr offen antijüdische Predigten hören wird. Das Thema der „Judenmission“ ist z. B. immer noch aktuell. Weiterhin existieren protestantische Gruppierungen, aber durchaus auch katholische Kreise, die wieder eine Bekehrung von Juden zum Christentum propagieren.[17] Aber selbst in einer dialogbereiten, den Anhängern der „Judenmission“ eher fernstehenden Theologie wie der feministischen Theologie werden sich alte oder neue Antijudaismen entdecken lassen.[18] Zudem habe ich mehr und mehr den Eindruck, daß sich einige, schon als überwunden geglaubte Vorurteile der christlichen Tradition in einer zunehmend säkularisierten Welt erhalten haben und dort weiterhin tradiert werden. Wer beispielsweise den neuen Genesiskommentar von Joseph von Westphalen zur Hand nimmt, der sich bewußt an ein nichtreligiöses Publikum wendet, wird feststellen müssen, daß auch diejenigen, die im sogenannten Alten Testament nur ein „Stück Weltliteratur“ sehen, antijüdischen Stereoytpen verfallen, freilich ohne deren ehemals christlichen Kontext zu erkennen.[19]

Obwohl inzwischen fast jede Buchhandlung Literatur über jüdische Geschichte, Kultur und Religion anbietet und beinahe monatlich eine Fülle von Neuerscheinungen dazukommt, sind die Kenntnisse über das Judentum allgemein noch immer sehr dürftig. Daß die ersten Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit von den Amerikanern im Rahmen ihres „re-education“-Programms gegründet wurden, kann uns daran erinnern, daß wir einem Bildungsauftrag nachkommen. Es liegen inzwischen zwar teils ganz hervorragende, überarbeitete Bücher für den Religionsunterricht vor, aber wir müssen uns fragen, was angesichts einer Zunahme von Kindern, die keiner Religionsgemeinschaft mehr angehören, in der Schule tatsächlich an Wissen vermittelt wird. Ich halte es für erschreckend, „wenn Schüler einer Klasse 12 an einem Gymnasium einmütig die Frage, wer denn Jesus verurteilt habe, mit ‚den Juden’ beantworten“, und teile Hubert Frankemölles Ansicht, daß es bei „historisch verbürgten Fakten anzusetzen“ gilt.[20]


Insbesondere die Lehrer und Lehrerinnen im Fach Geschichte sind hier m. E. gefordert: Denn die vorhandenen Lehrmittel beschreiben Juden fast ausschließlich als Opfer der Geschichte, und Formen der Judenfeindschaft werden häufig nur im Zusammenhang mit dem Holocaust behandelt.[21] Die Perioden gegenseitiger Annäherung und fruchtbaren Zusammenlebens – man denke nur daran, daß die Steinmetze des Wormser Doms auch am Bau der Synagoge mitgewirkt haben – sollten im Unterricht ebenso wenig ausgeblendet werden wie das lebendige Judentum der Gegenwart und die Gründung des Staates Israel. Damit würden wir uns von einer teleologischen Geschichtsauffassung trennen, die davon ausgeht, daß die deutsche Geschichte nach Dachau, Buchenwald und Auschwitz führen mußte.

Andererseits machten schon vor 35 Jahren Robert Raphael Geis und Hans-Joachim Kraus in ihrer Dokumentation zum christlich-jüdischen Gespräch vor 1933 darauf aufmerksam, daß wir der historischen Tatsache, daß die Geschichte von Juden und Christen in Deutschland zu Auschwitz geführt hat, nicht aus dem Wege gehen können. Wenn sie an die bekannten Religionsgespräche zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy oder zwischen Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt erinnerten, so war ihnen doch gleichzeitig bewußt, daß die Gesprächspartner größtenteils aneinander vorbei gesprochen hatten und es wirklich nur „Versuche des Verstehens“ geblieben waren. Erneut drängt sich die Frage auf: Wo stehen wir heute? „Sind wir heute einen Schritt vorangekommen? Oder sind es wieder die alten Fehler und Vorurteile, denen die Gesprächspartner verfallen?“[22]

Angesichts der gescheiterten Versuche der Vergangenheit ist man geneigt, eher pessimistisch zu antworten: Während die einen meinen, der christlich-jüdische „Dialog“ trete auf der Stelle und habe sich daher mehr oder weniger „überlebt“, erklären andere, daß ein wirkliches Gespräch noch überhaupt nicht begonnen habe und vermutlich auch gar nicht zu leisten sei. Beide Meinungen werden inzwischen nicht nur von „außen“ an die Gesellschaften herangetreten, sondern spielen zunehmend auch bei „internen“ Diskussionen eine Rolle. So meldete sich vor einigen Jahren der Geschäftsführer einer süddeutschen Gesellschaft bei einer Mitgliederversammlung des Deutschen Koordinierungsrates zu Wort und antwortete auf die Frage, wie für Nachwuchs geworben werden könne, daß seiner Ansicht nach das mangelnde Interesse Jugendlicher und jüngerer Erwachsener an der Arbeit der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit nur zeigen würde, daß diese ihre vor einem halben Jahrhundert gestellten Ziele inzwischen erfüllt hätten und sie daher längst überflüssig geworden seien. Ich teile diese Ansicht nicht. Viele Gesellschaften leiden zwar unter einer Überalterung und haben nur wenig Neuzugänge, doch ihre Arbeit bleibt weiterhin dringend notwendig. Aufgrund der umgreifenden Resignation möchte man daher allen christlichen und jüdischen Mitgliedern mit den Worten Rose Ausländers zurufen:

„Vergesset nicht

Freunde

wir reisen gemeinsam“[23]

Diese Zeilen einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, die am 11. Mai 2001 hundert Jahre alt geworden wäre, mag uns daran erinnern, daß sich die Gründerväter und –mütter der Düsseldorfer Gesellschaft ganz bewußt der christlich-jüdischen Zusammenarbeit und nicht nur dem Gespräch widmen wollten. Worten müssen auch Taten folgen!

Abschließend sei daher auf den Juden und Christen gemeinsamen ethischen Auftrag hingewiesen. Als Juden und Christen sind wir auf die „Epiphanie Gottes im Antlitz des anderen Menschen“, wie es einmal Lévinas ausgedrückt hat,[24] verwiesen: „Daß die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt, eben dies ist der Geist der jüdischen Bibel. Moses und die Propheten kümmern sich nicht um die Unsterblichkeit der Seele, sondern um den Armen, die Witwe, die Waise und den Fremden.“[25] Den Christen unter uns sollten diese Worte eine Mahnung sein. Angesichts von Armut, Krieg und Umweltverschmutzung sind Juden und Christen gleichermaßen aufgefordert, das biblische Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu erfüllen. Denn:

„Vergesset nicht

es ist unsre

gemeinsame Welt

die ungeteilte

ach die geteilte


die uns aufblühen lässt

die uns vernichtet

diese zerrissene

ungeteilte Erde

auf der wir

gemeinsam reisen“[26]

[1] Vgl. Heinz Kremers, Eigenart und Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs der Gegenwart vor seinem historischen Horizont, in: Das jüdisch-christliche Religionsgespräch, hrsg. von dems. und Julius H. Schoeps, Stuttgart / Bonn 1988, S. 9-20, hier S. 12.

[2] Vgl. den Beitrag von Hans Hermann Henrix in diesem Band.

[3] Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriffe und Probleme (1965), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1998, S. 164.

[4] Tiemo Rainer Peters, Die Katholische Kirche und der Holocaust. Erkanntes und Verdrängtes, in: „Räumet die Steine hinweg“. Beiträge zur Absage an die Judenmission, hrsg. von Siegfried von Kortzfleisch und Ralf Meister-Karanikas, Hamburg 1997, S. 99-118, hier S. 113.

[5] Vgl. beispielsweise Norbert Reck, Im Angesicht der Zeugen. Eine Theologie nach Auschwitz, Mainz 1998; Gregor Taxacher, Nicht endende Endzeit. Nach Auschwitz Gott in der Geschichte denken, Gütersloh 1998; Christologie nach Auschwitz. Stellungnahmen im Anschluß an Thesen von Tiemo Rainer Peters, hrsg. von Jürgen Manemann und Johann Baptist Metz, Münster 1998.

[6] Der im Druck befindliche Sammelband “Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah“, hrsg. von Katharina von Kellenbach, Björn Krondorfer und Norbert Reck, Darmstadt 2001, wird hierzu wichtige Anregungen geben können.

[7] Gregor Taxacher, a. a. O., S. 41. Vgl. auch Paul Petzel, Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen. Eine erkenntnistheologische Studie, Mainz 1994, S. 241 ff.

[8] Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dreßen, Berlin 1998.

[9] Vgl. Florian Radvan, “...Mit der Verjudung des Deutschen Theaters ist es nicht so Schlimm!” Ein kritischer Rückblick auf die Karriere der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel, in: German Life and Letters – 54 (2001), S. 25-44.

[10] Vgl. Roman Brotbeck, Verdrängung und Abwehr. Die verpaßte Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, in: Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, hrsg. von Anselm Gerhard, Stuttgart / Weimar 2000, S. 347-384.

[11] Vgl. Cornelia Weber, Altes Testament und völkische Frage. Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel von Johannes Hempel, Tübingen 2000.

[12] Vgl. demnächst Lucia Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001.

[13] Als Grundlage einer Diskussion könnte nun der folgende Sammelband dienen: Theologische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Ein ökumenisches Projekt, hrsg. von Georg Denzler und Leonore Siegele-Wenschkewitz unter Mitarbeit von Vicco von Bülow, Frankfurt am Main 2000.

[14] John Cornwell, Pius XII. Der Papst der geschwiegen hat, München 1999; Pierre Blet, Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg. Aus den Akten des Vatikans, Paderborn 2000; Michael F. Feldkamp, Pius XII. und Deutschland, Göttingen 2000; Martin Greschat, Die Rolle des Vatikans in der NS-Zeit, in: Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend. „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, hrsg. von Hubert Frankemölle, Paderborn / Frankfurt am Main 2001, S. 79-98.

[15] Vgl. Antisemitismus, Schoa und Kirche. Studie eines theologischen Arbeitskreises, in: Freiburger Rundbrief – N. F. 6 (1999), S. 262-279, hier S. 266.

[16] Berndt Schaller, Zukünftige Aufgaben der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, in: Der Dialog zwischen Juden und Christen. Versuche des Gesprächs nach Auschwitz, hrsg. von Hans Erler und Ansgar Koschel, Frankfurt am Main / New York 1999, S. 234-244, hier S. 234.

[17] Zur Problematik vgl. nur Hans Hermann Henrix, Dialog, nicht Proselytenmacherei. Zur Frage der Judenmission, in: Stimmen der Zeit – 118 (1993), S. 679-690; sowie die EKD-Studie „Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum“, Gütersloh 2000, S. 47 ff.

[18] Vgl. nur Irmtraud Fischer, Auch Frauen stehen in der problematischen Tradition: Antijudaismus in der Feministischen Theologie, in: In Verantwortung vor der Geschichte. Besinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums, hrsg. von Gerhard Höver, Bonn 1999, S. 59-71; sowie Leonore Siegele-Wenschkewitz, Frauen und Ethik – Die Diskussion um Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im jüdisch-christlichen Gespräch von Frauen, in: Der Dialog zwischen Juden und Christen..., a. a. O., S. 305-321.

[19] Das erste Buch Mose, genannt Genesis, eingeleitet von Joseph von Westphalen, Frankfurt am Main 2000. Zu diesem und anderen „postchristlichen“ Bibelkommentaren vgl. Michael Brocke, Suhrkamp und Fischer schenken uns das Alte Testament neu, in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut – 3 (2000), Heft 4, S. 9-11.

[20] Hubert Frankemölle, Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend? Thesen und Impulse, in: Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend..., a. a. O., S. 273-297, hier S. 286.

[21] Vgl. Martin Liepach, Deutsche Schulbücher im Zwielicht, in: LBI-Information (= Nachrichten aus den Leo Baeck Instituten in Jerusalem, London, New York und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LBI in Deutschland) – 9 (2001), S. 117-122.

[22] Vgl. das Vorwort der beiden Herausgeber, in: Versuche des Verstehens. Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918-1933, hrsg. von Robert Raphael Geis und Hans-Joachim Kraus, München 1966, o. S.

[23] Rose Ausländer, Gemeinsam, in: Dies., Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977-1979 (Gesammelte Werke in sieben Bänden, hrsg. von Helmut Braun, Band 5), Frankfurt am Main 1984, S. 73.

[24] Emmanuel Lévinas, Exegese und Transzendenz. Zu einem Text aus dem Traktat Makkoth 23 b, in: Ders., Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg im Breisgau / München 1981, S. 35-44, hier S. 41.

[25] Emmanuel Lévinas, Eine Religion für Erwachsene, in: Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt am Main 1992, S. 21-37, hier S. 32. Gänz ähnlich formuliert es auch Leo Baeck in: Dieses Volk. Jüdische Existenz (Teil I), Frankfurt am Main 1955, S. 126.

[26] Rose Ausländer, a. a. O., ebenda.

Editorische Anmerkungen

Veröffentlicht in: 50 Jahre Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Düsseldorf e.V. (Festschrift), Düsseldorf 2001, S. 77-83.