Ursprung und Blüte des Reformjudentums

Obwohl Israel Jacobsons für den Bereich der Bildung Entscheidendes geleistet hat, war er unter Zeitgenossen eine umstrittene Persönlichkeit, die Plaut hier in ihrem historischen Kontext skizziert.

W. Gunther Plaut

Ursprung und Blüte des Reformjudentums

Wenn immer wir einen Geburtstag feiern, tun wir es, weil gestern und heute etwas Gemeinsames haben. Entweder sind wir am Subjekt interessiert oder das Vergangene und das Heutige haben eine gegenseitige Beziehung. Wir, die hier von fern und nahe zusammengekommen sind, können daher mit ganzem Herzen feiern, weil beides zutrifft. Denn einerseits sind wir alle am Jubilar interessiert, d. h. dem Reformjudentum, und darüber hinaus hat das Jahr 1801 etwas Wichtiges mit dem Jahr 2001 zu tun.

1801 war eine Zeit politischer, wirtschaftlicher und philosophischer Umwälzung. Politisch: Deutschland bestand aus vielen unabhängigen Staaten und Städten, die oft miteinander stritten, und ein französischer General mit Namen Napoleon Bonaparte drohte, sich deutsche Provinzen wie Westfalen anzueignen, sodass auch Halberstadt zeitweilig französisch wurde. Die Ökonomie schwankte zwischen sehr gut und sehr schlecht, und ein Gefühl der Unsicherheit hing wie eine dunkle Wolke über dem Land.

Dazu kam noch ein anderes: Traditionen, die gestern noch heilig waren, wurden in Frage gestellt. Erlaubt und Verboten, Ja und Nein, waren nicht mehr klar voneinander zu trennen – die französische Revolution war ansteckend, das Zeitalter der Aufklärung und Romantik war in vollem Schwung.

In mancher Hinsicht ähnelt das unserer heutigen Zeit, und vielleicht besonders in diesem Land, wo die letzten drei Generationen so viel erlebt haben. In meiner eignen Lebenszeit, die 88 Jahre des 20. Jahrhunderts umfasst, sah ich, wie Deutschland den größten Umwälzungen ausgesetzt war: zwei Weltkriege, von Monarchie zu Republik und Demokratie, zur Nazi-Regierung und Nachkriegserneuerung. Mit dem Ersten Weltkrieg sind die alte Gewissheit und Sicherheit, welche die vorangehenden Jahrzehnte auszeichneten, verschwunden, als ob sie nie existiert hätten. Politik und Wirtschaft, Gottesglaube und Moralität konnte man früher mit einiger Sicherheit beschreiben , aber heute sind es stattdessen Unsicherheit, Zweifel und Kontroverse, die wir nur allzu gut kennen und praktizieren. Was Goethe im Faust sagen konnte: „Ein Komödiant könnt" einen Pfarrer lehren“ könnte ebenso unsere heutige Zeit beschreiben. Kinder wissen alles besser als ihre Eltern; die Achtung, die einstmals der älteren Generation erwiesen wurde, ist auch verschwunden. In Nordamerika wird jeder Mensch älter, aber keiner wird alt, denn alt werden heißt, sich zu einer Unterklasse zu bekennen. Wenn dieser Zustand Ihnen in Deutschland hoffentlich noch unbekannt ist, sind Sie noch gut dran, aber wahrscheinlich nicht mehr sehr lange.

Und so war es um die Jahrhundertwende vor 200 Jahren. Unsere Religion, die uns hier zusammenbringt, erlebte damals eine Revolution. Tradition wurde nicht mehr als unbedingt bindend angesehen, aufgeklärte Juden fanden die alten Gebräuche veraltet und unbrauchbar für die neue Zeit und ihre Forderungen. Sie besuchten zum ersten Mal Gottesdienste in protestantischen und katholischen Kirchen und bewunderten die Ordnung und den Anstand, die dort herrschten. Sie hörten nicht nur wie eine große Orgel Johann Sebastian Bach intonierte, sondern auch einen vielstimmigen Gemeindegesang, den die Synagoge nicht kannte. Den größten Eindruck aber machte die deutsche Predigt, die der Gemeinde moralische Richtung geben konnte, etwas, das im bet ha-Knesset vollständig fehlte.

Nun sind Juden schon immer gute Studenten gewesen: sie lernten schnell und wünschten, solche Neuerungen auch in ihrem eigenen Bereich einführen zu können. Aber sobald sie es versuchten, wurden sie vom traditionellen Establishment angegriffen und verurteilt. Alle ihre Reformversuche wurden als chukat ha-goj1erklärt und daher strengstens verboten. Die Orgel wurde als das bête noire der neu geborenen Reformbewegung verleumdet. Das Argument war nicht, dass man sie nicht am Schabbat spielen durfte – das konnte man einem nichtjüdischen Organisten kaum vorenthalten – es war gojisch, kurz und bündig und daher verboten. Dabei vergaßen die Rabbiner, die wenig Geschichte kannten, dass das Judentum oft von anderen Religionen und Kulturen gelernt hatte.

Ich will nur zwei wichtige Beispiele geben. Das Käppchen, das man heutzutage als grundlegend jüdisch betrachtet, wurde erst im späten Mittelalter populär. Es war eine Kopie geistlicher Kopfbedeckung, wie es das in Nordamerika gebräuchliche Wort jarmulke noch bezeugt, das vom kirchenlateinischen herkam.

Ein zweites Exempel ist eine der wichtigsten Riten des jüdischen Lebens, nämlich die Jahrzeitfeier, die in alten Zeiten unbekannt war; sie wurde von der katholischen Kirche übernommen.

Die ersten Reformen folgten also ehrwürdigen Beispielen, wofür sie nicht zu verachten, sondern zu bewundern sind. Dazu kam etwas anderes, von dem wir auch heute noch lernen können: die Väter der Reform sahen ihre Neuerungen nicht als Revolution an. Im Gegenteil! Für Jacobson, Geiger2 und Holdheim3 war Reform das wirkliche Judentum und nicht nur eine Partei oder gar eine Sekte. Tatsache war, dass sich die jüdische Praxis versteinert hatte und leblos geworden war, unfähig moderne Juden an ihre Religion zu fesseln und dabei die Aufklärung auch in die jüdische Welt einzuführen.

Reform wurde von ihren Gegnern als Assimilation verpönt – sie war das Gegenteil! Sie wollte sich der jüdischen Ignoranz widersetzen; sie wollte die Flucht vom Judentum aufhalten – und tat es mit gutem Erfolg. Die Armen wurden von ihnen nicht vernachlässigt. Jacobsons Religions- und Industrieschule wurde im westfälischen Braunschweig eröffnet. Im Gottesdienst wurden unverständliche pijutim4abgeschafft, und deutsche Gebete, sowie die Konfirmation für Knaben und Mädchen eingeführt. Der Halberstädter Israel Jacobson, ein reicher Mann, beseelt von prophetischer Einsicht und Energie, war der Spiritus Rector jüdischer Erneuerung.

Erlauben Sie mir, dass ich diese geschichtlichen Tatsachen mit persönlichen Erinnerungen umrahme. Ich bin in Westfalen geboren und stamme aus einer orthodoxen Familie in Münster, wuchs aber in Berlin auf, wo mein gelehrter Vater der Gründer einer Reformgemeinde wurde. Das liberale Judentum, wie es hieß, war für mich das wirkliche Judentum, und die Mehrzahl deutscher Juden teilte diese Auffassung. Wir verstanden den Liberalismus nicht als „links“ sondern als „Zentrum“: in meiner Familie wurde nur koscher gegessen; wir lasen jüdische Zeitungen und Bücher und gingen jeden Schabbat zur Synagoge.

Ich lernte schon damals, mich mit Israel Jacobson zu identifizieren, und konnte nicht vorhersehen, das mich das Schicksal zwei Mal in diesen Teil des alten Westfalen zurückführen würde. Wie Sie sicherlich wissen, war Braunschweig vor 200 Jahren ein Teil des Königreichs Westfalen, und es wurde zum Ort erneuerter jüdischer Geschichte. Es war auch in Braunschweig, wo die erste Rabbinerkonferenz im Jahre 1844 gehalten wurde, eine Konferenz, welche die Grundlagen unserer Religion wieder belebte.

Darf ich noch eine andere persönliche Erinnerung hinzufügen. Im Jahr 1945, während des 2. Weltkriegs war ich Kaplan der amerikanischen Armee, die Deutschland von der Nazi-Tyrannei befreite. Wir kämpften nicht weit von hier und fanden uns eines düsteren Tages in Nordhausen, wo wir das Konzentrationslager Dora mit viertausend Toten entdeckten. Es war meine unvergessliche Aufgabe, die Toten zu begraben. Was ich dort erlebte, wurde für mich eine Erfahrung, die meinen Gottesglauben zeitweilig verwirrte und mich zwang, die Grundlagen meiner persönlichen Religion zu erneuern. Es ist daher eine besondere Ehre für mich, an dieser Konferenz teilnehmen zu können. Ich habe nicht nur die Grundlagen des Reformjudentums von meinem Vater gelernt, ich habe sie in meiner eigenen Entwicklung zur Blüte gebracht. Es war kein einfacher gerader Weg, da waren viele Probleme zu lösen.

So war es auch mit dem liberalen Judentum vor zweihundert Jahren. Es war nicht einfach, sich mit der veralteten Religion auseinander zu setzen. Doch wir taten es damals und machten den Liberalismus zum Mittelpunkt deutsch-jüdischer Existenz. Natürlich war dieser Erfolg nicht auf die Grenzen des Landes beschränkt; die liberale Revolution dehnte sich langsam aber sicher über ganz Europa aus, und als einige Reformrabbiner nach Amerika auswanderten, eroberte sie auch die neue jüdische Welt. In dem Sinn darf ich sagen, dass ich ein Kind dieser Entwicklung bin: im deutschen und europäischen Liberalismus geboren, brachte ich ihn mit mir nach Nordamerika und bringe ihn jetzt zurück an den Ort, wo ihr Gründer geboren wurde.

Es ist ein Kreis, der in gewisser Hinsicht uns alle hier charakterisiert. Jeder von uns hat eine persönliche Wanderung gemacht. Wir sind hier, nicht nur, um über alte Zeiten zu reden, sondern um unsere Zukunft zu sichern. Ich möchte glauben, dass der Titel meiner Ansprache „Ursprung und Blüte des Reformjudentums in Europa“ eine Beschreibung der Wirklichkeit von heute ist. Wir stehen jetzt an einem Wendepunkt unserer religiösen Geschichte. Wie Israel Jacobson müssen wir an die Notwendigkeit des liberalen Judentums glauben und danach handeln. Wir sind der wirkliche Kern der Zukunft. Sie gehört uns, wenn wir sie mutig erfassen. Ken jehi razon.5

ANMERKUNGEN

 

  1. chukat ha-goj, etwa: heidnische Gebräuche.
  2. Abraham Geiger (1810 – 1874). Rabbiner. Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Ab 1872 Dozent an der von ihm mitgegründeten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin.
  3. Samuel Holdheim (1806 – 1860). 1836 Rabbiner in Frankfurt/O.; 1840 Landesrabbiner in Mecklenburg; seit 1847 Rabbiner der Reformgemeinde in Berlin. Er gehört zum radikalen Flügel der Reform, u. a. führte er in seiner Gemeinde den Gottesdienst am Sonntag ein
  4. pijutim: religiöse Dichtungen
  5. Ken jehi razon: Sei es sein Wille!

Editorische Anmerkungen

© Copyright 2001 Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 3, 2001.

Mit freundlicher Erlaubnis.