Unterwegs zum Königtum Gottes

Robert Raphael Geis’ Engagement im christlich-jüdischen Dialog. Wie kaum ein anderer hat der von den Nazis vertriebene Rabbiner Robert Raphael Geis nach dem Zweiten Weltkrieg erneut das Gespräch zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland gesucht.

Susanne Schütz

Unterwegs zum Königtum Gottes

Robert Raphael Geis’ Engagement im christlich-jüdischen Dialog

Wie kaum ein anderer hat der von den Nazis vertriebene Robert Raphael Geis nach dem Zweiten Weltkrieg erneut das Gespräch zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland gesucht. Insbesondere sein Einsatz für den christlich-jüdischen Dialog im Schatten der Shoa waren und sind für das Gespräch zwischen den beiden Religionen von prägender Bedeutung.

Rabbiner Robert Raphael Geis (1906-1972), von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben, kehrte Anfang der 50er Jahre in die Bundesrepublik zurück. Bis zu seinem Lebensende führte er – mit wohl einmaliger Intensität – das Gespräch mit nichtjüdischen Deutschen. Der jungen Generation brachte er auf ungezählten Veranstaltungen die Geschichte und das religiöse Selbstverständnis des Judentums nahe und hielt ihr ihre Verantwortung für die Zukunft vor Augen. Auch den Älteren, den Angehörigen der Kriegsgeneration, hörte er zu, wenn sie von der Last des Gewissens gedrückt, das Gespräch mit dem Rabbiner suchten. Vor allem aber engagierte er sich ab 1961 mit großem persönlichen Einsatz für den Neubeginn des christlich-jüdischen Dialogs in der Bundesrepublik. Als Mitglied der "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" stieß er bei seinen christlichen Mitstreitern, etwa Hans-Joachim Kraus, Helmut Gollwitzer oder Friedrich-Wilhelm Marquardt, Lernprozesse an, die deren Verständnis des Judentums nachhaltig prägten.

Geis wurde am 4. Juli 1906 in Frankfurt a. M. geboren. Gemeinsam mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Ilse wächst er in einem sehr wohlhabenden, vollständig assimilierten jüdischen Elternhaus auf. Die jüdische Herkunft wird dem jungen Geis erst bewußt, als er während eines Ferienaufenthaltes bei seinen Großeltern in Kassel den Großvater – einem frommen – Juden, in die Synagoge begleiten darf. Das synagogale Zeremoniell, die Gesänge und der feierlichen Ernsthaftigkeit des Gottesdienstes beeindrucken das Kind nachhaltig. Die Hinwendung des Heranwachsenden zum Judentum und seine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft führen immer wieder zu heftigen Konflikten mit dem Vater und belasten das Verhältnis der beiden ein Leben lang.

Geis’ Berufswunsch steht früh fest. Er will Rabbiner der jüdischen Reformbewegung werden. Im Jahr 1925 beginnt er sein Studium an der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" in Berlin. Er nimmt aber nicht nur sein jüdisches Erbe bewusst auf, sondern auch das deutsche. Parallel zu seiner theologischen Ausbildung studiert er an der Berliner Universität Neuere Geschichte. 1926 absolviert er ein Studienjahr an der Universität und am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau. Zu seinen Lehrern zählen Leo Baeck, Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Harry Torczyner. Auch zu dem Kreis um Martin Buber und Franz Rosenzweig hält Geis enge Verbindung.1 Am 27. Januar 1930 promoviert er zum Dr. phil. an der Universität Köln. Thema seiner Dissertation ist "Der Sturz des Reichskanzlers Caprivi". Am 6. März 1932 legt er die wissenschaftliche Rabbinatsprüfung in Berlin ab und erhält offiziell die "Befähigung als Rabbiner, Prediger und Religionslehrer" zu wirken.

Schon im folgenden Monat tritt Geis seine erste Stelle als Jugendrabbiner in München an. Es gelingt ihm schnell, die jüdische Jugend für sich zu gewinnen. Harry Maor, einer seiner Schüler, erinnert sich an ihn als einen charismatischen Lehrer, dessen Religionsstunden, in denen auch über aktuelle Themen wie Zionismus, Atheismus und Sozialismus diskutiert wurde, den Jugendlichen "Religion"2 gewesen seien. Als überzeugter Zionist und politisch der Sozialdemokratie nahestehend gerät Geis aber bereits nach kurzer Zeit in Konflikt mit dem politisch konservativen Gemeindevorstand. Seine kompromisslose Haltung in religiösen Fragen belastet das Verhältnis zusätzlich. Rückblickend stellt Maor fest, dass Geis’ "Radikalismus auf vielen Gebieten, ein Mangel an Ehrfurcht gegenüber abgestorbenen Traditionen ... ihn damals in München zur Zielscheibe von Angriffen ... gemacht (haben)."3 Im Mai 1934 kündigt Geis seine Stellung und wechselt als Stadtrabbiner nach Mannheim. Doch auch hier gerät er in Streit mit dem Gemeindevorstand, da er nicht bereit ist, sich um seiner Anstellung willen auf religiöse oder inhaltliche Kompromisse einzulassen. Ende Mai 1937 beendet er seine Tätigkeit in Mannheim.

Angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland erkundet Geis ab 1933 die Möglichkeiten der Emigration nach Palästina. Doch die Auswanderungspläne lassen sich nicht realisieren. So bewirbt er sich weiterhin auf Rabbinerstellen in Deutschland und nimmt schließlich eine Berufung als Land- und Gemeinderabbiner von Kurhessen und Kassel an. In Kassel lebt sich Geis sehr gut ein, von seiner Gemeinde wird er hoch geschätzt. Seine Tätigkeit dort endet jedoch jäh am 9. November 1938. Er wird zusammen mit den männlichen Mitgliedern der Gemeinde verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Erst nach dem Erhalt der Zusicherung eines Visums für Palästina wird er am 7. Dezember aus dem Konzentrationslager entlassen. Am 5. Februar 1939 verläßt Geis Deutschland mit dem Ziel Palästina. Er fährt zunächst nach Paris, wo er seine Schwester Ilse Feldmeier besucht. Es ist ein letztes Wiedersehen. Die Schwester, deren Mann und das gemeinsame Kind werden 1942 in Auschwitz ermordet.

Am 20. Februar 1939 trifft Geis fast mittellos und ohne eine berufliche Perspektive in Palästina ein. Die Landessprache, Iwrit, beherrscht er kaum. Er wohnt, jeweils für einige Wochen oder Monate, bei verschiedenen Freunden. Seinen Beruf als Rabbiner kann er nicht ausüben. Benjamin Maoz, bei dessen Familie Geis viele Monate lebt, bringt das Problem auf den Punkt: "Er hatte einen Beruf: liberaler Rabbiner, und das war damals in Palästina und ist heute in Israel kein Beruf. Dort kann nur ein orthodoxer Rabbiner arbeiten."4 Geis’ Plan, die akademische Laufbahn fortsetzen zu können, läßt sich nicht verwirklichen. Vergeblich bemüht er sich um eine Stelle an der Hebräischen Universität. In den folgenden Jahren arbeitet er als Privatgelehrter; erst 1942 kann er als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hebräischen Universität etwas Geld verdienen. Ihm machen aber nicht nur die schwierigen Lebensbedingungen zu schaffen. Auch sein zionistisches Ideal wird von der harten Wirklichkeit Palästinas erschüttert: Im Nationalismus – auch im jüdischen – erkennt er eine "Zeitkrankheit von unvorstellbarem Ausmaß."5 Von Februar 1944 an arbeitet Geis als Redakteur und Nachrichtensprecher bei "Psychological Warfare Branch" in Jerusalem, einem Radiosender, der bis zum Kriegsende deutschsprachige Nachrichten in den Mittelmeerraum ausstrahlte. In Jerusalem lernt er die ebenfalls mit ihrer Familie aus Deutschland emigrierte Susanne Landshut kennen, die er im Februar 1945 heiratet.

Als nach dem Ende des Krieges die Berichte über das unvorstellbare Ausmaß der Verbrechen in den Konzentrationslagern und die schwierige Situation der Überlebenden in den DP-Camps (Displaced Persons) nach Palästina dringen, fasst Geis den Entschluss, so schnell wie irgend möglich nach Deutschland zurückzukehren um den Überlebenden in den Lagern beizustehen.6 Er wendet sich an die "World Union for Progressive Judaism" in London, die das Ehepaar Geis zunächst nach England kommen läßt. Im Juni 1946 erreichen sie London. Doch der Plan, im Auftrag der World Union nach Deutschland reisen zu können, scheitert, weil das Ehepaar nicht dem Wunsch der World Union entsprechen will, getrennt voneinander in verschiedenen deutschen Städten zu arbeiten. Die weiteren Stationen der Eheleute Geis sind die Schweiz und Holland. Doch weder in Zürich, wo Geis eine Anstellung als Lehrer und Vorbeter bekommt, noch als Rabbiner der liberalen Emigrantengemeinde in Amsterdam gelingt es ihm, sich auf Dauer einzurichten. Im Frühjahr 1952 ist schließlich die Rückkehr nach Deutschland möglich: Geis wird zum Landesrabbiner von Baden mit Sitz in Karlsruhe berufen.

Bemühungen um einen Lehrauftrag an einer deutschen Universität

Parallel zu seiner Tätigkeit als Rabbiner strebt Geis einen Lehrauftrag an einer deutschen Universität an. Bereits im Januar 1950 hatte er von Amsterdam aus einen Brief an Theodor Heuss gesandt. In diesem Schreiben versucht er den Bundespräsidenten von der Notwendigkeit zu überzeugen, Lehrstühle für jüdische Geistesgeschichte an deutschen Universitäten einzurichten. Die Erziehung der akademischen Jugend zu einem besseren und vorurteilsfreiem Verständnis des Judentums sieht er als wesentliche Voraussetzung für die anstehende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und für die künftige Gestaltung eines deutsch-jüdischen Miteinanders. Er begründet seine Forderung mit dem Hinweis, dass eine "Konfrontation des deutschen mit dem jüdischen Menschen"7 mangels jüdischer Gesprächspartner in absehbarer Zeit fast unmöglich sei. In einem etwa acht Wochen später in der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" unter dem Titel "Geistige Wiedergutmachung" veröffentlichten Artikel, in dem sich Geis kritisch mit der Heuss-Rede vom 7.12.1949 über die "Kollektivscham" auseinandersetzt, greift er seine Forderung noch einmal auf. Die Berufung jüdischer Wissenschaftler auf entsprechende Lehrstühle bezeichnet er als "Gelegenheit zur Wiedergutmachung aus eigener Initiative".8 Zu seiner großer Enttäuschung bleiben seine Bemühungen um einen Lehrauftrag lange Zeit erfolglos. Eine Lehrtätigkeit kann er lediglich im Rahmen des studium generale in Freiburg ausüben, wo er Vorlesungen über jüdische Religionsgeschichte hält. In Heidelberg trifft er sich regelmäßig mit einer kleinen jüdischen Studentengruppe, die sich aus Amerikanern und Israelis zusammensetzt. Eine Gruppe katholischer Jungakademiker lädt ihn wiederholt zu Vorträgen nach Bonn ein. Geis, dem die Lehrtätigkeit am Herzen liegt, verlagert seine Ambitionen zwangsläufig auf den außeruniversitären Bereich: Im Verlauf der sechziger Jahre entwickelt er eine intensive Vortragstätigkeit im Rahmen der christlich-jüdischen Begegnung. Doch diese Tätigkeit bringt ihm nicht die berufliche Erfüllung. In einem Brief an Dietrich Goldschmidt schreibt er 1963:

"Man kann nicht auf Lebenszeit von Vortrag zu Vortrag hetzen. Es ist nicht nur anstrengend, es wird auch sinnlos, weil ja zu jeder pädagogischen Aufgabe die Dauer gehört. Man muss überprüfen können, ob man’s richtig macht, ob man im Lebendigen steht."9

Als Landesrabbiner von Baden

Die Situation der Karlsruher Gemeinde im Jahr 1952 ist typisch für die jüdischen Gemeinden in den ersten Jahrzehnten nach der Schoa. Zahlenmäßig dominierten Juden osteuropäischer Herkunft, ehemalige DP’s, das Gemeindeleben. Für diese – vor allem aus Polen stammenden – Menschen gab es keine Rückkehr in die Heimat, da der Antisemitismus in diesen Ländern nach wie vor bedrohlich war. Sie blieben in der Bundesrepublik, weil sie entweder zu alt oder zu krank waren, um sich eine neue Existenz in Israel oder den USA aufbauen zu können. Ihrer deutschen Umwelt standen sie fremd und ablehnend gegenüber. Den wenigen deutschen Juden begegneten sie mit Misstrauen und Verachtung. Während diese Gruppe das religiöse Leben bestimmte und eine Änderung der religiösen Praxis zum osteuropäisch-orthodox geprägten Ritus bewirkte, stellten die wenigen deutschen Juden die Funktionsträger. Susanne Geis erinnert sich, dass die etwa 130 Mitglieder zählende Gemeinde in Karlsruhe bis auf drei deutsche Juden (den ersten Vorsitzenden, den zweiten Vorsitzenden und den Gemeindesekretär) ausschließlich aus osteuropäischen DP’s bestand. Gemeinsam mit seinen Kollegen Siegbert Neufeld und Zwi Harry Levy gründet Geis 1952 die Landesrabbinerkonferenz. Damit ist ein erster Schritt in Richtung einer Länder übergreifenden Reorganisation des religiösen Lebens der Juden in Deutschland getan.10

Geis’ Arbeit auf Gemeindeebene bleibt allerdings ohne Erfolg. Von den osteuropäischen Juden wird Geis – der das deutsche Judentum in Person verkörpert – abgelehnt. Rückblickend stellt Susanne Geis fest, dass die Hoffnung, etwas bewirken zu können, "eine Wunschvorstellung (war), die sich nicht realisieren ließ, weil mein Mann natürlich auch überhaupt nicht realisiert hatte – vorher – wie es in Deutschland nun aussah. Er kam also zunächst mal mit großem Enthusiasmus und der Vorstellung, er würde sich da groß einsetzen können. Aber er wurde ja als ehemaliger Deutscher dann auch wieder abgelehnt von den osteuropäischen Juden. Das war auch ein Problem."

Einen jüdischen Freundeskreis hat die Familie Geis nicht. Der Rabbiner und Intellektuelle, der sich mit religiösen und ethischen Fragen beschäftigt, findet innerhalb der Gemeinde kein entsprechendes Gegenüber. Für die Gemeindemitglieder steht die Sicherung der Existenz im Vordergrund, nicht die Beschäftigung mit religiösen Fragen. Auf die Bitte von Theodor Heuss, Geis möge als offizieller Repräsentant des Judentums in der Bundesrepublik fungieren, reagiert er ablehnend. Seine Antwort an den Bundespräsidenten: "Hier gibt es nichts mehr zu vertreten"11, läßt die ganze Einsamkeit des im deutschen Judentum beheimateten Geis erahnen und zeigt zugleich seinen Unwillen, sich auf Funktionärsebene für repräsentative Zwecke einspannen zu lassen. Er will nicht repräsentieren, was nicht mehr zu repräsentieren ist. Im Laufe der Zeit wird ihm das Rabbineramt zur untragbaren Belastung. Ende Juni 1956 legt er schließlich sein Amt nieder; um eine neue Rabbinerstelle bemüht er sich nicht. Sein Engagement für die jüdische Gemeinschaft findet nur noch auf privater Ebene statt; als Vorbeter und Prediger amtiert er sporadisch zu den Hohen Feiertagen. Seine Hoffnung, an die deutsch-jüdische Tradition, wie es sie vor der Schoa gegeben hatte, anknüpfen zu können und so zum Aufbau jüdischen Lebens in der Bundesrepublik beizutragen, hatte sich als Illusion entpuppt.

Geis’ Selbstverständnis als deutscher Jude

Geis’ Konflikte mit der Karlsruher Gemeinde werfen die Frage nach seinem Selbstverständnis in Anbetracht der persönlich erlittenen Verfolgung, des Verlustes von Familienangehörigen und des millionenfachen Judenmordes auf. Festzuhalten ist, dass die von Geis verinnerlichte Synthese aus Deutschtum und Judentum ihn auch nach den nationalsozialistischen Verbrechen an seiner deutsch-jüdischen Identität festhalten läßt. In einer Betrachtung zum Purim-Fest 1965 schreibt er: "Es gibt nämlich noch immer ein Häuflein deutscher Juden, denen die Liebe zu diesem rätselvollen Land selbst nach den unsagbar fürchterlichen Hitlerjahren nicht erstorben ist".12 In seinem 1957 erstmals veröffentlichten Aufsatz "Von Deutschlands Juden" bringt Geis sein Selbstverständnis mit einem Zitat von Franz Rosenzweigs auf den Punkt: "Sollte man mich zwingen wollen, mein Deutschtum von meinem Judentum zu trennen, so würde ich diese Operation nicht lebend überstehen."13

Sein durch die nationalsozialistische Herrschaft aus der Bahn geworfener Lebensweg, sein vergebliches Bemühen im akademischen Lehrbetrieb Fuß zu fassen und schließlich sein Rückzug aus dem Rabbineramt können als äußere Gründe für die Verlagerung seines Wirkungsfeldes in Richtung jüdisch-christlicher Dialog gesehen werden. In christlichen Kreisen, insbesondere unter den Mitgliedern der Bekennenden Kirche findet er Menschen, die, angestoßen durch das Entsetzen über die Schoa, eigene Glaubenstraditionen kritisch zu hinterfragen bereit sind und die darüber hinaus zu einem neuen, besseren Verständnis des Judentums vordringen wollen.

Die theologische Interpretation der Schoa

Im Jahr 1950 hält Geis eine Gedenkrede für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Kassel. Zu Beginn dieser Ansprache gewährt er einen Einblick in seine persönlichen Empfindungen. Er spricht von dem übergroßen Schmerz, für den nicht das Wort, sondern "der Schrei, der gellende Schrei ... allein Ausdruck wäre".14 Dem maßlosen Grauen versucht Geis mit einer theologischen Interpretation zu begegnen, die das Geschehene in einen Sinn stiftenden Gesamtzusammenhang einbetten soll. Bemerkenswert ist allerdings, dass er nicht den Versuch unternimmt, sich mit der Frage nach dem "Warum?" in einer ausschließlich diesem Thema gewidmeten Veröffentlichung auseinanderzusetzen; er entwickelt keine breit angelegte "Theologie des Holocaust", sondern deutet den nationalsozialistischen Judenmord im Rahmen des traditionellen jüdischen Geschichtsverständnisses, das Geschichte als Heilsgeschichte interpretiert. Zentrales Motiv dieser Deutung ist die Erklärung des Leides "um Gottes willen" (kiddusch haschem). Seine Deutung kann nur als zaghafter Annäherungsversuch an eine theologisch-theoretische Einordnung der Schoa verstanden werden, die aber menschlich nicht befriedigen kann. Sie entspringt dem Wunsch, dem Unfassbaren einen Sinn abzuringen, es in einen sinnvollen, heilsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang zu integrieren. Susanne Geis schildert, dass Geis zeitlebens vor der Unerklärbarkeit des Grauens, das sich jedem menschlichen Verstehen entzieht, gestanden habe.

Auf die Überlebenden der Schoa wendet Geis die biblischen Bezeichnungen "Rest Israel" (scheerith jissrael) und "Heiliger Samen" (sera hakodesch) an.15 Was diese Begriffe seit biblischen Zeiten bedeuten, beschreibt er in seinem Aufsatz "Gottesbund und auserwähltes Volk". Bei dem "Rest" handele es sich um den Teil des Volkes, der die göttlichen Strafgerichte überlebt, um – von Sünden geläutert – den Bund fortzuführen. Er schreibt:

"Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass viele verworfen, wenige aufgehoben werden. Das ist keine theologische Theorie, sondern eine Erfahrung in der ganzen Breite des Daseins, mit ihr rechnet man ... Es ist kein Zufall, wenn die jüdische Heilsgeschichte sich in der Subtraktion und nicht in der Addition manifestiert, wenn Auserwählung eine Minderheit sucht, aus der nötigenfalls immer wieder von neuem eine Minderheit ersteht, wenn Erwählung den Schwachen und nicht den Mächtigen meint und die Verheißung des Anfangs von den Vielen, die mit den Sternen des Himmels und dem Sand des Meeres verglichen werden, nur als Verheißung des Endes gelten läßt."16

Das Fortbestehen dieses Restes werde "bewirken, dass der ‚Rest‘ nicht ein armseliges Häuflein von Überlebenden, sondern die Elite ist, die Erwählten unter den Auserwählten, die, von denen gesagt werden kann: sie bleiben immer, um je und je Gottes Bund mit seinem Volk zu erneuern."17 Wie in biblischen Zeiten komme es auch in der Gegenwart nicht darauf an, was Israel will, sondern allein darauf, was Gott mit ihm vorhabe:

"Gerade in der Gottesfinsternis, für die der lautstarke Verkünder der Barbarei das Zeichen bleiben wird, erstand als neu-alte Wirklichkeit, was nur noch wie ein fernes Sagen gewesen. Gott machte die im Schatten des Todes Hausenden wie eh und je zu seinen Erwählten – und aller Abfall zählte nicht mehr."18

Die Bezugnahme auf den biblischen Begriff des scheerith jissrael, läßt erahnen, welche Erwartungen und Hoffnungen Geis an die Überlebenden der Schoa knüpft. Er hofft, dass angestoßen durch die Schoa, eine Rückbesinnung auf den einst am Sinai geschlossenen Bund, eine religiöse Erneuerung, einsetzt. Israel – so schreibt er – "blickt ... heute noch – oder wir dürfen sagen, heute wieder, über Welt und Geschichte hinweg auf jenen letzten, fernsten Punkt, da Gott, Israels Vater, der Eine und Einzige sein wird. Bis zu dieser Stunde ist es ihm als Zeuge des Bundes aufgegeben, den erhofften Tag in Bekenntnis und Tat vorwegzunehmen."19

Die Diskrepanz zwischen theologischer Perspektive und der Wirklichkeit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland erklärt einmal mehr seine Resignation als Rabbiner. Denn für den von ihm angestrebten Aufbruch sind keinerlei Anzeichen zu entdecken. Geis erinnert an das Bild des Rufers in der Wüste, an den Propheten, der von seinen Zeitgenossen nicht gehört wird. Ein weiterer Aspekt seines theologischen Denkens tritt hier hervor: Geis rezipiert die Tora aus der Perspektive der Propheten.20 Aufgabe der Propheten sei es stets gewesen, das abtrünnige Volk durch Scheltrede und Gerichtsankündigung an seine Bestimmung zu erinnern und zu Buße und Umkehr aufzurufen. Mit ihrer Sozialkritik haben die Propheten stets auf der Seite der Armen und Machtlosen und in Opposition zu den Herrschenden, gestanden. Geis hebt hervor, dass in nachbiblischer Zeit die Rolle der Propheten von den Rabbinern übernommen wurde: "Prophet oder Rabbi, sie gehen hart mit dem erwählten Volk ins Gericht, wann immer ein allzu Menschliches den Sendungsauftrag gefährdet."21

Motivation für sein Engagement in der christlich-jüdischen Begegnung

Bereits vor seiner Rückkehr in die Bundesrepublik sieht es Geis als Teil der vor ihm liegenden Aufgabe an, sich auch nichtjüdischen Deutschen zuzuwenden. In einem Brief an Karl Barth vom November 1945 schreibt er: "Große Teile des deutschen Volkes sind wahrscheinlich auch tiefer erschüttert als die Siegernationen. Meine jüdische Arbeit müßte notwendigerweise zugleich eine Arbeit für das deutsche Volk werden."22

Diesem Anspruch entsprechend reicht sein Wirken schon ab 1952 über den jüdischen Bereich hinaus. Ab 1961 ist er als Mitglied des Leitungskreises der "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" institutionell in diese Arbeit eingebunden. Seine vielfältigen Kontakte mit christlichen Deutschen lassen drei Motive seines intensiven Engagements erkennen: Geis sieht sich als Seelsorger, als Pädagoge und als Theologe gefordert.

   Das seelsorgerliche Anliegen

Sein seelsorgerliches Anliegen wird am Beispiel seiner Beziehung zu Albert Speer, dem ehemaligen Rüstungsminister Hitlers, deutlich. Speer, einer der Angeklagten in den Nürnberger Prozessen, wurde zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Gegensatz zu den meisten Mitangeklagten bekannte sich Speer während des Prozesses zu seiner Mitschuld und war bereit, die politische Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen zu übernehmen. Geis hatte im Jahr 1963 das Nürnberger Tagebuch des als Gerichtspsychologe in Nürnberg beteiligten Amerikaners G. M. Gilbert gelesen, der Speer positiv aus der Gruppe der Verbrecher heraushebt. Im November 1969 nimmt Geis, angeregt durch ein Fernsehinterview des aus der Haft entlassenen Speers, per Brief Kontakt auf. Es entwickelt sich ein reger Briefverkehr aus dem schließlich ein nahezu freundschaftliches Verhältnis erwächst. In seinem ersten Brief schreibt Geis: "ich möchte Ihnen doch wenigstens sagen, dass ich Sie auch da noch achte, wo ich Sie nicht verstehe. Darüber hinaus, so meine ich als gläubiger Jude, müßte es ein Verzeihen geben, und ich bin zutiefst davon überzeugt, daß Sie unter diesem Verzeihen stehen, denn Sie sind heute ein sehr aufrechter Mensch."23

Nach nur zwei Tagen antwortet Speer:

"mit Ihrem Schreiben hat es für mich doch eine besondere Bewandtnis: Es berührt das Zentrum aller meiner Zweifel und Bedrückungen in einer wohltuenden, auf die Dauer vielleicht sogar erlösenden Weise."24

Geis’ Verhalten gegenüber Speer macht deutlich, dass er sich weder zu pauschalen Verurteilungen, noch zu leichtfertiger Vergebung hinreißen läßt. Er hat den Einzelnen vor Augen und öffnet sich, wo er ernstgemeinte Bußfertigkeit und Reue erkennt. Das folgende Zitat aus einem Brief an Speer zeigt darüber hinaus, dass sein Blick in Bezug auf Schuld und Verantwortung nicht ausschließlich auf das Leid des jüdischen Volkes fixiert ist:

"Ohne das feige Schweigen der Weltmächte hätte Hitler niemals als der fürchterliche Sensenmann fungieren können. Und in den Jahren danach? Vietnam, Griechenland, Spanien, Südamerika, Südafrika, die Neger Amerikas? Das fürchterliche Sterben, das Foltern, das Verhungern ist nicht zu Ende. Wer da nicht verzweifeln will, wer kämpfend an vielen Fronten steht, der muß das ‚Ja‘ zu dem einzelnen Menschen wieder und immer wieder sich erkämpfen. Sie kann ich als Kameraden ansehen, weil Sie ehrlich sind. Herrn Globke ... würde ich die Hand nicht reichen."25

   Die pädagogische Aufgabe

Das zweite Motiv seines Engagements ist die pädagogische Aufgabe, vor die er sich gestellt sieht. Insbesondere die Jugend liegt ihm am Herzen. Mittels intensiver Vortragstätigkeit und Publikationen, wie seinem 1961 veröffentlichten Buch "Vom unbekannten Judentum"26, versucht er ein dem jüdischen Selbstverständnis gemäßes Bild des Judentums zu vermitteln. Als ein weiteres Beispiel für dieses pädagogische Anliegen sei die Studientagung der evangelischen Studentengemeinde Darmstadt vom November 1958 angeführt. An dieser Tagung, die unter dem Motto "Antisemitismus – Judentum – Staat Israel" stand, nahm Geis mit einem Vortrag über "Das religiöse und geistige Selbstverständnis des heutigen Judentums" teil. Anlass zu dieser von Studentenpfarrer Herbert Mochalski initiierten Tagung gaben die zunehmende Zahl antisemitischer Vorkommnisse und der Wunsch seiner Studenten, etwas über das ihnen völlig unbekannte Judentum zu erfahren. Mochalski und die Referenten sahen es als ihre Aufgabe an, möglichst umfassend zu informieren, "der Jugend zu sagen, was war und was wahr ist."27 Zu den Referenten gehörten neben Geis auch Eugen Kogon, der über die "Judenverfolgung im ‚Dritten Reich‘" sprach, Adolf Freudenberg, der die "Geschichtliche[n] Wurzeln des Antisemitismus" referierte, Erika Küppers, die in ihrem Vortrag "Juden und Christen gehören zusammen" theologische Gemeinsamkeiten betonte und Moshe Tavor, der die Studenten über "Die geistigen Wurzeln des Zionismus bis zum Staate Israel" informierte. Gemeinsam ist den christlichen Referenten die aktive Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Ihre christliche Überzeugung blieb während der nationalsozialistischen Zeit, trotz persönlicher Gefährdung, nicht auf die religiöse Privatsphäre beschränkt. Aufgerüttelt durch die nationalsozialistische Judenverfolgung beschäftigen sie sich nach 1945 intensiv mit dem Verhältnis von Juden und Christen. Gemeinsam ist den Mitgliedern der Bekennenden Kirche Freudenberg, Küppers und Mochalski und dem ‚Linkskatholiken‘ Kogon wohl auch, dass sie Institutionen im Hintergrund haben, die nicht (oder nur sehr bedingt) hinter ihnen stehen. Deutlich wird, wer die potentiellen Gesprächspartner von Geis sind: Christen, gleich ob katholisch oder evangelisch, deren religiöse Überzeugungen sich im gesellschaftspolitischen Handeln ausdrücken.

   Das theopolitische Motiv: Der gemeinsame Kampf für das ‚Königtum Gottes‘

Das dritte – am ausführlichsten zu erörternde – Motiv des Geisschen Engagements gründet in der theologischen Überzeugung, gemeinsam mit den christlichen Partnern auf die Verwirklichung des ‚Königtums Gottes‘ hin, arbeiten zu können. Die Verwendung dieses Begriffes durch Geis ist auf das Denken Martin Bubers zurückzuführen. In dem 1932 erschienenem Buch "Königtum Gottes", legt Buber dar, dass der "messianische Glaube Israels ... seinem zentralen Gehalt nach das Ausgerichtetsein auf die Erfüllung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt in einer vollkommenen Königsherrschaft Gottes [ist]. Dass Israel diese gläubige Erwartung und ihren lebensgemäßen Ausdruck als ihm unter allen Völkern am eigentümlichsten zukommend und anvertraut empfindet, gründet sich auf die gläubige Erinnerung, dass eben es einst JHWH zu seinem unmittelbaren und ausschließlichen Volkskönig ausgerufen habe."28

Die Proklamation eines ewigen Volkskönigstums Gottes und ihre Auswirkung sind, so Buber, "nicht mehr auf einer bloß ‚religiösen‘ Fläche zu überschauen, sie greifen in die politische Existenz des Volkstums ein."29 Diese Zusammenschau der politischen und der religiösen Sphäre nimmt Geis in sein theologisches Denken auf. Durch den Bund am Sinai seien Gott und Israel "theopolitisch zu einer Einheit zusammengeschlossen"30. Treffend charakterisiert Hans-Joachim Kraus das hinter der Geisschen Verwendung des Begriffs Theopolitik stehende theologische Konzept. Theopolitik im Geisschen Sinne sei nicht gleichzusetzen mit Religion im eingeschränkten Sinne seelischer Frömmigkeit und kultischer Gottesdienste:

"Hier handelt es sich vielmehr von Anfang an um des Ganze des Lebens, um Existenz und Weg des Volkes im politischen Entscheidungsfeld. Anders ausgedrückt: Es geht um die Verwirklichung des Reiches Gottes im Diesseits der Schöpfung, um die messianische Heraufführung eines neuen Zusammenlebens in Gerechtigkeit und Frieden."31

Es ist zu fragen, weshalb Geis die Gemeinschaft mit Christen sucht, um eine auf Verwirklichung des Reiches Gottes im Diesseits gerichtete religiöse und gesellschaftliche Erneuerung voranzutreiben. Wo sieht er Anknüpfungspunkte? Es ist bereits deutlich geworden, dass Geis bei den in Deutschland lebenden Juden kein Interesse an theologischen Fragen und deren gesellschaftspolitischen Implikationen hat wecken können. Nathan Peter Levinson bestätigt, dass Geis theologische Interpretationen "meist nur von Nichtjuden zur Kenntnis genommen [wurden]."32 Dennoch ist seine Zusammenarbeit mit Christen nicht als bloße Notlösung zu verstehen. Er sieht die Chance zu einem völlig neuartigen Verstehen zwischen Christen und Juden gerade durch die Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft gegeben.33 Das Furchtbare der Vergangenheit habe dazu geführt, dass sich die Rolle der Kirche im Staat und auch das kirchliche Selbstverständnis gewandelt hätten. Die mit der weltlichen Macht paktierende Kirche habe "aus dem Revolutionärsten der Weltgeschichte – der Bibel – ein Konservativ-Reaktionäres werden [lassen]."34 Mit Hitler sei nun "das Ende der Epoche, die mit Konstantin dem Großen anhob, deutlich in Erscheinung getreten... Vergangen ist die Weltmacht der Kirchen, die Segnungen einer kämpfenden Minorität stehen ihnen plötzlich offen"35 Die nationalsozialistische Verfolgung habe eine lange vergessene Wirklichkeit wieder zu Bewußtsein gebracht:

"Hitler, der dem Gewissen, ‚dieser jüdischen Erfindung‘ den Kampf angesagt hat, hat im dämonischsten Dunkel aufleuchten lassen, dass dieses jüdische Gewissen letztlich auch das christliche Gewissen ist, ja dass Juden und Christen – was so lange vergessen wurde – aus derselben Wurzel leben. Christen durften für ihren Glauben sterben, wie Juden für ihn sterben mussten. Das erklärt den gewaltigen und erschütternden Unterschied in der Zahl der Blutopfer."36

Die Erfahrung einer um des Glaubens willen bedrohten Minderheit habe darüber hinaus zu einer Rückbesinnung auf die Botschaft der Propheten und Jesu geführt und ein neues Verständnis von der Sendung Israels und für das gemeinsame Erbe des Alten Testaments wachsen lassen: "Man anerkannte die Märtyrerrolle, die die Juden für alle Freiheitsliebenden hatte übernehmen müssen."37 Nach zweitausend Jahren des Missverstehens sei in den Kirchen bewußt worden, dass "der Christ mit gemeint ist, wenn man den Juden schlägt."38 Mit seinem Lehrer Leo Baeck ist Geis der Ansicht, dass erst "die Gemeinschaft der Märtyrer bei Juden und Christen ... den Versuchen des Verstehens eine neue Chance [gäbe]."39 Die Aufgabe der beiden gläubigen Minoritäten sei es nun, einander brüderlich beizustehen und geeint den "Kampf an vielen Fronten für das Königtum Gottes auf Erden"40 zu führen. Das neue Miteinander könne bewirken, "dass aus diesem Furchtbaren der Vergangenheit in der Zukunft etwas wird, was die Vergangenheit dann wirklich überwindet, weil es ihr einen Sinn gibt".41

Geis’ Bemühen, die nationalsozialistische Verfolgung in einen sinnvollen, heilsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang einzubetten, wird auch hier deutlich. Der Sinn ist aber nicht einfach gegeben, das Furchtbare muß erst fruchtbar gemacht werden. Diesen ‚Wechsel auf die Zukunft‘ hätten sowohl Juden als auch Christen einzulösen. Beide müssten einander beistehen um die gemeinsame Aufgabe zu erfüllen. "Beide sind in der Welt gläubige Minoritäten – oder sie sind ein Nichts."42 Aus dieser Spannung ist Geis’ rastloses Engagement in der christlich-jüdischen Begegnung zu verstehen.

Geis’ nachdrückliche Betonung der jüdisch-christlichen Gemeinschaft ist aus seinem theologischen Denken heraus nachzuvollziehen, fraglich wird sie jedoch angesichts des tatsächlichen Verhaltens der Kirchen während der Zeit des Nationalsozialismus. Zuzustimmen ist Edna Brocke, die kritisch anmerkt:

"Obwohl Geis sehr bewusst vom Jude-Sein spricht und durchaus seine beiden Dimensionen – das Ontische einerseits und das Religiöse andererseits – nebeneinander gelten läßt, schimmert zuweilen sein eigener ‚einseitig‘ religiöser Standpunkt durch; dies um so mehr dann, wenn er Parallelen oder Vergleiche zwischen christlichen und jüdischen Realitäten zu ziehen versucht... Nein, nicht für ihren Glauben mussten sechs Millionen Juden sterben, sondern für ihr Jude-Sein. Nicht für ihren Glauben, sondern allenfalls für den Unglauben ihrer Mörder."43

Geis ist allerdings Realist genug zu wissen, dass innerhalb der Kirche gegenwärtig nur eine Minderheit zum Umdenken bereit ist. Seine Gesprächspartner findet er deshalb vornehmlich in den Reihen der Bekennenden Kirche, deren Mitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand geleistet und dafür Verfolgung oder gar den Tod auf sich genommen haben. Das Buch "Widerstand und Ergebung", das Dietrich Bonhoeffers Aufzeichnungen während seiner Haftzeit in den Jahren 1943-45 wiedergibt, wird für Geis "zur schmalen Brücke, über die der Weg zu denjenigen Christen in Deutschland führt, die der nationalsozialistischen Tyrannei nicht gefolgt sind."44 Geis ist insbesondere von Bonhoeffers Verständnis der alttestamentlichen Texte beeindruckt, denn Bonhoeffer stellt das konkret Fordernde, die Bedeutung des verantwortlichen Handelns in den Vordergrund, anstatt sich mit der allegorischen Ausdeutung der Texte zu begnügen. In der Einleitung zu "Versuche des Verstehens" schreibt Geis:

"Auch die christliche Gnade will von ihrem Ursprung her ganz sicherlich keinen Fluchtbogen um diese unsere Welt ziehen. Dietrich Bonhoeffer hat im Angesicht des Todes bekannt, was ihm bestimmt von seinen Anfängen nicht selbstverständlich war: ‚Ich spüre übrigens immer wieder, wie alttestamentlich ich denke und empfinde: Nur wenn man das Gesetz Gottes über sich gelten läßt, darf man wohl auch einmal von Gnade sprechen ... Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist meines Erachtens kein Christ.‘"45

Bedingungen und Grenzen der Dialogbereitschaft

Gerade weil sich Geis sehr intensiv auf den christlich-jüdischen Dialog einläßt, formuliert er die Bedingungen dieses Dialogs sehr deutlich. Seinem gemeinsam mit Hans-Joachim Kraus herausgegebenen Buch "Versuche des Verstehens" stellt er eine Passage aus einem Brief Franz Rosenzweigs an dessen Vetter Hans Ehrenberg voran:

"Gerade wenn du recht hast, dass Judentum und Christentum fortan in der Welt anders aufeinander angewiesen sein werden als bisher (und das gebe ich zu), so musst du die Namen stehen lassen, musst christlich christlich und jüdisch jüdisch sein lassen. Ein Gewaltfriede gibt keinen Völkerbund."46

Diese zwei Sätze sind für Geis unantastbarer Grundsatz jeglicher Begegnung. Er ist nicht der Ansicht, dass Christen zum Judentum konvertieren müßten um zum Heil zu gelangen, und ebensowenig betrachtet er die Annahme des Christentums für Juden als heilsnotwendig. In der theologischen Begründung folgt er Franz Rosenzweig:

"Der Jude steht seit Abraham, seit Gott ihn herausnahm, bei Gott, ob er will oder nicht, ob er abfällt oder nicht, ob er verworfen und wieder berufen wird, er steht bei Gott. Und er steht bei Gott bis zum Ende der Tage. Demgegenüber wird die Welt durch das Christentum zu Gott geführt."47

Das Fortbestehen des Bundes zwischen Gott und Israel macht jegliche christliche Missionsbemühung überflüssig. Neben der Ablehnung der Mission aus theologischen Gründen, weist Geis auch vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte derartige Bestrebungen zurück. Christliche Mission im 20. Jahrhundert kann für ihn "fast nur noch ihre Schattenseiten zeigen".48 Die strikte Ablehnung jeglicher Missionsbestrebungen ist unter den jüdischen Teilnehmern der christlich-jüdischen Begegnung schon seit ihren ersten Anfängen nach dem Ende des Krieges Konsens.49 Im Jahr 1946 gibt der in die Bundesrepublik zurückgekehrte Rabbiner Lothar Rothschild jüdischem Empfinden Ausdruck: "Die christologische Auffassung der Judenfrage geht manchmal hart an der Verfolgung der jüdischen Seele vorbei, denn das Gewinnenwollen bedeutet doch gleichzeitig Auslöschenwollen einer jüdischen Existenz."50

Die Problematik, die das Thema Mission in sich birgt, ist Geis bereits zu Beginn seines Engagements in der christlich-jüdischen Begegnung bewusst. Er lehnt die Mission ab, weiß jedoch, dass er sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen haben wird. An ein Abrücken der Christen von der Mission an Juden hofft Geis im Jahr 1953 nicht. In einem Brief an Rabbiner Kurt Wilhelm erläutert er seine Einschätzung und Argumentationsweise in dieser Frage:

"Wir beide sind uns völlig klar darüber, wie zentral christlich das Problem [der Judenmission] ist. Wir Juden können nicht gut eine Änderung der christlichen Dogmatik erreichen, zu der wir nun einmal gehören. Ich persönlich argumentiere in meinen vielen Auseinandersetzungen etwa so: ‚Ich weiß, wir gehören in euren Heilsplan. Macht aber erstmal die Gojim der Welt zu Christen und dann sprechen wir uns wieder. Eine Abstinenz in der Judenmission können wir nach eurem Versagen z. Zt. Hitlers wohl verlangen.´ Auf dieser Linie scheint mir eine Einigung in der Zeit möglich, eine Dauerlösung gibt es nicht vor den jemej hamaschiach [Tagen des Messias]".51

Methodisch kann der christlich-jüdische Dialog nach Geis’ Überzeugung "nie auf einer anderen Ebene als der historischen, die zum Heilsgeschichtlichen unabdingbar dazu gehört"52 stattfinden. Mit der unabdingbar historischen Ebene ist die Ebene des politischen Handelns gemeint: "Von der jüdischen Bibel her ist über alle jüdischen Epochen deutlich geblieben, dass die Grundlage der gläubigen Erwartung in der Konkretion des Bundes, der Erfüllung in der Zeit, der Herbeiführung des Gottesreiches liegt. Auch das Politische kann davon nicht ausgeklammert werden."53 Aus diesem praktisch-politischen Bibelverständnis heraus lehnt Geis die allegorische Ausdeutung biblischer Texte, die das konkrete Tun des Einzelnen aus den Augen verliert, als Grundlage des Dialogs ab. Zudem betont er, dass sich über gelebten, erlittenen und erkämpften Glauben ohnehin nicht streiten lasse, "nur konfessioneller Hochmut kann das übersehen, mag er auch mit einem zu nichts verpflichtenden Bekennermut sich verbrämen."54

Hans-Joachim Kraus, der ab 1961 den schwierigen Weg der christlich-jüdischen Verständigung mit Geis gemeinsam gegangen ist, betont dessen Suche nach der ernst gemeinten Begegnung, dem ernsthaften Forschen und Fragen. Eindrücklich beschreibt er, was Geis erboste: "das programmatisch hochstilisierte ‘Gespräch‘, das zur Routine werdende alljährliche Ereignis der ‚Woche der Brüderlichkeit‘, die christlich-jüdische Rechthaberei, genannt ‚Identitätsfindung‘, die sich unter dem Mantel versöhnlicher Gesten ritualisiert, das penetrante christliche Christusbekenntnis, das Heranziehen von ‚Haus-Juden‘, die dem Haus der Kirche ein alttestamentliches Dekor geben sollten."55

Kraus schildert die Wirklichkeit der christlich-jüdischen Begegnung, die für Geis oft kaum zu ertragen war: "Es waren ‚liebe Christen‘ – aufgeschlossen, freundlich, tolerant. Aber im entscheidenden Augenblick bestritten sie dem Juden das Recht Jude zu sein, und zogen aus dem Schulsack ihres christlichen Wissens den Messias Jesus von Nazareth wie eine Keule. Dies alles in ‚liebevoller Zuwendung‘."56


Die Betrachtung der Motive Robert Raphael Geis’ für sein Engagement im jüdisch-christlichen Dialog hat gezeigt, dass sein Dialog-Anliegen über das pädagogische, bzw. das seelsorgerliche Motiv weit hinausgeht. Es gründet vielmehr in der theologischen Sphäre, in der Überzeugung, auch über religiöse Schranken hinweg an der Verwirklichung des Königtums Gottes arbeiten zu müssen. Die Gelegenheit, mittels eines Lehrauftrages eine Generation von Studenten heranzuziehen, die sein Erbe bewusst aufnimmt, blieb Geis allerdings versagt. Erst im Oktober 1969, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod erhielt er dank der Bemühungen seiner Mitstreiter in der "Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" eine Honorarprofessur für Judaistik an der Pädagogischen Hochschule Duisburg. Im Wintersemester 1971/72 lehrte er als Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Zu diesem Zeitpunkt war er jedoch bereits durch Krankheit geschwächt. Für die ersehnte langfristige Lehrtätigkeit bleibt ihm keine Zeit mehr. Am 18. Mai 1972 stirbt Robert Raphael Geis.

Sein Denken und Andenken ist in den Menschen lebendig geblieben und fruchtbar geworden, die den steinigen Weg der jüdisch-christlichen Verständigung mit ihm gegangen sind. Mit der Rückbesinnung auf die liberale Tradition des deutschen Judentums seit der Mitte der 90-er Jahre gewinnt das Erbe von Robert Raphael Geis darüber hinaus auch in der jüdischen Gemeinschaft innerhalb der Bundesrepublik Deutschland wieder an Bedeutung.

Anmerkungen
  1. Die Angaben zur Biographie von R. R. Geis stammen aus: Dietrich Goldschmidt (Hg.). Leiden an der Unerlöstheit der Welt. Robert Raphael Geis. 1906-1972. Briefe, Reden, Aufsätze. München, 1984 und einem Interview mit Susanne Geis vom 21.12.1998.
  2. Harry Maor. Wie ich Robert Raphael Geis kennenlernte. Leiden. S. 35.
  3. Ebd. S. 37.
  4. Benjamin Maoz. Robert Raphael Geis – Ein Mann in seinem Widerspruch. Leiden. S. 97.
  5. Brief an Karl Barth vom 6. Nov. 1945. Ebd. S. 105.
  6. Obwohl er eine wirkliche Aufgabe in Deutschland vor sich sieht, empfindet er das Verlassen des Landes bis zu seinem Lebensende als persönliches Scheitern. Interview Susanne Geis.
  7. Brief an Theodor Heuss vom 24.01.1950. Leiden. S. 115.
  8. Robert Raphael Geis. Geistige Wiedergutmachung. Ebd. S. 127.
  9. Brief an Dietrich Goldschmidt von 1963. Ebd. S. 15.
  10. -
  11. Nach: Manfred Seidler. Robert Raphael Geis. 4. 7. 1906 – 18. 3. 1972. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 06. 06. 1972.
  12. Geis. Purim. Leiden. S. 161.
  13. Ebd.
  14. Robert Raphael Geis. Gedenkrede für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Kassel, 1950. Ebd. S. 158.
  15. Vgl. Geis. Gottesbund und auserwähltes Volk. In: Ders. Vom unbekannten Judentum. Freiburg/Basel/Wien, 1961. S. 134. Ebenso: Geis. Der Weg der Juden in Deutschland. In: Dr. Karl Borgmann (Hg.) u. a.; Freiburger Rundbrief. VI. Folge, Nr. 21/24. Freiburg, 1953/1954. S. 10
  16. Geis. Gottesbund. Judentum. S. 126.
  17. Ebd. S. 128.
  18. Ebd. S. 134.
  19. Ebd. S. 135.
  20. Vgl. insbesondere den Aufsatz ‚Gottesbund und auserwähltes Volk‘ in: Judentum. S. 124-135.
  21. Robert Raphael Geis / Hans-Joachim Kraus (Hg.). Versuche des Verstehens. Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918-1933. München, 1966. S. 15.
  22. Brief an Karl Barth vom 6.11.1945. Leiden. S. 106.
  23. Brief an Speer vom 23.11.1969. Ebd. S. 340.
  24. Brief Speer an Geis vom 25.11.1962. Ebd. S. 340.
  25. Brief an Speer vom 30.11.1969. Leiden. S. 341.
  26. -
  27. Adolf Freudenberg, u. a.; Antisemitismus – Judentum – Staat Israel. Frankfurt a. M., 1963. S. 6. Das Buch dokumentiert die auf der Studientagung gehaltenen Referate.
  28. Martin Buber. Königtum Gottes. Berlin, 1932. S. 11.
  29. Ebd. S. 12.
  30. Geis. Bund und Erwählung im Judentum. Gottes Minorität. S. 17.
  31. Hans-Joachim Kraus. Robert Raphael Geis - Dialog in prophetischer Perspektive. In: Heinz Kremers / Julius H. Schoeps (Hg.). Das jüdisch-christliche Religionsgespräch. Stuttgart, Bonn, 1988. S. 153.
  32. Brief an die Verfasserin vom 11.11.1999.
  33. Vgl. Geis. Juden und Christen vor der Bergpredigt. Gottes Minorität. S. 237. Und: Vom Königtum Gottes. Leiden. S. 217-219.
  34. Geis. Gedanken zum christlich-jüdischen Gespräch. Leiden. S. 215.
  35. Geis. Das christlich-jüdische Religionsgespräch. Gottes Minorität, S. 194.
  36. Ebd.
  37. Geis. Gedenkrede für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Gottes Minorität. S. 161.
  38. Geis. Der Auftrag Israels an die Völker. Ebd. S. 204.
  39. Ebd. S. 165.
  40. Geis. Zur Frage gemeinsamer Gottesdienste. Leiden. S. 222.
  41. Geis. Das religiöse und geistige Selbstverständnis des heutigen Judentums. In: Freudenberg (Hg.). Antisemitismus. S. 101.
  42. Gottes Minorität. S. 194.
  43. Edna Brocke. Der falsche Messias ist so alt wie die Hoffnung auf den wahren. Robert Raphael Geis – ein Porträt. In: Kirche und Israel. 2/87. S. 188-194. S. 191.
  44. Hans Joachim Kraus. Robert Raphael Geis – Dialog in prophetischer Perspektive. In: Heinz Kremers / Julius Schoeps (Hg.). Das jüdisch-christliche Religionsgespräch. Stuttgart, Bonn, 1988. S. 158.
  45. Robert Raphael Geis / Hans Joachim Kraus. (Hg.) Versuche des Verstehens. Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918- 1933. Eingeleitet von Robert Raphael Geis und Hans Joachim Kraus. München, 1966. S. 36.
  46. Brief Franz Rosenzweigs an Hans Ehrenberg aus dem Jahr 1919. In: Geis / Kraus. Versuche. S. 13.
  47. Zitat ohne Quellenangabe! In: Freudenberg. Antisemitismus. S. 97
  48. Brief an Manfred Seidler vom 08.06.57. Leiden, S. 318.
  49. -
  50. Lothar Rothschild. Die ‚Judenfrage‘ in jüdischer Sicht. S. 330. In: Judaica 2/1946.
  51. Brief an Kurt Wilhelm vom 10.08.1953. Leiden. S. 314. In diesem einzigen Punkt unterscheidet sich Geis, wie er selber feststellt, von seinem Lehrer Leo Baeck. Baeck hatte gegen gegenseitige Missionsversuche nichts einzuwenden. Vgl. Brief an Manfred Seidler, ebd. S. 318.
  52. Geis / Kraus. Versuche. S. 36.
  53. Ebd. – Die Folgen, zu denen der Verzicht auf politisches Handeln führen kann erläutert Geis am Beispiel der bekennenden Christen während der nationalsozialistischen Diktatur. Deren Situation mache deutlich, "wie sehr die Spiritualisierung der christlichen Lehre, die einseitige Akzentuierung der Erlösung der Individualseele den Platz der Geschichte freihält für höchst fragwürdige Kräfte innerhalb der Kirchengeschichte und schließlich für die brutale, bindungslose Macht schlechthin.." Gottes Minorität. S. 237.
  54. Geis /Kraus. Versuche. S. 36.
  55. Kraus. Dialog. In: Kremers /Schoeps. Religionsgespräch. S. 157.
  56. Ebd. S. 157f.

Editorische Anmerkungen

Susanne Schütz, cand. mag. der Religionswissenschaft, Hannover.

Mit freundlicher Genehmigung aus Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, hrsg. v.

Evangelisch-Lutherischen Zentralverein für Begegnung von Christen und Juden, Nr.1, 2001.