Unterwegs zu einer neuen Beziehung zwischen Juden und Christen

Am 4. Dezember 2019 verstarb der evangelische Theologe Martin Stöhr im Alter von 87 Jahren. Der ehemalige Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden sowie langjährige evangelische Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gilt als einer der prägendsten Pioniere des christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland und weltweit (siehe die Nachrufe hier). In Erinnerung an ihn nachfolgend ein Vortrag, den Stöhr aus Anlass des 20. Jahrestages der EKD-Erklärung "Christen und Juden" am 22. April 2004 in Bad Herrenalb hielt.
JCR

I  Noch ist der Reichtum der Bibel nicht ausgeschöpft

Vor 20 Jahren, als die Synode der Evangelischen Landeskirche in Baden eine "Erklärung zum Thema Juden und Christen" abgab, geschah zweierlei: Einmal gab eine evangelische Kirche durch ihr Leitungsorgan den ermordeten Geschwistern Jesu eine aufrichtige Antwort der Umkehr – nämlich einen langen Irrweg zu verlassen, der verächtlich oder gleichgültig gegenüber dem Volk Gottes gegangen worden war. Diese Umkehr ist eine "geschichtliche Notwendigkeit"(1.1). Ich könnte den Beschluss mit den Paulusworten zusammenfassen: "dass wir" – die Getauften aufgrund der Gerechtigkeit Gottes – "hinfort der Sünde nicht mehr dienen" - und zwar jener Sünde, uns über die Juden zu erheben (Röm 6,6 u. 11, 17ff).

Zum anderen wurde die Bibel neu gelesen. Überlesene oder vergessene Kapitel helfen, endlich die Begegnung mit den Juden zu versuchen, die Gottes Willen mit seinem Volk entspricht und nicht unserem Vorurteil. Dieses will wissen, Gott habe sein Volk verworfen (1.2), weil es angeblich seinen Messias abgelehnt, ja ermordet habe. Einzigartig im Kreis aller Landeskirchen ist der frühe Auftrag der Grundordnung (§69), sich um "die Begegnung mit der Judenheit zu bemühen". Diesem Auftrag im Blick auf die Bibel und auf die reale Geschichte nachzukommen, geht die Erklärung von 1984 den entscheidenden Schritt. Sie stellt für die angestrebten Begegnungen klare Wegweiser.

Am Anfang will und muss ich derer gedenken, die den Beschlüssen voraus gingen, sie schrittweise einübten: Stellvertretend für einige nenne ich in ehrendem Angedenken die Namen des Rabbiners Nathan Peter Levinson und der Professorin Pnina Navé-Levinson sowie die der Pfarrer Paul Katz und Ernst Ströhlein.

Die Erkenntnis von Schuld sowie die Erkenntnis bisher ungehobener biblischer Schätze verlangen von den christlichen Kirchen, ihre Glaubensinhalte kritisch zu prüfen und neu zu formulieren. Es muss ein Ende damit haben, dass wir unseren Glauben dadurch zum Leuchten zu bringen, dass wir Israels Glaubenspraxis anschwärzen. Die Schlüsselfrage heisst: Wie folgen wir feindbildfrei Jesus Christus nach?

In einem Vorspiel hatte die Weissenseer EKD-Synode 1950 ein Doppeltes bekannt: Einmal, "wir sind durch Unterlassen und Schweigen...mitschuldig geworden" und zum anderen, dass "Gottes Verheissung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist". Was das inhaltlich genauer bedeutet, entfaltet erst die EKD-Studie "Christen und Juden I" von 1975 – nicht ohne Vorarbeit in der AG Juden und Christen beim Deutschen Ev. Kirchentag und in landeskirchlichen Studienkreisen "Kirche und Israel". Nach dem Beschluss der Rheinischen Kirche (1980) macht sich die Badische Landeskirche als zweite auf einen Weg der Umkehr und Erneuerung. Zum Reichtum der doppelten Neuerkenntnis gehört die biblische Weisheit, dass Gottes Wahrheit "auf zweier Zeugen Mund" beruht (5. Mose 17,6; 19,15; Joh 8,17). Seine Wahrheit kennt und braucht keinen Absolutheits- oder Alleinvertretungsanspruch der Sache Gottes und seines Messias - weder durch Israel oder noch durch die Kirche.

Israel ist vor der Kirche von Gott zur Mitarbeit im Reich Gottes ausgewählt. Diese Berufung hat Gott nie widerrufen. Er nennt Israel "seinen Sohn, seinen Erstgeborenen, befreit aus Ägypten" (2. Mose 4,22; Hos 11,1): Aus Israels Mitte, durch den Sohn Israels und seines Gottes, durch Jesus, hört die Kirche denselben Ruf. Beide sind unterwegs zum Reich Gottes. Beide wissen, dass diese Berufung alles andere als eine Elite trifft, die Bibel wie die Israel- und die Kirchengeschichte sind keine Heldengesänge, sondern Lerngeschichten in Sachen Nachfolge. Gott vertraut uns. Er macht uns frei und recht, ihm nachzufolgen. Uns trifft seine Zumutung, nicht recht haben zu wollen, sondern das Rechte, nämlich seinen Willen zu tun.

II  Vom Glück und der Notwendigkeit, den Glauben neu zu bekennen

Die Bibel der Juden und der Christen zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr ein lebendiger  Prozess der Selbstauslegung des Wortes Gottes stattfindet. Er geschieht durch Menschen, denen Gott sein Wort als ein lebendiges anvertraut hat, das nicht nur zu bewahren, sondern zu bewähren ist. Anders als der Koran ist die Bibel nicht fertig vom Himmel gekommen. In ihr wird Neues gelernt. Da werden neue Entdeckungen gemacht,

•    zB durch Kain, dass Gott auch ihn, den Feind seines Ebenbildes Abel, liebt und schützt,

•    zB durch Abraham, der anlässlich der Bindung und Nicht-Opferung Isaaks lernen muss, dass Gott für nichts in der Welt Menschenopfer will,

•    zB durch Jeremia, dass Gott auch bei den Deportierten an den Wassern Babylons anwesend ist, dort in der Fremde, wo sie umstellt sind von Göttern aller Sorten,

•    zB durch die profetische Botschaft, dass die Völker zum Berg Gottes kommen, um dort seine Weisung zu lernen,

•    zB durch die Autoren des Neuen Testamentes, dass das Weltende und damit das endgültige Reich Gottes doch nicht sofort kommt, sondern verzieht,

•    zB durch Jesu Triumph über den Tod, dass die messianisch erhoffte "neue Schöpfung" angefangen hat. Damit ist den Regeln der alten, menschlich korrumpierten Schöpfung mit ihrer Gewalt und ihrem Egoismus, mit einer folgenlosen Frömmigkeit und mit ihren Lügen der Kampf angesagt,

•    zB durch Paulus, dass Gott auch die Völker bis an die Enden der Erde zum befreienden Gott Israels führt, und sie dabei von den besonders Israel gegebenen Geboten der Beschneidung oder der Speiseregeln (Kaschrut) befreit. Paulus muss das gegen Petrus durchsetzen (Apostelkonzil ApGesch 15). Beide verfolgen innerjüdische Diskussionslinien zum Verhältnis von Juden und Heiden gegenüber der Tora weiter. Deswegen darf ein Argument aus der innerjüdischen Auseinandersetzung des Juden Jesus mit den Pharisäern, oder aus dem innerjüdischen Disput zwischen Petrus und Paulus nicht gegen die Juden verwendet werden – wie es in der Theologie- und Kirchengeschichte geschah und geschieht. Das Christentum ist "Neues im Judentum, nicht gegen das Judentum", so 1938 der letzte Rabbiner Berlins in der Nazizeit. Er schrieb das in seinem Gesprächsangebot an die Christen  in seinem Büchlein "Die Evangelien als Urkunden des jüdischen Glaubens". Die Christen sahen damals keine ausgestreckte Hand, sondern - wurde er überhaupt wahrgenommen – einen Christusmörder und Schädling des deutschen Volkes.

Neues wird nicht nur im Laufe der innerbiblischen und nachbiblischen Auslegung entdeckt, sondern auch in knappen Zusammenfassungen gebündelt, wie in den Zehn Geboten oder wie bei Micha: "Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert: Nichts als Recht üben und die Güte lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott" (Micha 6,8). Das Doppelgebot der Liebe nennt Jesus als weiteres Beispiel einer gültigen, ins Heute zielenden Zusammenfassung der Hebräischen Bibel, des Alten Testamentes. Sie ist für Jesus und die Urchristenheit die Bibel, die Schrift, Mose und die Profeten (Mt 22,34-40; Mk12,28-34; Lk 10,25-28). Er ist von der Notwendigkeit überzeugt, dass das lebendige Wort Gottes, das, "was zu den Alten gesagt ist" - wie es in der Bergpredigt heisst (Mt 5,17-48) - ständig neu ausgelegt werden muss. Will es nicht zu einem gefrorenen Wasserfall werden, der schön zu bestaunen ist, der aber nichts bewegt, dann muss "Recht wie lebendiges Wasser und Gerechtigkeit wie ein unversieglicher Bach strömen" (Amos 6,24). Es blieben sonst neue Situationen sowie neue Generationen ohne göttliche Anrede – eine Dienstverweigerung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Gottes.

Hierin ist sich Jesus mit den Profeten, den Betern und Erzählern der Bibel einig. Sie lassen sich nicht verdriessen, zB die Schöpfungsgeschichte oder die Gebote, die Gebete oder die Hoffnungen Gottes neu zu formulieren und zuzuspitzen. Mal strittig, mal übereinstimmend mit Pharisäern und Schriftgelehrten tut Jesus nichts anderes. Paulus und die Evangelisten folgen ihm. Paulus legt zB die 10 Gebote in seinem Brief nach Rom (Kap 12 und 13) für die römische Gemeinde unter Nero neu aus. "Das Neue ersetzt nicht das Alte" – so beschreibt die Erklärung von 1984 diesen biblischen Sachverhalt. Ich könnte auch sagen: Neues keimt aus dem Alten. So stellte sich die Synode 1984 "der geschichtlichen Notwendigkeit, aufgrund biblischer Einsicht ein neues Verhältnisder Kirche zum jüdischen Volk zu gewinnen"(1.1).

Was der Bibel recht ist, ist uns notwendig. Gottes Wort ist uns anvertraut. Wir sind seine Treuhänder, dafür verantwortlich, dass seine Wahrheit nicht zur Waffe gegen andere wird, sondern zur Aufklärung über gute und über böse Wege sowie zur Einladung, die guten Wege zu benutzen. So entstanden die im Alten wie im Neuen Testament vorhandenen Bekenntnisse ebenso wie die im Laufe der Kirchengeschichte notwendigen Bekenntnisse, zB das Apostolische Glaubensbekenntnis, die reformatorischen Bekenntnisse oder die Barmer Theologische Erklärung vor genau 70 Jahren. Sie nimmt (zum zu späten Bedauern Karl Barths, seines Hauptverfassers) weder die Juden noch ihre Gemeinden noch ihre Heiligen Schriften gegen Diffamierung und Gewalt in Schutz, obwohl Barmen klar gegen die damalige Rassen- und Geschichtsideologie Stellung nimmt.

Wir sind in allen Generationen nach der Schoa dafür zuständig, dass unsere Lehr- und Schulbücher, unsere Synoden und Gemeinden auf die Frage antworten, wie es zu dieser Menschenverachtung, diesem Völkermord und zu Auschwitz kommen konnte und welchen Beitrag Theologie, Verkündigung und Unterricht der Kirche dabei gespielt haben. Warum gab es so wenige Christinnen und Christen, die - wie Hermann Maas oder Dietrich Bonhoeffer, Gertrud Luckner oder Propst Grüber, Elisabeth von Thadden oder Elisabeth Schmitz - Beruf und Leben riskierten, den Juden zu helfen?

Es geht darum, dass falsche Wege klar benannt und Wege der Umkehr nicht verschwiegen werden. Unsere Verantwortung ist gross. Unsere Mühe, Gottes Wort in neuen Zeiten neu zu verstehen und bisher in der Bibel Überlesenes neu zu formulieren, macht aus Gottes Wortunser heute notwendiges Wort. So kann ich den wichtigen Satz der Confessio Helvetica (1562) aufnehmen: "Praedicatio verbi Dei est verbum Dei" – "Die Verkündigung des Wortes Gottes ist Gottes Wort!"

Eine ordentlich gewählte Synode hört Gottes Wort in der Schrift, fragt sich, was und warum so vieles überhört wurde, vertraut dem Geist Gottes und Christi und sagt in unsere Zeit als neue Erkenntnis des Wortes Gottes, was neu zu lernen ist. So geschehen mit der Erklärung der Badischen Synode 1984.

III  Nach Auschwitz:"...seid nicht Kinder im Denken,...sondern reife Menschen" (1Kor 14,20)

Seit der gerade 1946 in Oxford gegründete Internationale Rat der Juden und Christen ein Jahr später, 1947, die "Seelisberger Thesen" verfasst hatte, sind in der Christenheit neue  Erkenntnisse aus dem, "was zu den Alten gesagt ist", gewachsen und gereift, Erkenntnisse, die ohne die Schoa nicht zustande gekommen sind. Auschwitz ist keine Offenbarungsquelle, aber ein Ereignis, das es nicht erlaubt, Theologie, Unterricht oder Verkündigung ungeprüft und unverändert zu betreiben wie es Jahrhunderte geschah. Die Opfer und die weitgehende Passivität in den christlichen Gemeinden sind eine schmerzliche, "geschichtliche Notwendigkeit", neu zu fragen, neu zu handeln, neue biblische Einsichten zu verwirklichen.

In Seelisberg widerlegen Juden und Christen verschiedener Konfessionen in 10 Thesen falsche Aussagen, die die Beziehungen zwischen Israel und der Kirche vergiftet hatten. Es ist ein Gott, der im Alten und der im Neuen Testament spricht. Jesus ist Jude wie seine Jünger, Apostel und die erste Christenheit. Das höchste Gebot der Liebe zu Gott und den Menschen steht schon im Alten Testament. Die Passionsgeschichte darf nicht von den Juden als von Feinden Jesu oder Gottesmördern reden. Israel ist von Gott nicht verworfen. Alle in den folgenden Jahren verabschiedeten Erklärungen in der Weltchristenheit – auch Nostra Aetate des Vatikans von 1965 - zehren von diesen ersten mutigen Einsichten.

Den ökumenischen Konsens in dieser Frage fasst der Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, in dem fast alle nicht römich-katholischen Kirchen zusammenarbeiten (auch arabische!) 1991 so zusammen:

•    Gottes Bund mit Israel ist nicht gekündigt;

•    Wir Christen danken Gott für die geistlichen Schätze, die mit dem jüdischen Volk teilen; seine lebendige Tradition ist ein Geschenk Gottes;

•    Antisemitismus ist Sünde;

•    Mit Paulus anerkennen wir die anhaltende Berufung des jüdischen Volkes und die Verheissungen, die ihm Gott zum Zeichen der Treue gemacht hat;

•    Proselytenmacherei ist mit dem christlichen Glauben ebenso unvereinbar wie die Benutzung der Religion als Waffe;

•    Gemeinsam setzen sich Juden und Christen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ein.

Im selben Jahr 1991 fasst die EKD-Studienkommission "Christen und Juden II" den in den Kirchen der EKD erreichten Konsens wie folgt zusammen:

•    Die Überwindung der Entfremdung vom Judentum;

•    Die Absage an den Antisemitismus;

•    Das Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust;

•    Die unlösbare Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum;

•    Die bleibende Erwählung Israels;

•    Die Bedeutung des Staates Israel.

Noch sind unsere Erkenntnisse nach Auschwitz nicht fertig – wie könnten sie auch?

IV  Eine jüdische Antwort zur Ermutigung

Im Jahr 2000 veröffentlichten über 200 Rabbiner und jüdische Gelehrte in den USA (in der New York Times) eine Erklärung unter dem Titel "Dabru Emet – redet Wahrheit". Dieser Aufruf erhielt inzwischen hunderte von neuen Unterschriften. Er ist eine einzigartige Antwort auf die Bemühungen in vielen Kirchen, die jüdisch-christlichen Beziehungen nach zweitausend Jahren zu verändern – weg von der Sicht, die das Judentum als eine "gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert". Was sich nach der Schoa in den Gremien der protestantischen und römisch-katholischen Kirchen an neuen Einsichten und Bekenntnissen getan habe, sei "ein dramatischer und beispielloser Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen", der "eine wohl bedachte jüdische Antwort verdient". 

Angesicht wachsender Judenfeindschaft klingt mir der Tenor der us-amerikanischen, inzwischen weltweit gewordenen Erklärung ein wenig zu vollmundig. Aber ich höre diesen Aufruf als eine Ermutigung, nicht stehen zu bleiben bei dem, was erreicht wurde – in keiner Gemeinde, Schule oder Fakultät. In einer oder zwei Generationen ist weder das Gift der Judenverachtung, das in Jahrtausenden angesammelt wurde, verlernt, noch eine neue Sprache und erst recht keine neue Praxis für das alltägliche Miteinander von Kirche und Israel gelernt und gelebt.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass einstmals religiös begründete Vorurteile sich weit über die Grenzen der Religion hinaus verbreiteten und vermehrten. Ich nenne einige der sprichwörtlich gewordenen Vorurteile: Da ist die Rede von Judas, der "geldgierige Verräter" wurde zum Modell aller Juden wie der Pharisäer, der "heuchelt", wie der am "Buchstaben klebende, verknöcherte" Schriftgelehrte, wie das Alte Testament als Buch eines "altestamentarischen Rachegottes und -geistes", wie das "blinde, verstockte Israel", das seinen Messias ablehnt, ja ermordet.

Was christlich in die Welt gesetzt, lebt säkular munter weiter. Die Verantwortung für diese menschenfeindliche Aussaat ist die Christenheit nicht los, auch wenn diese Saat umgangssprachlich auch ausserhalb der Kirchen gedeiht – in den Medien oder an Stammtischen, bei den ewig Gestrigen oder bei naiv nur im Jetzt Lebenden, die keine Konsequenzen aus der Vergangenheit für eine bessere Zukunft ziehen wollen.

Dietrich Bonhoeffer schrieb zum Jahreswechsel 1943/44 aus dem Gefängnis: "Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll". Darum geht es: Eine kommende Generation soll leben und kann nur so überleben: ohne Abneigung gegen Minderheiten, ohne ausgrenzenden Rassismus, ohne eine servile Haltung gegenüber Mächtigen, ohne Vertrauen in Gewalt, ohne Verachtung von Freiheit und Liebe, von Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen. Alle diese negativen Verhaltensweisen verbünden sich in der Judenverachtung zu einer grossen Koalition der Menschenverachtung.

Die nach dem Krieg geborene und aufgewachsene Generation hat am Völkermord an den Juden keine Schuld. Aber sie trägt die Verantwortung, dass dergleichen nicht noch einmal passiert – keinem Menschen, keinem Volk, keiner Kultur, keiner Religion gegenüber. Sie wird, wie ihre Eltern- und Grosselterngeneration, einmal auch gefragt werden, ob sie sieht, was zu sehen ist, ob sie schweigt, wo zu protestieren ist, ob sie ein Gewissen nicht nur hat, sondern es auch benutzt, ob sie neue Wege geht, oder in den ausgefahrenen Gleisen der Gewohnheit bleibt.

Vor diesem biblischen und geschichtlichen Hintergrund hören und lesen wir die jüdische Antwort auf unsere christlichen Bemühungen. Ich höre diesen Aufruf als einen dreifachen Vertrauensbeweis an alle Christinnen und Christen,

•    die sich selbstkritisch und lernbereit entschliessen, alle judenfeindlichen Vergiftungen in den Kirchen und in der Gesellschaft zu überwinden;

•    die angesichts der zweitausendjährigen Versagen gegenüber dem jüdischen Volk ihre Schuld nicht nur bekennen, sondern auch präzise erkennen wollen, wie und warum falsch unterrichtet und verkündet wurde; die deswegen die Bibel und ihre Wirkungsgeschichte noch einmal sorgfältig studieren, damit keine Form des christlichen Glaubens sich auf Kosten Israels oder anderer Glaubensweisen als die allein wahre darstellt;

•    die bei dem, was in kirchlichen Erklärungen und besseren Lehr- und Schulbüchern – Gott sei wahrhaftig Dank – erreicht wurde, nicht verharren, sondern in der Judenheit wie in der Christenheit dem Willen Gottes folgen und an seinem Projekt der "Weltverbesserung" (Tikkun Olam) mitarbeiten.

V  Beten und arbeiten für die Verbesserung der Welt

"Weltverbesserung" heisst für mich, alles das für unsere Welt von Gott zu erwarten und durch uns zu tun, worum wir im Vaterunser beten. Das Vaterunser ist ein Gebet aus der jüdischen Tradition, das uns der Jude Jesus zu beten lehrt, wenn wir den einen Gott Israels und der Völker angemessen anrufen. Worauf lassen wir uns in diesem Gebet ein? Es zeigt uns sieben Dimensionen des "Glaubens und Handelns", die in der "Juden und Christen gemeinsamen Tradition des Alten Testamentes" (2.1) verankert sind:

1.    Wir heiligen Seinen Namen mit unserem ganzen Leben als treue Zeugen für Seine Sache: Dein Name werde geheiligt.

2.    Wir arbeiten dafür, dass Sein Reich nicht erst im Jenseits oder nur in meiner Seele aufblüht, sondern heute in alle persönlichen und öffentlichen Lebensbereiche hinein wirkt. So kommt uns Gott entgegen und so gehen wir ihm entgegen: Dein Reich komme.

3.    Wir stehen dafür, dass auf Erden, in unserem Alltagsleben, Sein Wille und nicht zuerst der Wille derer getan wird, die uns dies oder das zu tun befehlen: Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

4.    Wir sorgen uns nicht nur für das Brot der Satten, sondern sind aktiv, damit das Brot fürdie Welt gerecht verteilt wird. Zum "Brot" gehört nach Luther ua Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh usw, dh die Sicherung der menschlichen Existenz aller Ebenbilder Gottes: Unser tägliches Brot gib uns heute.

5.    Wir leben von Gottes Vergebung unserer Schuld und von der Befreiung von Schulden wie wir anderen Schuld verzeihen und Schulden erlassen: (Die 5,5 Millrd. Baukosten für EuroDisney reichten aus, die 20 ärmsten Länder der Welt zu entschulden). Und vergib uns unsere Schuld(en), wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

6.    Wir benötigen täglich eine nonkonformistische Widerstandskraft, um nicht durch Gleichgültigkeit, Resignation oder Bosheiten versucht zu werden: Und führe uns nicht in Versuchung.

7.    Wir hoffen auf Gottes endgültige Überwindung alles Bösen und mühen uns mit ihm, dass das Böse in mir und in der Welt nicht überhand nimmt: Sondern erlöse uns von dem Bösen.

Wer nicht tut, worum im Gebet Jesu gebetet wird, höhlt es aus, plappert wie die Gojim, wie die Heiden (Mt 6,7). Weil Gott in allen Zeiten das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit hat, kurz, weil er die Welt regiert, und weil er den Reichtum seines Reiches mit uns teilt, weil er uns Anteil an seiner verändernden Kraft gibt und weil er alle Menschen mit der Herrlichkeit auszeichnet, sein lebendiges Ebenbild zu sein, deshalb traut er uns zu, zu beten und zu arbeiten nach seinem Willen.

Ich sage das deswegen so deutlich, weil dem Judentum noch immer vorgeworfen wird – gerade in protestantischen Zirkeln – eine Leistungsreligion nach dem Prinzip der Werkgerechtigkeit zu sein. Das Vaterunser macht mit der Anrufung des Einen Gottes Israels und der Völker als unser aller Vater deutlich, dass in diesen biblischen, also jüdischen wie christlichen Vorstellungen der Freiheitsruf des Ersten Gebotes und das alleinige Vertrauen in die allem unserem Suchen und Tun vorausgehende Gnade des Gottes von Abraham und Sara, von Isaak und Rebekka, von Jakob und Lea sowie des Vaters Jesu Christi auflebt.

Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Was wir mit dem reformatorischen vierfachen "Allein" auszudrücken versuchen, ist eine notwendige neue Erkenntnis des biblischen Eingottglaubens und seiner Menschenbefreiung:

•    Gottes Wort allein (sola scriptura), wie es sich in der heiligen Schrift ausspricht. Diese Stimme Gottes ist in der Welt. Dazu gehören bei unseren jüdischen Geschwistern die rabbinische, disputierende Auslegungstradition in Talmud und Midrasch, dazu gehört bei unseren römisch-katholischen Geschwistern das regulierende Lehramt und bei uns Protestanten die konziliaren, in der Auseinandersetzung der Zusammensitzenden, kritisch erarbeiteten biblischen Verkündigungen und Bekenntnisschriften. Alle drei Zweige am Bibelbaum verstehen und lesen die Schrift keineswegs in gleicher Weise, sondern oft unterschiedlich, aber alle verstehen sich und ihre Gemeinschaften als Antworten auf Gottes erstes und nicht folgenloses Wort: Dieses ist von der Schöpfung über die immer zeitgenössische, dh ewige Begleitung unserer Geschichte bis zu ihrer erlösenden Vollendung immer sowohl Wort wie Tat.

•    Allein Gottes Gnade (sola gratia) ist es, die unser Leben schafft, erhält und wahrhaft menschlich macht, ihm also Ziel und Sinn gibt. (Luthers entdeckte die allem Glauben und Tun voranlaufende göttlichen Gnade gerade auch im Alten Testament, in Ps 31,2: "Errette mich nach Deiner Gerechtigkeit". Sie ist eben eine barmherzige Gerechtigkeit und nicht die eines Konto führenden Buchhaltergottes. Der Inhaber des ersten Lehrstuhls für jüdisch-christliche Dialog an der New York City Universität, Michael Wyschogrod, schätzt an Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, dass dieser den Vorrang des göttlichen Gnadenhamdelns und die Ethik, die Heiligung des menschlichen Lebens betont.

•    Ein allein auf Gott und sein Wort vertrauender Glaube (sola fide) ist die menschliche Antwort auf Gottes Offenbarung. Diese Antwort lebt und wirkt in der Nachfolge der Hörenden und Gehorsamen.

•    Ein auf den Messias allein gegründete Hoffnung (solus Christus=solus Messias), dass die menschlich korrumpierte Welt nicht zum Tod, sondern zur Vollendung nach Gottes Willen bestimmt ist - gegen Adams und Evas Verantwortungslosigkeit; gegen Kains Unfähigkeit, mit Abel zu leben; gegen eine vorsintflutliche Fähigkeit der Menschen, die ganze Schöpfung zu zerstören; gegen die Arroganz menschlich-babylonischer Turmbauerei, kurz gegen die Lust der Menschen, gegen ihre göttliche und menschliche Bestimmung zu leben.

VI  Das Gespräch zwischen Juden und Christen ist keine Einbahnstrasse mehr

Das Gesprächsangebot von "Dabru Emet – Redet Wahrheit!" enthält acht knappe Sätze mit Erläuterungen, denen ich folge; den sechsten zum Messiasglauben stelle ich wegen seines Gewichtes ans Ende. Ich kommentiere sie im Kontext jüdisch-christlicher Kirchenbeschlüsse, besonders des badischen. Ich zitiere die acht Hauptsätze der jüdischen Erklärung:

1.    "Juden und Christen beten den gleichen Gott an". Es ist ein Gott, den wir anrufen dürfen, weil er uns in der Israel- und Jesusgeschichte angerufen hat und anruft. Seit den Seelisberger Thesen (1947) ist in vielen Erklärungen einer Aufspaltung Gottes in einen rachsüchtigen, gesetzliche Leistungen fordernden "Gott der Juden" auf der einen Seite und einen Liebe und Vergebung spendenden "Gott der Christen" auf der anderen Seite widersprochen worden. 144 nChr hatte die junge christliche Kirche in Rom ihren reichen Sponsor und Schiffsreeder Marcion wegen genau dieser die Bibel wie den Glauben verkleinernden Irrlehre ausgeschlossen. Seine Gedanken waren damit aber nicht aus der Kirche verschwunden – obwohl fast jede Gnadenverkündigung im Gottesdienst, jede Absolution im Abendmahl mit Worten der Jüdischen Bibel der christlichen Gemeinde zugesprochen wird. Was wären unsere Gebete ohne die Psalmen! Der Gott des Alten und des Neuen Testamentes ist ein vergebender und liebender Gott. Warum überhören wir die Gebete der Juden, die Gott als den Liebenden und Barmherzigen anrufen? Sie sind auf den Ton gestimmt, den die "Sprüche der Väter" (Pirque Avot 3,19) mit Rabbi Akiba so aussprechen: "Mit Güte wird die Welt gerichtet und nicht nach der Menge der Werke". Umgekehrt dürfen wir Christen nicht vergessen, dass Gott von uns auch Taten und Werke erwartet. Es gibt Zeiten, wo das Tun, und es gibt Zeiten, wo die Gnade betont werden muss.

Wenn die Badische Synode (4) darauf verweist, dass Juden wie Christen sich zu dem biblischen Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde bekennen und eben dieser Gott Israels die Weisungen und die Hoffnungen für einen neuen Himmel und eine neue Erde aller Welt offenbart, dann ist damit die Einheit und die Einzigkeit des Einen, barmherzigen und kritischen Gottes unhintergehbar bekannt.

2.    "Juden und Christen stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches – die Bibel das die Juden 'Tenach' und die Christen das 'Alte Testament' nennen". Tenach enthält eine Abkürzung der drei Blöcke der Hebräischen Bibel: Tenach (=Tora), Nebiim (=Profeten) und Ketuvim (=alle übrigen Schriften). Die Christliche Bibel stellt nach den Geschichtsbüchern und nach den Poetischen Büchern die Profeten ans Ende des Alten Testamentes, um so das Neue Testament als die Erfüllung der dortigen Verheissungen nahtlos anschliessen zu können. Damit ist die Gefahr gegeben, dass das gesamte Alte Testament nur als Verheissung oder Vorstufe des Christentums gesehen wird. Dann ist die Kirche und ihre Verkündigung die Erfüllung dessen, was im AT unerfüllt ist. Dann steht das Judentum in einer defizitären Position gegenüber dem Christentum. Eine solche Wertminderung des AT ist auch nicht dadurch aufzuheben, dass man in allen ihren Texten nur Christus verkündet findet. Die Hebräische Bibel verliert dann ihre eigene Stimme – sowohl als Heilige Schrift Israels wie als grösster Teil der christlichen heiligen Schrift. Sie sagt dann nur noch das, was Christen in sie hinein lesen Die Badische Synode stellt 1984 erfreulich klar, dass "das Alte Testament gemeinsame Grundlage für Glauben und Handeln von Juden und Christen ist". Mit Predigt, Lehre, Bildern und Plastiken hatte die Christenheit sich selbst überzeugt, sie sei das neue, das wahre Israel. Sie habe das alte, also verworfene, weil falsche Israel überholt und abgelöst. Nein, sagt resolut die Synode in ihrer Resolution: "Das Neue ersetzt nicht das Alte". Es ist derselbe Gott, der "gibt, erfüllt und bekräftigt sie (die Verheissung des AT) neu!"(2.4; 3.2)

Damit ist theologisch klar gestellt: Es gibt im AT Verheissungen, die weiter gültig sind und nicht durch das Auftreten Jesu von Nazaret und seiner Christenheit hinfällig geworden sind. Ja, das AT ist auch ein Buch der Erfüllungen vieler Verheissungen Gottes. Ich erinnere nur an die zentralen Erfahrungen der Bewahrungen und Befreiungen, die sich mit den Stichworten "Sklaverei in Ägypten" und "Deportation in Babylon" verbinden oder an Hiob, an Gebete in den Psalmen, die Gott für Erfüllungen danken. "Verheisungen" kennzeichnet das Wort Gottes in beiden Teilen der Bibel. Im NT gibt es nicht nur die eine Erfüllung, dass wir in dem Juden Jesus aus Nazaret den messianischen Gesandten Gottes erkennen, den Heiland der Welt, der durch Kreuz und Auferweckung verkündigt, das Reich Gottes sei nahe herbei gekommen und deswegen sei Busse, Umkehr angesagt, der wiederkommen wird (3.3). Die Christenheit lebt wie Israel von Gottes Verheissungen. Noch steht aus, dass das Reich Gottes als Vollendung der Welt da ist und dass sein Wille nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden geschieht.

3.    "Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren". Heute gibt es viele Menschen, die in diesem Anspruch eine Quelle des Unfriedens im Nahen Osten sehen. Viele von ihnen sehen sich in alten judenfeindlichen Einstellungen bestätigt: Die Juden seien selber schuld, dass man sie hasst. "Der Staat Israel versteht sich als Zuflucht und Heimstatt für Juden. Als Christen haben wir eine Mitverantwortung für Israel", sagt Ihre Synode 1988. Das Lebensrecht Israels heute zu bekräftigen ist nötiger denn je. Der Antisemitismus in allen Kontinenten und Religionen, gerade auch im Islam, wächst messbar. Die "Protokolle der Weisen von Zion", eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei zur Diffamierung der Juden und ihrer angeblichen Pläne zur Weltbeherrschung, werden millionenfach in Osteuropa und in den islamischen Ländern gedruckt, verfilmt und geglaubt.

Acht Jahre vor (1976) und vier Jahre nach der Badischen Synodalerklärung weist 1988 dieselbe Synode mit Recht auf zweierlei hin: Einmal: Israel hat wie alle Völker ein Recht auf ein Stück Land. Der Staat Israel wird nicht theologisch aufgeladen, das verdient keine Staat und erst recht keine Obrigkeit. Hier handelt es sich um Menschen und menschliche Einrichtungen. Aber die Synode sieht auch hier Gottes Treue zeichenhaft am Werk (Zeichen sind Hinweise, keine Beweise). Die Erwähnung Gottes in diesem Zusammenhang sagt, dass wir Christen die Gerechtigkeit Gottes ernst zu nehmen haben, allen Menschen, vor allem aber den Bedrückten und zu Fremden Gemachten, eine Existenzgrundlage zu geben Die Christenheit kann nicht Verheissungen Gottes an Israel und die Völker auf sich beziehen, indem sie diese spiritualisiert, so als habe Gott Abraham und seinen Nachkommen eine Luftbuchung verheissen. Es geht um ein Stück Land, wie es jedem Volk zusteht, denn die ganze "Erde ist des Herrn" (Ps 24,1). Sie hat er allen "Menschenkindern gegeben" (Ps 115,16). Gottes Segen an Abraham und seine Nachkommen gilt auch dem erstgeborenen Sohn Ismael, dem Vorfahren der Araber (vgl zB 1.Mose 17,17-21).

Wenn ich das sage, dann erinnere ich - wie die Synode 1988 - an die Ungerechtigkeiten, die seit damals in den besetzten Gebieten bis noch schlimmer geworden sind. Noch ist die Forderung nach "Toleranz, Gleichberechtigung und Wahrung des Lebensrechtes aller dort lebenden Menschen" nicht realisiert. Ich werde konkreter: Wer Scharon als den Exponenten des Judentums ansieht, muss George W. Bush als den Exponenten des Christentums nehmen. In einer Demokratie stehen beide zum Glück unter Kritik, sowohl durch Gläubige wie durch Religionskritiker. Sie stehen in einer offenen und öffentlichen Debatte. Wer Menschen und Religion verachtende Selbstmordattentate als typisch für den Islam ansieht, tut, was Terroristen gern wollen: Sich als die wahren Zeugen, auf deutsch "Märtyrer" für den rechten Glauben zu betrachten. Die ökumenische Christenheit kann sich immer wieder nur für die Mittel des Rechts in Gestalt von Völkerrecht und Menschenrecht stark machen, dh gegen Gewalt und für Verhandlungen aussprechen. Alle Vertretern religiöser und politischer Konzepte leiden unter einem Mangel an Fähigkeit zur Selbstkritik. Von der profetischen Praxis der Selbstkritik wäre hier zum Abbau von Überlegenheitsphantasien viel zu lernen.

4.    "Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Tora". Wo hier in der jüdischen Erklärung "Tora" steht, haben wir Christen fast immer "Gesetz" gelesen, und gehört haben wir "Zwang, Leistung und Unfreiheit". Das AT erschien als das Buch einer Gesetzesreligion, welcher der Buchstaben viel, der Geist wenig bedeute. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung hatten wir Christen eine Binde vor den Augen, die nicht erkennt, wie lebendig auch im Judentum das Wortes Gottes immer wieder neu ausgelegt wird. Das geschieht sowohl innerhalb der Bibel wie in der nachbiblischen rabbinischen Bemühung, um herauszufinden, was der Wille Gottes für hier und heute ist. Die einfache Wiederholung biblischer oder nachbiblischer Sätze reicht nicht. Tora ist lebendige Lehre, die nicht vertrocknet. Sein Wort gibt Gott uns zum Leben, nicht zum Konservieren. In jeder Gestalt kann es durch uns pervertiert werden – als Evangelium kann es "billige Gnade", "Schleuderware, die keiner braucht" werden, wie Dietrich Bonhoeffer uns hinterlassen hat. Als Gebet kann es totes Rituals, als Glaubensbekenntnis ein nichtssagender Erinnerungsposten, als Gebot ein starres Verhaltensmuster werden. Und noch eins: Es gibt im Alten Testament Evangelium und im Neuen Testament Gesetz. Ihre Synode hat durch den starken Hinweis auf die Verheissungen Gottes in der Bibel und durch die stillschweigende Übersetzung von "Gesetz" mit "Weisungen" (4.2) dies klargestellt. Gottes Namen sind Liebe und Gerechtigkeit. Er schenkt sie uns als Gaben und Aufgaben. Das sind seine Weisungen.

5.    "Der Nazismus war kein christliches Phänomen". Ich halte diesen Satz für zu harmlos. Die Nazis hatten als ihre Kernideologie einen Rassismus und Antisemitismus, der einen Teil der Ebenbilder Gottes als sog. Untermenschen vom Lebensrecht der sog. arischen Herrenmenschen ausschliesst. Die biblisch begründete Gleichheit aller Menschen abzulehnen, stammt weder als Idee noch als Praxis, von den Nazis. Sie haben sie nicht erfunden, sie haben sie vorgefunden, genau so wie das Vertrauen in Obrigkeit und Gewalt und die Verachtung des Rechtes und die Ablehnung der Demokratie. Und wo fanden die Nazis das Alles vor? In einer christlich geprägten Gesellschaft. Sie mussten diese unmenschlichen Fundstücke nur noch durch Medien und Wissenschaften breittreten, mehrheitsfähig machen und bewaffnen. Weil das so ist, bekennt die Badische Synode die christliche "Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland" (1.4.) an der Ermordung der Juden, weil der christliche Antijudaismus "eine der Wurzeln des Antisemitismus" ist(1.3). Antisemitismus und theologisch begründeter Antijudaismus gab und gibt es in vielen Ländern. Wir in Deutschland haben darüber hinaus zu fragen, welche Faktoren gerade in unserem Land einen mit allen Mitteln der Moderne durchgeführten Völkermord ermöglichten.

6.    (7) "Ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen". Wir Christen sind erst auf dem Weg, eine Minderheit zu werden, eine Erfahrung, die Israel seit seinen Anfängen machen muss: Als Minderheit in einer Mehrheit zu leben, heisst als Minderheit gefährlich zu leben. Der zitierte Satz ist nach innen in die jüdische Gemeinschaft hinein gesprochen. Wir als Mitglieder einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft sollten die Erfahrung einer Minderheit in unserer Mitte nicht überhören. Darin steckt die Bitte um gleiches Recht und freie Luft zum Leben. Mehrheiten setzen sich gern als Norm mit Zwang zur Unterordnung oder zur Anpassung. Viele Minderheiten leben verunsichert oder sogar verachtet und gehasst unter uns.

7.    (8) "Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen". 1984 ging dieser jüdischen Stellungnahme mit vielen christlichen Stellungnahmen die Erklärung der Badischen Synode voraus, in der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, mit den Juden "für Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt zu arbeiten (4.3). Hier ist die Erde als der Verantwortungsraum festgehalten. Eine Weltflucht lässt diese umfassende Hoffnung nicht zu.

Was wären alle christlichen Bemühungen um das ökumenische Programm "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung", wenn wir nicht die Hebräische Bibel als das Wort Gottes hätten, das uns orientiert? Wo sonst ist zu lernen, dass die "Frucht der Gerechtigkeit Frieden ist"(Jes 32,17)? Wo sonst liegt das Recht auf Kirchenasyl? Wo sonst stehen so viele Gebote, Gottes Schöpfung zu pflegen und zu bewahren? Wo hat die Welt Entscheidendes für die Menschenrechte gelernt? Doch in der Schöpfungsgeschichte, dass Mann und Frau in gleicher Weise als Ebenbilder Gottes geschaffen sind, dass jeder Mensch seine Kostbarkeit und einzigartige Würde durch den einzigen Gott hat – ohne Rücksicht auf Geschlecht, Religion, Nationalität, Reichtum oder Aussehen. Das ist Evangelium und Gesetz zugleich, dh eine gottgeschenkte Lebensmöglichkeit, die nicht nur für sich selbst wahrzunehmen, sondern allen zu ermöglichen ist.

Unsere europäischen Staatskirchentümer trieben die von Staat und Kirchenhierarchie unabhängigen Christengemeinden nach Amerika, woher sie (nach der Schoa) als Grundrechte wieder nach Deutschland gebracht werden mussten: "Alle Menschen sind gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveränderlichen Rechten ausgestattet, insbesondere den Rechten auf Leben, Freiheit und Glück". Auch die Französische Revolution hatte für ihre später kommende Menschenrechtserklärung gegen ein macht- und mammonbesetzte Kirche keine anderen Wörter als die biblischen Hauptworte "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Die Erkenntnis, dass die biblischen Hauptworte Recht und Gerechtigkeit die friedenstiftenden Alternativen zu Unrecht und Gewalt sind, verbindet Juden und Christen. Beide verbindet auch die Tatsache, dass sie zu ängstlich sind, aus diesen biblischen Einsichten Konsequenzen zu ziehen.

VII  Der bleibende Unterschied zwischen Juden und Christen

In der rabbinischen Erklärung steht der Hinweis auf den bleibenden und entscheidenden Unterschied zwischen Juden und Christen im Abschnitt (6). Wegen seines Gewichtes dort und in der badischen Erklärung behandele ich ihn am Schluss.

1.    "Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit". Die Badische Synode bündelt die zentrale christliche Aussage in dem Bekenntnis "zu Jesus, der ein Jude war, als den für alle gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Herrn, dem Heiland der Welt". Hier wird deutlich, dass jüdisch-christlicher Dialog nicht auf einen Religionsmix hinaus will, sondern auf ein wahrhaftiges Benennen der eigenen Identitäten und damit der Unterschiede, die ehrlich, nicht feindlich auszuhalten sind. Paulus spricht von Schmerz und Trauer (Röm 9,1-5), nachdem er die hoffende Wahrheit des christlichen Glaubens darstellt und bevor er die sieben bleibenden Gaben Gottes an Israel aufzählt (Gottes Sohn zu sein, die Gegenwart Gottes, die Bundesschlüsse, die Gabe der Gebote, den Gottesdienst, die Verheissungen, die Erzväter) aufzählt. Dann betont er, dass Jesus aus Israel stammt hat. Wie Paulus spricht die Badische Synode, "mit Schmerz und Trauer" aus, was uns "vom Glauben des jüdischen Volkes trennt".

Ich muss zu diesem Punkt fünf Anmerkungen machen.

(a)    Wenn ich alle Erklärungen der Christenheit  anschaue, dann wird der Reichtum der biblischen Sprache auch darin deutlich, dass es noch nicht ausgemacht ist, wie das neue, geschwisterliche Verhältnis von Kirche und Israel zu beschreiben ist. Da gibt es die Vorstellung der Völkerwallfahrt zum Zion mit dem Ziel, dass dort alle Völker Gottes Wege und Weisungen lernen und den Krieg verlernen (Jes.2,1-5; Micha 4,1-4). Andere denken an zwei Wege des Tora und des Christus, die jeweils von Israel bzw der Kirche von und zu Gott gegangen werden. Andere sprechen von einem ungekündigten Bund Gottes mit Israel, in den Menschen aus allen Völkern hinein genommen werden. Ähnlich ist die Überlegung, die ein gespaltenes Gottesvolk aus Israel und Kirche betont. Alle Überlegungen haben biblische Belege, alle aber haben Teil an den begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Glaubens, angemessen das zur Sprache zu bringen, was Gottes Konzept mit deiner Welt ist.

(b)    An dieser Stelle muss ich einfügen, dass auch Belege für judenfeindliche Einstellungen sich auf die Bibel berufen. Joh 8,44 werden die Juden als Teufelskinder gekennzeichnet. Im ersten Brief des Paulus nach Saloniki, es ist sein ältester, wird den Juden vorgeworfen, sie seien Gottes und der Menschen Feinde. Sie hätten Jesus und die Profeten getötet (1 Thess 2,13-16). Dazu ist zu sagen, dass diese Aussagen aus dem auf beiden Seiten polemischen und schmerzlichen Prozess stammen, in dem sich langsam die Gemeinde der Jesus-gläubigen Juden von der Gemeinde der Juden trennt, die im Kommen Jesu nicht den Anbruch der messianischen Zeit sehen können. Hinzu kommt, dass die biblische Sprache scharf sein kann. Denken Sie an die Kritik der Profeten oder an den Verweis, den Petrus sich einhandelt, als er Jesus vom Weg nach Jerusalem abhalten wollte: "Verschwinde, du Satan!". (Nur hat diese Abkanzelung der Karriere des Petrus nicht geschadet, wohl aber die Polemik gegen die Juden in Joh 8,44!). Ausserdem ist darauf zu achten, ob in der Polemik gegen "Juden" nicht Judenchristen gemeint sind, wie in der Paulus-Petrus-Kontroverse um die volle Geltung der Tora in der Gemeinde aus Juden und Christen. Wichtig ist dass die angeführten Paulus- oder Johannesstellen nicht unkommentiert im Gottesdinest oder Unterricht gelesen werden. Aufgrund ihrer mörderischen Wirkungsgeschichte, die sie ihrer Isolierung verdanken, ist ihnen auch deutlich zu widersprechen, zuerst mit Johannes selber "Das Heil kommt von den Juden!" (Joh 4,22) und mit Paulus (Röm 9-11), der die bleibende Erwählung Israels in seinem letzten Brief klarstellt.

(c)    Die Erklärung Ihrer Synode weist mit Nachdruck auf das neutestamentliche Zeugnis hin, welches das Leben und den Weg Jesu Christi als ein Kommen des "Heilands der Welt" zu allen Menschen darstellt. Mit diesem legitimen christlichen Bekenntnis darf zweierlei nicht verbunden sein: Einmal die Gegenüberstellung, als sei der christliche Glaube universal und der jüdische partikular-national, nur auf das jüdische Volk bezogen. Beide Glaubensweisen sind – angefangen bei Gottes Schöpfung und endend bei der messianischen Vollendung der Welt - universal. Die Versuchung, sich durch nationale, soziale, gruppenspezifische Interessen gefangen nehmen zu lassen, kennen alle. Zum anderen erlaubt dieses Bekenntnis keine Judenmission. Der Satz (3.5)in der badischen Erklärung macht das deutlich: "Im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam ihm gegenüber wollen wir unser Verhältnis zu den Juden neu verstehen und festhalten, was uns mit ihnen verbindet". Und das ist mehr als das, was uns trennt. Lehrreich auch für uns hatte die Synode der Niederländischen Hervormde Kerk schon früh drei Arten des christlichen Zeugnisses in der Welt unterschieden: Das Gespräch mit Israel aufgrund der selben Heiligen Schrift, die Mission unter den Völkern und die Mission unter säkularen, früheren Christen.

(d)    Das "ehrliche Aushalten" der Unterschiede ist kein passives Stillstehen im Glauben und Erkennen, sondern die Bemühung, den jeweils anderen noch besser in seiner Vielfalt, in seinem Selbstverständnis und vor allem in seinen Fragen an uns zu verstehen. Was ist die jüdische Anfrage an die Christenheit? Sie ist eine zutiefst biblische, weil sie die Verheissungen Gottes für das messianische Reich ganz ernst nimmt. Sie muss dann die, die sich die "Messianischen" nennen (so wörtlich ist "die ChristInnen" zu übersetzen!), fragen, wo denn Schwerter zu Pflugscharen wurden, wo denn der Tod und die Krankheit, die Armut und das Unrecht besiegt seien. Der Erneuerer der christlichen Dogmatik nach der Schoa, Friedrich Wilhelm Marquardt, weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Juden und Christen erst dann neu ist, wenn die Christenheit das jüdische Nein zu Jesus als dem Messias positiv als Treue zu den biblischen Verheissungen Gottes versteht. Geschieht das, dann ist unsere Nachfolge Christi gefragt. Er ist der Erstgeborene einer neuen Schöpfung. Wir sind mit ihm auf seinen messianischen, dh christlichen und eben nicht unchristlichen Wegen unterwegs, bis wir schauen, was wir glauben.

Auf seinen messianischen Wegen begegnen uns die, die kein oder zu wenig Brot haben (Ein Drittel der Weltbevölkerung), die kein sauberes Wasser haben (1,2 Milliarden), die kein Obdach haben, sondern Flüchtlinge (70 Millionen) oder Obdachlose (5,5 Millionen) sind, die zum Schutz ihrer Intimsphäre sowie gegen Kälte oder Hitze keine Kleidung haben, die krank sind und die, die eingesperrt sind. Gewaltlos besiegt Christus diese Gewalt, unter der so viele leiden. Sein Leib tut nichts anderes. Da der Messias, der Christus in all diesen Ebenbildern Gottes steckt (Mt 25), läuft uns der Messias täglich über den Weg – bis mit dem himmlischen Jerusalem Gott selber bei uns wohnen wird und "alle Tränen abwischen wird, und der Tod nebst Leid, Angstgeschrei und Schmerzen nicht mehr sein werden, denn das Erste ist vergangen". (Off 21,1-7).

(e)    Ich muss daran erinnern, dass die Bibel einen unvorstellbaren sprachlichen Reichtum besitzt, um den Beruf und die Gaben Christi zu beschreiben. Er ist unser Freund und Hirte, Hoher Priester und Opferlamm, Rabbi und Profet, Zeuge Gottes und Vorbild, Kritiker und Anwalt der Seinen, Menschensohn und Gottessohn, Davids und Marias Sohn, Knecht Gottes und Knecht der Menschen usw. So wenig es eine einheitliche Lehre von der Kirche (Ekklesiologie) oder ihren Ämtern im Neuen Testament gibt, so wenig gibt es eine einheitliche Lehre vom Messias und vom Christus in beiden Teilen der Bibel. Das macht unseren Glauben nicht ungewisser, sonder reicher. Seine verschiedenen Sprachen ermöglichen verschiedenen Menschen verschiedene Zugänge zum Reichtum der biblischen Botschaft. Diese Botschaft ist nicht begierig, sich anderen als überlegen zu behaupten, sondern immer wieder neu verstanden und gelebt zu werden.

In der Antwort der Rabbiner ist die Spannung ausgesprochen, die wir auszuhalten haben. Es ist die Spannung derer, die das Ziel und die Wegweiser kennen, aber noch nicht am Ziel sind. Erst "Wenn das Vollkommene kommen wird, wird das Stückwerk aufhören...Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die grösste unter ihnen" (1 Kor 13). Diese drei Wirklichkeiten, vor allem aber die Grösste unter ihnen, die Liebe, gelten auch für die unabgeschlossene Erneuerung der Beziehungen zwischen Juden und Christen.