Zur Einführung
Europas Juden packen ihre Koffer. Denn die antisemitische Seuche ist zurück und sie verbreitet sich mit beängstigender Rasanz. 70 Jahre nach der Shoah fühlen sich die Juden in Europa nicht mehr ihres Lebens sicher. Um ihre Religion ausüben zu können, brauchen Juden in Frankreich, Deutschland, Österreich und anderswo in Europa massiven Polizeischutz. Immer mehr Juden vermeiden es, in der Öffentlichkeit als Juden erkannt zu werden. Die Zahl der Juden, die Europa den Rücken zukehren, steigt von Jahr zu Jahr. 2014 haben 7000 französische Juden ihr Land Richtung Israel verlassen, 15.000 werden es 2015 sein. Juden sind in Europa zum Freiwild geworden, warnt der Europäische Jüdische Rat.[1]
Die Mordanschläge in Toulouse 2012, Brüssel 2013, Straßburg 2014, Paris und Kopenhagen 2015 beunruhigen als Signaturen einer neuen Entwicklung sich radikalisierender, islamistischer Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen mitten in Europa. Der europäische Kontinent ist zum Schauplatz eines global agierenden Djihadismus geworden, zur Arena einer Art ideologischen Endkampfes zwischen islamischem Mittelalter und dem aufgeklärten Rest der Welt. Wie ein Flächenbrand verbreitet sich der islamistische Hass gegen Juden auch in Europa. Und er trifft hier auf nur auf wenig Gegenwehr. Europas antisemitische Immunschwäche ist das Einfallstor für die Pandemie islamistischen Antijudaismus.
Nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg war der Antisemitismus in Europa so hoch wie seit der Jahrtausendwende. Zahlreiche europäische Länder verzeichnen in ihren offiziellen Statistiken einen laufenden Anstieg antisemitischer Straftaten. Insbesondere in den neuen sozialen Medien nimmt der hate speech gegen Juden und Israelis zu. Europaweit erleben Weltverschwörungsfantasien eine publizistische Renaissance.[2] Laut einer weltweit durchgeführten Studie haben 24 Prozent der Westeuropäer und 34 Prozent der Osteuropäer antisemitische Haltungen.[3] Und nach einer vom britischen Kantor Center veröffentlichten Studie stiegen 2014 europaweit die antisemitischen Angriffe um 38 Prozent.
Der christlich geprägte europäische Antisemitismus amalgamiert sich – angeheizt durch den Nahost-Konflikt – mit dem islamistischen Antizionismus zu einer unheilvollen und explosiven Melange diffuser, antisemitischer Vorurteile, Stereotype und Ängste, die sich in einem Grundgefühl bündeln: im Hass auf Israel.
Während die Zahl der Juden in der europäischen Diaspora stetig schrumpft, nimmt der Antisemitismus beängstigend zu. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn der Antisemitismus kommt auch ganz ohne Juden aus. Der antisemitische Hass fokussiert heute auf den jüdischen Staat: Israel ist der ‚kollektive Jude‘, der für alles Übel in der Welt – von der Wirtschaftskrise bis zum gestörten Weltfrieden – verantwortlich gemacht wird. Das antisemitische Vorurteil ist wandlungsfähig, es tritt in der Maske des Antizionismus und Anti-Israelismus auf, verbindet Linke wie Rechte, Gläubige wie Ungläubige, Muslime wie Christen und agiert international.
Mit seiner Topographie hat der Antisemitismus auch seine Lexigraphie grundlegend verändert: Der Antisemit ruft, wie Esther Shapira treffend anmerkt, „Zionist“ und meint aber „Jude“ – und er hasst Israel nicht wegen seiner Nahost-Politik, sondern wegen der Existenz des jüdischen Staates.
Vor 50 Jahren, 1965, hat in der Kirche eine neue Zeitrechnung begonnen: Das Zeitalter der Aussöhnung mit dem Judentum, aus dem das Christentum hervorgegangen ist. Nahezu zweitausend Jahre lang entwickelte sich das Christentum in Abgrenzung und Gegnerschaft zum Judentum. Das Judentum und die jüdische Religion dienten bloß als „negative Hintergrundfolie“, vor der die Vorzüge und die Vorrangstellung des Christentums umso deutlicher erstrahlen sollten. Die Juden wurden als „verworfen“ angesehen, weil sie Jesus als den verheißenen Messias ablehnten. Und sie wurden des „Gottesmordes“ schuldig gesprochen, weil sie Jesus dem Tod am römischen Kreuz auslieferten. Das waren die beiden religiösen Schlüsselmotive für den christlichen Antijudaismus durch die gesamte Geschichte des Christentums hindurch. Beide Vorwürfe dienten Jahrhunderte lang – von wenigen historischen Ausnahmen abgesehen – als Rechtfertigung dafür, die jüdische Religion als minderwertig zu diskreditieren, das „alte“ Testament abzuwerten und die Juden zu ächten und zu verfolgen. Mit Jesus Christus sei der „alte“ Bund Gottes mit dem Volk Israel überholt, an seine Stelle sei nun der „neue Bund“ getreten. Das Christentum habe das Judentum in seiner heilsgeschichtlichen Stellung gleichsam ersetzt.
Mit dieser Sichtweise brach das Zweite Vatikanische Konzil (1962- 1965). Die Zeit drängte, ein neues Kapitel in der leidvollen Geschichte des jüdisch-christlichen Verhältnisses aufzuschlagen und die kirchliche Doktrin der Verachtung der Juden zu begraben. Sie diente durch die Geschichte der vergangenen 1500 Jahre hindurch als religiöse Rechtfertigung für die Verfolgung der Juden. Am Ende dieser langen, leidvollen Geschichte des christlichen Antisemitismus stand Auschwitz. Der Genozid an den europäischen Juden wäre nicht möglich gewesen, wenn die Saat des Bösen einer wahnhaften, neoheidnischen Rassenideologie nicht auf den fruchtbaren Boden des christlichen Antisemitismus gefallen wäre. Die Geschichte des Holocaust reicht weit zurück ins frühe Mittelalter und sie trägt auch eine theologische Handschrift. Denn der Holocaust ist auch das Ergebnis der „stereotypen Entwertung des Alten Testaments im Christentum…so dass das Christentum letzten Endes einen gewaltigen Anteil an Schuld an dem trägt, was geschehen ist.“[4]
Das Judentum war nach Auschwitz ein anderes als zuvor. Aber auch die Christen konnten nach Auschwitz nicht so tun, als wäre bloß etwas „passiert“, als hätte sich eben ein unvorhersehbarer Unfall in der Geschichte der Menschheit ereignet, über den man schon irgendwie hinwegkommen würde. Dem Holocaust folgte das kollektive Schweigen – nicht ein Schweigen der Scham darüber, was Menschen imstande sein können, anderen Menschen zuzufügen, sondern ein Schweigen des Verleugnens, Verdrängens und Ignorierens. Das lässt sich mit dem jüngst verstorbenen Publizisten Ralph Giordano als „zweite Schuld“ beklagen. Niemand in den Tätergesellschaften ist frei von dieser „zweiten Schuld“: nicht die Politik – einschließlich der Justiz – die sich nur widerwillig und unter Druck der Herausforderung stellte, Gerechtigkeit zu üben und maßgebliche Täter und Mittäter verfolgte; nicht die Medien, die sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – lange Jahre der Aufgabe der Aufklärung verweigerten; und nicht die christlichen Kirchen, die es Jahrzehnte hindurch tunlichst vermieden, sich der kritischen Frage auszusetzen, warum sie und mit ihnen die Christen bei- der Konfessionen, nicht der diabolischen Versuchung des Neoheidentums des Nationalsozialismus und seiner Rassenideologie widerstehen konnten?
Der ‚Zivilisationsbruch‘ der Shoah (D. Diner) bedeutet auch einen Bruch des kulturellen und religiösen Fundaments auf dem das christliche Abendland ruht. Wenn Auschwitz möglich sein kann, dann erscheint nicht nur die Macht aufgeklärter Vernunft diskreditiert, sondern auch die Bindungskraft christlicher Moral und Religion. Auschwitz ist die große Perversion. Auschwitz hat alles in Frage gestellt, was bis dahin als zivilisatorische Errungenschaft Gültigkeit beanspruchte. Von Auschwitz geht eine Lektion aus – die „Lektion der Finsternis“ (G. Messadié): Vor der Macht des absolut Bösen ist weder Vernunft noch Moral oder Religion gefeit.
Die Hoffnungslosigkeit dieser Lektion war es, die Humanisten wie Stefan Zweig im brasilianischen Exil oder Primo Levi als Überlebender der Shoah und unzählige andere mehr an der Menschheit verzweifeln ließ und in den Selbstmord trieb. Aber von Auschwitz geht, speziell für Christen noch eine andere Lektion aus: Sie hat der Münsteraner Fundamentaltheologe J. Baptist Metz formuliert, wenn er deutlich macht, dass die Christen niemals mehr hinter Auschwitz zurückkommen und über Auschwitz hinaus nur noch mit den Opfern von Auschwitz. Dies sei, so Metz, der Preis für die Kontinuität des Christentums jenseits von Auschwitz.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich vor einem halben Jahrhundert der Dialektik von Bewahrung und Erneuerung in der Kirche sowie der damit verbundenen Herausforderung notwendiger Strukturreformen gestellt. Zentrales Leitmotiv des Konzils war das „Aggiornamento“, also die „Verheutigung“. Papst Johannes XXIII., der dieses Konzil ins Leben rief, suchte nach Möglichkeiten und Wegen die wachsende Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft zu überbrücken. Aber es ging darüber hinaus auch noch um etwas Anderes, im Rückblick vielleicht sogar um wesentlich Wichtigeres: nämlich um die unausgesprochene Frage, wie der Abgrund der Barbarei der Shoah, wie die Kluft zwischen Juden und Christen überbrückt werden könnte. Wenn der ‚Zivilisationsbruch‘ der Shoah auch als ein Bruch in der christlichen Zivilisationsgeschichte zu verstehen ist, dann kann die Kirche nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Mag sein, dass Papst Johannes XXIII. solche oder ähnliche Überlegungen anstellte, als er die Idee einer eigenen Judenerklärung des Konzils mit großem Nachdruck verfolgte.
Ein halbes Jahrhundert später bezeichnete Papst Johannes Paul II. die Shoah als „untilgbaren Schandfleck“ in der Geschichte. Er ist und bleibt auch ein untilgbarer Schandfleck in der Geschichte der Christenheit. Es war Nobelpreisträger und Holocaustüberlebender Elie Wiesel, der diese, für Christen bittere Wahrheit so formulierte: „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum“.
Das Christentum ist moralisch und metaphysisch zugrunde gegangen. Papst Johannes XXIII. muss gespürt haben, dass die Shoah dringend einer Antwort der katholischen Kirche bedarf. Er muss gespürt haben, dass die Kirche den unschuldigen Opfern diese Antwort schuldig ist. Und er muss gespürt haben, dass eine schuldig gewordene Kirche, eine in Schuld verstrickte Christenheit ebenso einer solchen Antwort bedürfen – ihrer selbst und ihrer Zukunft wegen.
So mag der tiefere Sinn dieses denkwürdigen Konzils auch und vor allem darin zu sehen sein, diese Kontinuität des Christentums über den Zivilisationsbruch der Shoah hinaus, möglich werden zu lassen. Und um dafür die Voraussetzungen zu schaffen, musste die Kirche zuerst ihr schuldbeladenes Verhältnis zum Judentum in Ordnung bringen. Die Opfergeschichte des Judentums, die im Genozid an den europäischen Juden ihr abgründiges, dämonisches Finale hatte – diese Opfergeschichte ist nicht nur peripher, sondern substantiell mit der Geschichte des Christentums verbunden. Deswegen bedurfte es einer radikalen Wende, um die Zukunft des Christentums zu retten, um jene Kontinuität des Christentums über Auschwitz hinaus möglich werden zu lassen. Es bedurfte – und so hat es Papst Johannes XXIII. wohl auch gesehen – einer grundsätzlichen Weichenstellung mit dem Ziel wahrhafter und nachhaltiger Versöhnung mit dem Judentum.
Diese Weichenstellung erfolgte dann auch. Und zwar durch ein Dokument, das – gemessen an seinem Umfang – das Unscheinbarste, aber von seinem Anspruch und seiner Programmatik her, wahrscheinlich das Revolutionärste unter allen Konzilsdokumenten war. Sein Name: Nostra Aetate – Unsere Zeit. Der Umstand, dass es nur gegen massive innerkirchliche und politische Widerstände seitens arabischer Regierungen durchgesetzt werden konnte, unterstreicht die theologische und politische Brisanz dieses Dokuments.
Vieles ist in den vergangenen Jahren über diese Konzilserklärung geschrieben worden, aber das Entscheidende scheint mir wohl dies zu sein: Nostra Aetate war und ist der Versuch, dem Christentum diese Zukunftsperspektive über Auschwitz hinaus zu eröffnen, ihm durch eine radikale Kehrtwendung in der Haltung der Kirche zum Judentum, die verlorene Würde wiederzugeben.
Der eingeleitete Prozess der Versöhnung mit dem Judentum bedeutete zugleich auch eine therapeutische Chance für die Christen: Sie wurden mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich ihren eigenen Schatten zu stellen, sich also mit der weithin verdrängten christlichen Schuldgeschichte auseinanderzusetzen. So gesehen war Nostra Aetate auch ein Akt kollektiver Psychohygiene des katholischen Christentums.
Daran knüpfte sich die Hoffnung, dass die Wunden, die historische Schuld und Mitschuld der Kirche und der Christen am unendlichen Leid der Juden in der christlichen Kollektivseele hinterlassen haben, langsam heilen könnten. Heute, 50 Jahre später, ist von dieser Hoffnung nicht sehr viel geblieben.
Der Judenhass ist virulenter denn je und der neue Antisemitismus in Gestalt des Antizionismus hat Europa fest im Griff. Haben also mit dem Bildungssystem auch die christlichen Kirchen versagt, weil es nicht gelungen ist in der Zeit ‚nach Auschwitz‘ gegen den antisemitischen Virus zu immunisieren? Ist die Botschaft, die von Nostra Aetate ausgeht, überhaupt bei den Christen angekommen? Erkennen die Christen, dass der Antisemitismus eine existenzielle Herausforderung ist, die nicht nur mit den Juden, sondern auch und noch viel mehr mit ihnen selbst und ihrem religiösen Selbstverständnis zu tun hat? Gibt es ,nach Auschwitz‘ das christliche Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft mit den Juden? Reicht das Engagement christlicher Kirchen über die Organisation interreligiöser Dialoge, den Austausch ökumenischer Höflichkeiten und die Inszenierung programmatischer Erklärungen zu humanitären Selbstverständlichkeiten hinaus? Können sich die christlichen Kirchen guten Gewissens auf den Standpunkt zurückziehen, der neue Antisemitismus in Europa hätte mit allem anderen zu tun, mit der Politik Israels, der Komplexität des Nahost-Konflikts, dem sich radikalisierenden Islam, den extremen Linken und Rechten, den ins soziale Out getriebenen Wohlstandsverlierern oder den Globalisierungsgegnern – nur nicht mit ihnen selbst? Wie glaubhaft wäre ein solcher Standpunkt, wenn zugleich deutlich geworden ist, dass dieser neue Antisemitismus im Gewand des Antizionismus nicht von den Rändern der Gesellschaft, sondern aus deren – christlicher – Mitte kommt?
Wenn heute bei Anti- Israel- Demonstrationen auf Deutschlands Straßen „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandiert wird und der kollektive Aufschrei der Zivilgesellschaft, der leidenschaftliche Protest der Christen ausbleibt, dann müssten die Alarmglocken läuten. Zumindest bei all jenen, die sich nicht mit dem Gedanken abfinden wollen, dass von Auschwitz nichts weiter geblieben ist als eine verblassende Erinnerung an einen bedauerlichen Unfall der Geschichte.
Die Christen stehen in einer dreifachen Verantwortung: In der Verantwortung einer anamnetischen Kultur, einer Kultur also, die das Leidensgedächtnis an die unschuldigen Opfer wachhält[5] in der Verantwortung einer neuen christlichen Identität aus den Quellen des Judentums ,nach Auschwitz‘; und in der Verantwortung einer solidarischen Beziehung zum Judentum der Gegenwart.
Alle drei gehören zusammen: Ohne Leidensgedächtnis kann es keine neue christliche Identität ,nach Auschwitz‘ geben; und ohne neue christliche Identität aus den Quellen des Judentums, die auch das Jude-Sein Jesu in das christliche Credo integriert, würde eine solche Memoria Passionis (J.B. Metz) zur bloßen Inszenierung verkommen. Beides wiederum muss sich in der Praxis bewähren – sowohl jener des Glaubens, wie auch jener des politischen Handelns.
Wenn es die christlichen Kirchen und die Christen ernst meinen mit ihrem proklamierten Bekenntnis zum Judentum, dann kann damit nicht nur das historische Judentum der Bibel gemeint sein. Dann geht es auch um die Beziehung der Christen zum jüdischen Staat. In einer Situation zunehmender Isolation Israels und eines nach wie vor drohenden atomaren Holocausts durch das iranische Atomprogramm, stünde es gerade den europäischen Christen gut an, dem jüdischen Volk jene Solidarität entgegenzubringen, die sie – um es nochmals zu sagen – in der Nazi-Zeit vermissen ließen.
Was linke wie rechte Antizionisten gerne vergessen wollen: Der jüdische Staat ist kein ‚Staat wie jeder andere auch‘, weil er die Antwort auf eine Jahrhunderte lange Verfolgungsgeschichte, insbesondere den nationalsozialistischen Genozid ist.[6]
Auch wenn sich das religiöse Bewusstseins der Gesellschaft verändert hat und nur mehr die wenigsten Christen die christlichen Glaubenswahrheiten für gültig und verpflichtend halten – mit der Erosion des religiösen Glaubens ging nicht auch schon eine Erosion religiös motivierter antijüdischer Obsessionen einher. Der tradierte religiöse Glaube hat sich zwar verflüchtigt – nicht aber der durch den christlichen Glauben durch Jahrhunderte hindurch begründete Antisemitismus. Der Glaube ging, der Antisemitismus blieb.
Die negativen Mythen über Juden, die dem christlichen Schoß entsprangen, wurden durch zwei Jahrtausende hindurch theologisch kultiviert und in der religiösen Praxis von Christen tradiert. Sie haben sich nicht einfach aufgelöst, sondern bleiben auch im säkularen Zeitalter als eine Art religiöser Hintergrundstrahlung erhalten. Religiöser Antisemitismus funktioniert auch ganz ohne Religion.
Der Antisemitismus ist und bleibt ein Stachel im Fleisch der Christenheit – gleichviel wie stark oder schwach die kirchlich-religiösen Bindungen auch heute sein mögen.
Im Juni 1941, acht Monate vor seinem Selbstmord im brasilianischen Exil, schrieb der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig – Jude, Humanist und Kosmopolit – in einem Brief an seinen Freund Paul Zech: „Wir brauchen einen ganz anderen Mut.“ Geschrieben hat Zweig diese Zeilen aus tiefster Verzweiflung über die Verfolgung und Ermordung der Juden und den Untergang Europas im Sumpf der nationalsozialistischen Barbarei. Welchen ‚Mut‘ hier Stefan Zweig letztlich auch gemeint haben mag – es war nicht der Mut zur naiven Hoffnung, dass sich die Barbarei, die Europa in den Untergang stürzte, von selbst erledigen würde. Angesichts des neuen antisemitischen Furors in Europa und der Welt brauchen wir auch heute einen ‚ganz anderen Mut‘: den Mut zum Widerstand. Darin liegt eine bleibende moralische Herausforderung, der sich jede Generation aufs Neue stellen muss. Denn „jede Generation, die vor der Aufgabe versagt, sich aus dem Bann der Judeophobie zu lösen, macht ihre Kinder und Kindeskinder zu Wiederholungstätern.“[7] Niemand war intensiver und anhaltender in die Abgründe des Antisemitismus verstrickt als die Kirche und mit ihr das Christentum. Christlicher Antisemitismus war und ist ein schwerwiegender Makel des Christentums. Dieser Makel gehört dringend behoben. Das ist nicht nur Aufgabe der Theologen, sondern aller, denen die christliche Religion ein Anliegen ist.
Die Zukunft des ökumenischen Verhältnisses zum Judentum entscheidet sich nicht in den zahlreichen interreligiösen Dialogzirkeln und internationalen Gesellschaften jüdisch-christlicher Zusammenarbeit. Sie entscheidet sich ausschließlich an der Bereitschaft und Fähigkeit der Christen, dem Antisemitismus die Masken, mit denen er sich zu tarnen sucht, vom hassverzerrten, bösen Gesicht zu reißen – auch auf die Gefahr hin, sich in diesem entstellten Gesicht vielleicht selbst erkennen zu müssen…
Dazu möchte dieses Buch ermutigen.