Im Mittelpunkt steht der Erzvater, der noch seinen ursprünglichen Namen „Abram“ trägt. Mit Abraham setzt keine Biographie im modernen Sinne ein, sondern die Geschichte eines Mannes mit seinem Gott. Zweimal bezeichnet das Alte Testament Abraham als „Gottes Freund“ (2 Chr 20,7; Jes 41,8). In der Gottesbegegnung des Urvaters scheint bereits die Verbundenheit Gottes mit seinem Volk Israel durch. Als der Herr Abram beruft, trägt er den Gottesnamen JHWH: „Ich bin da – Ich werde da sein.“ Der Name bekundet das göttliche Wesen: Von Anfang an erweist sich Jahwe als ein Gott des Weges und der Begleitung. Gottes Geschichte mit dem Menschen beginnt mit dem Ruf ins Ungewisse, mit Aufbruch und Bewegung.
Die Erzählung in Genesis 12 setzt unvermittelt mit Gottes Geheiß an Abram ein. Kurz und klar erfolgt die göttliche Forderung, und ihre Unbedingtheit erfasst Moses Mendelssohn (1729-1786), der als erster Jude eine Tora-Übersetzung ins Hochdeutsche schuf:
Gen 12,1: Der Ewige hatte aber zu Awram gesprochen:“Zieh hinweg aus deinem Land, von deinem Geburtsort und von deines Vaters Hause in das Land, das ich dir zeigen werde.“[2]
Eindringlich lautet der göttliche Befehl auf Hebräisch: „Lech Lecha“ – לֶךְ־לְךָ „zieh hinweg“ - „geh für dich heraus“. Das Zeitwort, das hier gewählt wurde („halach“), bedeutet „sich auf den Weg machen, sich unterwegs befinden“. Es beschreibt nicht einfach eine lokale Ausrichtung oder eine geographische Bestimmung, sondern es bezeichnet das Aufgeben und die innere Loslösung von allem. Der Ruf „Lech Lecha“[3] unterstreicht die Absolutheit des Befehls: „die Uninteressiertheit an allem Sonstigen, sich um nichts anderes kümmern, als nur das Gehen an sich, sich darin verlieren, seinen eigenen Weg gehen“[4].
Der jüdische Bibelkommentator Benno Jacob, der 1934 in der Zeit der Judenverfolgung „Das erste Buch der Tora: Genesis“ übersetzte und erklärte, vermittelt uns philologisch den tiefen Sinn dieses schlichten Satzes: „Das Gotteswort לֶךְ־לְךָ an Abraham erscheint damit sofort in seiner höchsten Bedeutsamkeit: durchschneide alle Bande, geh, ohne zurückzublicken. Es ist die Forderung an den Gottberufenen, einzig seinen Weg zu gehen.“ Der Befehl steigert sich dramatisch durch die dreifach eskalierenden Forderungen: Dreimal heißt es „wegziehen“, und immer wird die persönliche Bindung durch das Suffix „dein“ betont: „heraus aus deinem Land“, d. h. weg von allen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und gefühlsmäßigen Bindungen an die Heimat; „aus deiner Verwandtschaft“ und schließlich „aus dem Haus deines Vaters“, aus dem Elternhaus, das die soziale Herkunft und Zugehörigkeit bestimmt. Rabbiner Jacob bezeichnet es als „die große Paradoxie, dass die Geschichte des Volkes, dessen Stärke die Familie und die Treue gegen die Vergangenheit werden soll, damit beginnen muss, mit Tradition und Vorfahren zu brechen – weil Gott ruft.“[5]
Ohne Fragen und ohne Zögern, ohne wenn und aber, folgt Abraham dem göttlichen Befehl. Er verlässt Ur in Chaldäa und zieht Richtung Kanaan.
Dreifach fordert Gott von Abram, Abschied zu nehmen: von Heimat, Verwandtschaft und Elternhaus.
Dreimal verheißt Gott Abram Segen: im Blick auf ein neues Land als Raum des Lebens, auf die künftige Nachkommenschaft und auf einen bedeutsamen Namen:
Gen 12,2: „Und ich will dich machen zu einem großen Volke und werde dich segnen und will deinen Namen groß machen, und sei Segen.“ (Jacob)
„Segnen“ (barach) meint zunächst: mit materiellen Gütern und irdischem Glück versehen, worunter vor allem Reichtum und Kinder zu verstehen sind. Betont wird jedoch die Verheißung einer großen Nachkommenschaft, die erstaunlich klingt für den bereits hoch betagten Mann und seine unfruchtbare Frau Sarai (Sara). Gottes Segen erweist sich in der späten Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Isaak, aber er erschöpft sich nicht im wundersamen Glück dieser unerwarteten Elternschaft, sondern erfüllt sich erst in jenem Volk, das Gott erwählt und mit dem er seinen Bund schließt für alle Zeiten.
Am Anfang dieser Zukunft steht Abraham.
Der Herr, dessen Name unaussprechbar und heilig ist, sagt zu Abram: „ich werde deinen Namen groß machen“. Die frühjüdische Auslegung, der Midrasch Bereshit rabba (2.-3. n.Chr.), deutet das Wort „groß machen“ konkret als „vergrößern“, d.h. ihm einen Buchstaben hinzufügen: Abram – Abraham. Der längere Name symbolisiert Abrahams Erhöhung: Kein anderer menschlicher Name ist von Gott in gleicher Weise „vergrößert“ worden.[6] Erst als Gott seinen ewigen Bund mit ihm und seinen Nachkommen schließt, wird „Abram“ namentlich in „Abraham“ und somit zum „Vater aller Völker“ verwandelt (Gen 17,3-6). Auch seine Frau „Sarai“ wird durch die Verheißung eines Sohnes zu „Sara“, „der Fürstin“ über Könige und Völker (Gen 17,15-16). Namen sind im Judentum nicht einfach „Schall und Rauch“. Sie bezeichnen die Existenz eines Menschen, sein Sein und seine Sendung. Mit der Änderung der Namen zeichnet sich ein existentieller Umbruch ab.
Abraham wird zum „Vater vieler Völker“.
Das abschließende Wort – „Sei Segen“ „Du wirst ein Segen sein“ – klingt wie ein „Befehl an die Geschichte, ein Schöpfungswort“.[7] Die Segenswirkung, die von Abraham ausgehen soll, verleiht ihm ein geradezu königliches Profil. Wer ihn segnet, sei gesegnet; wer ihn verwünscht, sei verflucht. In Abraham offenbart Gott eine überströmende Fülle des Segens, an der alle Völker teilhaben werden.
Am Anfang dieser segensreichen Zukunft der ganzen Menschheit steht Abraham.
In der Geschichte Abrahams entdeckt der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel auch die Chance für einen interreligiösen Frieden zwischen den drei abrahamitischen Religionen: „Und diese Quelle heißt: Abraham. Diese Quelle heißt Abraham, Hagar und Sara, Stammeltern der Religionen Judentum, Christentum und Islam.“[8]
Die Bibel berichtet, dass Abraham „alt und lebenssatt“ starb: Und es begruben ihn seine Söhne Isaak und Ismael in der Höhle von Machpela (…) (Gen 25, 9a; Luther).
Die Geschichte von Abrahams Söhnen, Ismael und Isaak, birgt sowohl den Keim des politischen Konflikts als auch den Funken des Friedens in sich.
So schreibt der jüdische Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin:
„Es ist mir kein politischer Konflikt bekannt, dessen Wurzeln viertausend Jahre zurückreichen; das aber ist der Fall im Land der Verheißung, das unlösbar mit der Erwählung Israels zusammenhängt.
Von hier aus, von der Urgeschichte der Juden und Araber, der feindlichen Brüder, ist die Problematik der Gegenwart zu erfassen, zeigend, dass es sich hier nicht nur um archaisches Sagengut handelt, sondern zugleich um fortwirkende Spannung zwischen verwandten Völkern.
Ismael und Isaak waren einander nicht hold, aber an der Leiche ihres Vaters Abraham vereinigten sie sich und begruben ihn gemeinsam in der Höhle Machpela in Hebron, die Abraham selbst beim Tod seiner Frau Sara als Erbbegräbnis käuflich erworben hatte.
Diese Gemeinsamkeit ist heute vergessen. (...) Niemand denkt heute daran, diese heilige Stätte des Judentums und des Islams zum Schauplatz ökumenischer Begegnung zu machen, was doch der biblischen Tradition entsprechen würde.“[9]
Hier sieht Kuschel seine Hoffnung auf eine „abrahamitische Ökumene“ begründet. Juden, Christen und Muslime sollen in der Nachfolge Abrahams ihre Verantwortung für alle Völker der Erde wieder entdecken und gemeinsam die Welt um Toleranz, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bereichern: „Die Zukunft Europas und des Mittleren Ostens im dritten Jahrtausend dürfte entscheidend davon abhängen, ob Juden, Christen und Muslime zu dieser Art abrahamitischer Geschwisterlichkeit finden oder nicht, ob sie fähig sind, wie Abraham immer wieder aufzubrechen und so ein Segen für die gesamte Menschheit zu sein.“[10]
Die biblische Erzählung von Genesis 12,1-4 endet ebenso lakonisch, wie sie begonnen hat:
Abraham folgt Gottes Ruf „Lech Lecha“ (geh!) selbstredend, wortlos:
Und Abram ging, wie ER zu ihm geredet hatte (…). (Vers 4a; Jacob)
Wie wenig selbstverständlich all das ist, die Forderung, Heimat und Elternhaus zu verlassen, Verwandtschaft und Besitz aufzugeben, die Verheißung einer großen Nachkommenschaft und eines neuen Landes anzunehmen, unterstreicht der letzte Satz durch ein kleines Wort, das viele Übersetzungen streichen:
Es war aber Abram 75 Jahre alt, als er auszog aus Charan. (Vers 4b; Jacob)
Der Protagonist der Geschichte ist kein junger Held, sondern ein alter Mann, der seine Vergangenheit vergessen soll, dem eine große Zukunft verheißen wird. Es ist der unglaubliche Glaube Abrahams, der Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel erst ermöglicht.
Abraham steht am Anfang der Geschichte Israels.
Gottes Handeln an Abraham wird bestimmt als Erwählung sowie als Herausführung aus einem alten in ein neues Land. Erwählung und Herausführung finden ihren Höhepunkt in der Bundesschließung. Abraham ist der bevorzugte Bundespartner Gottes. Der Inhalt des Bundes ist die Zusage eines Landes, das Versprechen Kanaans.
Die Geschichte Abrahams wird zur „Geburtsstunde des Judentums“.[11]
Die Geschichte Abrahams für das Judentum erzählt auf seine poetische Weise der Jerusalemer Dichter Elazar Benyoëtz:
„Kein Riese, der am Anfang steht mit der Kraft eines Weltenlastträgers, auch kein Utnapischtim, der sich göttlich überleben darf – ein alter Mann, der nichts im Sinne hatte als Beginnen, absehend von allem Anfang beginnen und nur aufgrund noch nicht dagewesener Red- und Gegenredlichkeit.
Ein alter Mann, der nichts begehrte, der nichts verlangte, dem nichts vorzumachen war, dessen Eintreten in die Geschichte seine eigene vergessen machte.
Wahrlich, er hat sein Alter verdient: es war der Lohn aller Tage und eines jeden Augenblicks; er bedachte es mit Würde und schweigsamem Schweigen. Ein Fels, fest genug, Gott und seine Welt zu stützen.
Das Judentum beginnt bei Abraham, und bereits mit ihm erreicht es sein hohes Alter“[12]
LITERATURHINWEISE
Zitierte Bibelübersetzungen:
Selig Bamberger, Die fünf Bücher der Thora nebst den Haftaroth, Megilloth und sabbatlichen Gebeten mit deutscher Übersetzung von L. H. Löwenstein, neu bearbeitet von Rabbiner Dr. Selig Bamberger. Rödelheim o. J., Sechste Auflage, Erstes Buch.
Martin Buber, Franz Rosenzweig, Die Verdeutschung der Schrift. Bd. 1: Die Bücher der Weisung. Gerlingen 1997.
Benno Jacob, Das Buch Genesis. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut. Nachdruck der Original-Ausgabe im Schocken Verlag, Berlin 1934. Stuttgart 2000.
Martin Luther, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985.
Moses Mendelssohn, Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn mit den Prophetenlesungen im Anhang. Hrsg. im Auftrag des Abraham Geiger Kollegs und des Moses Mendelssohn Zentrums Potsdam von Annette Böckler mit einen Vorwort von Tovia Ben-Chorin. Berlin 2002.
Zitierte Literatur:
Elazar Benyoëtz, Variationen über ein verlorenes Thema. München 1997.
Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint. München 1994.
Schalom Ben-Chorin, Die Erwählung Israels. Ein theologisch-politischer Traktat. München 1993.
Schalom Ben-Chorin, Abraham. Augsburg 1995.
Welt und Umwelt der Bibel. Hrsg. vom Katholischen Bibelwerk. Stuttgart, Nr. 30, 8. Jg., 4. Quartal 2003: Abraham.