Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit

Vor gut einem Jahr, am 4. Dezember 2019, verstarb der evangelische Theologe Martin Stöhr, einer der Pioniere des christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland nach 1945. Der Erinnerung an ihn sei die nachfolgende Bibelarbeit über Psalm 118 gewidmet, die Stöhr auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag am 14. Juni 2001 in der Paulskirche zu Frankfurt/M. hielt. (JCR)

Psalm 118
1 Preist den HERRN, denn er ist gut, ewig währt seine Gnade. 2 Es spreche Israel: Ewig währt seine Gnade. 3 Es spreche das Haus Aaron: Ewig währt seine Gnade. 4 Sprechen sollen, die den HERRN fürchten: Ewig währt seine Gnade. 5 Aus der Bedrängnis rief ich zum HERRN, der Herr erhörte mich und schuf mir weiten Raum. 6 Der HERR ist für mich, ich fürchte mich nicht, was können Menschen mir antun? 7 Der HERR ist für mich, ist mir Helfer, weiden wird sich mein Blick an denen, die mich hassen. 8 Besser ist es, beim HERRN Zuflucht zu suchen, als Menschen zu vertrauen. 9 Besser ist es, beim HERRN Zuflucht zu suchen, als Fürsten zu vertrauen. 10 Alle Nationen umringen mich, im Namen des HERRN aber wehre ich sie ab. 11 Sie umkreisen, sie umringen mich, im Namen des HERRN aber wehre ich sie ab. 12 Wie Bienen umkreisen sie mich; wie ein Dornenfeuer verlöschen sie, im Namen des HERRN wehre ich sie ab. 13 Man hat mich gestossen, damit ich falle, der HERR aber hat mir geholfen. 14 Meine Kraft und meine Stärke ist der HERR, und er wurde mir zur Rettung. 15 Jubel und Siegesruf erschallen in den Zelten der Gerechten. Machttaten vollbringt die Rechte des HERRN. 16 Die Rechte des HERRN erhöht, Machttaten vollbringt die Rechte des HERRN. 17 Ich werde nicht sterben, sondern leben und die Taten des HERRN verkünden. 18 Der HERR hat mich hart gezüchtigt, dem Tod aber nicht preisgegeben. 19 Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit. Ich will durch sie einziehen, um den HERR zu preisen. 20 Dies ist das Tor zum HERRN, die Gerechten ziehen hier ein. 21 Ich will dich preisen, denn du hast mich erhört und bist mir zur Rettung geworden. 22 Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. 23 Durch den HERRN ist es geschehen, wunderbar ist es in unseren Augen. 24 Dies ist der Tag, den der HERR gemacht hat, wir wollen jauchzen und uns an ihm freuen. 25 Ach, HERR, hilf! Ach, HERR, lass gelingen! 26 Gesegnet sei, wer kommt, im Namen des HERRN. Wir segnen euch vom Haus des HERRN. 27 Der HERR ist Gott, er gab uns Licht. Schmückt das Fest mit Zweigen bis zu den Hörnern des Altars. 28 Du bist mein Gott, ich will dich preisen, mein Gott, ich will dich erheben. 29 Preist den HERRN, denn er ist gut, ewig währt seine Gnade.
(Zürcher Bibel,Ausgabe 2007)

I

[...]

II

 Dürfen Christinnen und Christen den Psalm mitbeten? Sind wir mit Israel unterwegs zum Tempel Gottes, wo das Tor der Gerechtigkeit allen offen steht, die Gottes Konzept seiner Gerechtigkeit nicht nur beschwören, sondern praktizieren? Der Psalm leiht Menschen eine Stimme, deren Leben in die Enge von Schuld, Isolierung, Verfolgung, Angst, Gewalt oder Ungerechtigkeit gejagt wird. Aber auch denen, die nachdenklich sind und Gründe zum danken haben. "Dankt Gott: So ist es gut!c "Wie jede große Dichtung ist der Psalm ausgeschrieben " to whom it may concern". Wer ihn liest, stellt sich vor Israels Gott und an die Seite Israels. Mit der Doppelaussage geht es weiter: "Israel soll sagen, das Haus Aaron soll sagen: Gottes Freundschaft ist von Dauer!"

Der Psalm würde mit einer menschenfeindlichen Lüge aus dem Haus Israel und Aaron gestohlen, wenn ich die vergesse, die mit ihm auf Gottes Anrede antworten. Dann würden nicht Worte vergessen, sondern die Menschen und das Volk, mit dem Gott einen Bund geschlossen hat.

Es wären die uns gleichgültig, die Gottes Wort neben uns lesen, hören und in ihr Leben ziehen. Dass Gottes Freundschaft von Dauer ist, hat das Volk Israel vom Anfang seiner Geschichte an erfahren, auch wenn es Gottes Freundschaft nicht immer mit seiner Treue erwiderte.

Woher kennen wir den Einen Gott, dessen Güte (Freundschaft) und Gerechtigkeit nicht nur seinen Umgang mit den Menschen bestimmen, sondern auch den der Menschen untereinander? Nirgendwoher sonst als aus dem Hause Israel haben ChristInnen auf ihre Weise durch den Juden Jesus von Nazareth, Muslime auf ihre Weise von diesem Gott, von seinem Tun und Wollen erfahren.

Wenn wir das erste Gebot ernst nehmen - nach reformatorischer Auffassung enthält es alle göttlichen Gebote wie eine Nuss den sich vielgestaltig verzweigenden Baum - dann heisst das: Wir erlauben uns keine Enteignung mehr, die in dem Aberglauben besteht, das allein richtige Verständnis von Gerechtigkeit, vom Alten Testament, vom wahren Israel, von messianischer Hoffnung oder vom jüdischen "Gesetz" hätten wir Christen.

Offenheit anderen gegenüber gibt es, wenn ich deren Haus und Erstgeburtsrecht respektiere. Ich kann an der weltumspannenden Offenbarung Gottes in der Israelgeschichte nur kreativ und Neues denkend teilhaben, wenn ich das Besondere in ihr respektiere. Ich unterstreiche das am Anfang, weil das vierfache Bekenntnis zu Gottes zuverlässiger Freundschaft in seinem ersten und vierten Teilsatz alle Menschen einbezieht, die den biblischen Gott mit Namen kennen. Dabei ist uns allen klar, dass alle unsere Benennungen Gottes hinter seiner Wirklichkeit zurückbleiben.

Dieser Gott ist nicht ein Allerweltsgott. Vers 2 und 3 nennt ihn mit seiner Grundbeziehung zum Haus Israel. Vers 1 und 4 nennt ihn mit dem unverwechselbaren Namen. Diesen zu heiligen ist die erste Bitte und das erste Gebot im Vaterunser. Die Kirchentagsübersetzung gibt den Namen Gottes mit "Adonaj" wieder, wie es die jüdische Gemeinde tut. (Die griechischen, lateinischen und deutschen Übersetzungen schreiben an dieser Stelle Kyrios, Dominus, HERR - Namen und Titel, die von der christlichen Urgemeinde auf den biblischen Gott und auf Jesus übertragen werden mussten, weil die römischen Kaiser in ihrer Staatsreligion und Titelsucht darauf bestanden, dass man sie wie Gott Kyrios, Dominus oder Herr nennen musste. Das machten weder die Juden noch die Christen mit.

Zum Glauben an den Einen Gott gehört die selbstkritische Überzeugung, dass die Grenzen seiner Gemeinden offen sind. Er kennt in seiner Größe Menschen, die außerhalb der Zäune von christlichen Gemeinden und Dogmen am Werk seiner Humanität und Gerechtigkeit mitarbeiten.

Das führt mich zu der Frage: Gibt es ein cross over zwischen den Religionen? Eine Beziehung, die sich nicht ängstlich abschottet von den andern, sondern vom Nachbarn lernt? Ich nennen Beispiele: Die biblische Weisheitsliteratur ist nicht zu verstehen ohne die Texte und Traditionen der ägyptischen Weisheitsliteratur. Was nachbiblische Erzählungen, Filme und Romane als Liebesgeschichte zwischen der Königin von Saba und dem König Salomo phantasievoll erzählen, hat den harten biblischen Kern, dass es vor etwa 3000 Jahren offensichtlich zwischen ihren Kulturen einen grenzüberschreitenden Austausch gab.

Schöpfungsgeschichten aus Babylon liefern auch den biblischen Schöpfungsberichten farbiges Material.

Es gehört zum Judentum wie zum Christentum und Islam, dass die Türen zur Welt - und damit zu den Nachbarn - bei den monotheistischen Bibelabkömmlingen offen stehen. Sie stehen nicht offen, um andere zu überwachen, zu bestehlen oder zu überfallen - wohl aber für eine ehrliche Nachbarschaft.

Das Christentum versteht sich selber falsch oder gar nicht, wenn es seiner lebendigen Mutter und Schwester Israel verständnislos begegnet oder es so definiert, wie es in die eigenen Vorstellungen passt. Es selbst ist aber auch nicht zu verstehen ohne die Einflüsse der griechischen Philosophie damals oder im Falle der schwarzen oder der koreanischen Minjung-Theologie heute ohne deren kulturelle Erbschaften. Das wirft die schwierige Frage auf, wo um des Einen Gottes und seines einzigartigen Ebenbildes willen nein gesagt werden muss. Es ist nicht alles austauschbar. Wo wird Gottes Wort missverstanden oder missbraucht? Darüber muss mehr und grenzüberschreitend gestritten werden.

Alle Religionen sagen nicht dasselbe. Das haben jene Religionskritiker zu lernen, die mit einem breit streuenden Schrotschuss alle Religionen als immer die gleiche Illusion, Projektion, Gewaltquelle oder Lüge erledigen wollen. Das haben aber auch jene oft tief religiösen Menschen zu lernen, die sich aus dieser und jener Tradition privat eine komfortable Einheitsreligion basteln.

Beide sparen sich die lohnende Mühe, differenziert zu fragen: Was verbindet uns? Was trennt uns? Einen Glauben, der dem lebendigen Gott vertraut, kann ich mit Allgemeinplätzen weder leben noch bestreiten.

III.

Damit bin ich bei dem zweiten Stichwort: Gott ist nicht nur der beständige Freund derer, die ihm ihr Leben verdanken, ihm also mit einem Leben nach seinem Willen danken können. Er ist auch ein kraftvoller Helfer. Der Offenheit seiner Tore, der Gerechtigkeit für alle entspricht die Tatsache, dass er ein bergender Schutz derer ist, deren Würde bedroht ist. Er antwortet, weil der menschliche Anruf schon eine menschliche Antwort auf sein erstes Wort ist. Seine ersten Worte sind nicht hohle Begriffe, sondern Taten, in denen er die Welt schafft, sie als Wohltat und Auftrag uns anvertraut, in denen er seine Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit uns mitteilt, in denen er Abraham ruft und durch ihn alle Völker an seinem Weltsegen teilhaben lässt.

Er verleiht Furchtlosigkeit und stiftet Geborgenheit. Dreimal wird die Gottesgabe der Widerstandskraft genannt gegen jede Gefährdung des Lebens (10-12). Hier spricht sich eine Erfahrung aus, die Israel in seiner Geschichte immer wieder macht. Die starke Hand Gottes wird (auch dreimal) als Grund für diese widerständige Zuversicht genannt. Auserwähltsein heisst nicht ungefährdet zu leben. Es heisst auch, an der Gefährdung Gottes teilzuhaben - wie er beiseite geschoben, verachtet oder missbraucht zu werden. Georgy Konrad schreibt einmal, dass es "meist eine vorteilhafte Passion sei, " enthusiastisch zur Mehrheit zu gehören". Diese Leidenschaft wirke sich auf das Wohlbefinden und die Karriere "beschleunigend" aus. Die Minderheit der an den Einen Gott Glaubenden macht oft die gegenteilige Erfahrung. Der Gerechtigkeit verpflichtet zu sein ist keine harmlose Angelegenheit.

Dieser Gott befreit (14 und 21). Die Geschichte der Befreiung aus Ägypten ist die grundlegende Befreiungserfahrung Israels bis heute. An Pessach wird sie in jedem Jahr in die Gegenwart geholt: "Ein jeder verstehe sich als sei er/sie heute befreit worden." Diese Erfahrung hat zur Folge, als Menschen an Gottes Programm der Befreiung aus Unmenschlichkeiten mitzuarbeiten. So heißt es z.B. (Exodus 23,9, passim): "Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken. Ihr wisst, wie dem Fremdling zumute ist; seid ihr doch auch Fremdlinge gewesen im Lande Ägypten!" Das Gebot, Fremde gastfreundlich aufzunehmen ist selbstverständlich im Neuen Testament übernommen. Wie christlich eine Gesellschaft ist, zeigt sich auch daran, wie sie mit Fremden umgeht oder mit denen, die als fremd empfunden oder definiert werden.

Zu diesem Gott gehört, dass er Schwache ermächtigt. Er gibt ihnen Widerstandskraft. Starke entmächtigt er. Maria singt (mit dem Tonfall auch unseres Psalms) lauthals, als ihr die Geburt Jesu angekündigt wird: "Er zerstreut die hochmütig sind, stößt Gewaltige vom Thron und erhöht die Niedrigen. Hungrige füllt er mit Gütern. Reiche schickt er leer weg. Er nimmt sich Israels, seines Knechtes an." (Luk 1, 51-54). So liebt Gott im Interesse der Menschen, die niedergemacht oder unten gehalten werden. Können wir anders lieben?

Die oben lieben weder solche Töne noch eine entsprechende Praxis. Als der nassauische Hofprediger J.D.Herrnschmidt in Idstein aus unserem Psalm und dem Psalm l46 ein Kirchenlied dichtete, da war er seinen Posten los.

"Fürsten sind Menschen vom Weibe geboren
und kehren um zu ihrem Staub.
Ihre Anschläge sind auch verloren,
wenn nur das Grab nimmt seinen Raub.
Weil denn kein Mensch uns helfen kann,
rufe man Gott um Hilfe an. "(EG 303,2)

Herrnschmidt suchte sich eine neue Arbeitsstelle im Waisenhaus der Frankeschen Stiftungen zu Halle.

Politisch oder wirtschaftlich Mächtige lieben anpasserische Religionen. Sie mögen es wie die Gleichgültigen aller Sorten, wenn Religionen sich mit sich selbst beschäftigen statt mit denen, deren Lebensmöglichkeiten eingeengt sind. Die Kirchengeschichte ist voll von christlicher Anpassungsliebe. Biblischer Nonkonformismus steht zu selten auf dem Lehrplan. Auch wenn Fürsten und politische Mächte, die wirtschaftlichen Mächte schon gar nicht, heute nicht mehr "von Gottes Gnaden" zu sein beanspruchen, so gibt es Konfliktfelder genug. Sie werden zugedeckt mit einer Einstellung wie "leben und leben lassen, glauben und glauben lassen." Die Parole schmeckt mehr nach Gleichgültigkeit als nach Toleranz.

Konflikte entzünden sich heute kaum an der Gottesfrage. Sie spitzen sich zu, wenn Menschen Menschen verachten oder selektieren - in Wesen, die verschiedenen Wert haben; wenn wir hinnehmen, dass ungeborene oder geborene Menschen unmenschlich oder ungleich behandelt werden. Da gibt es erbitterte Auseinandersetzungen, ob Sterbehilfe, das Klonen von Menschen, das Wegwerfen von für die Forschung überflüssigen Embryonen, hierzulande erlaubt werden sollen. Die Auseinandersetzungen sind nötig. Sie müssten die Kirchengemeinden viel stärker beunruhigen. Einen Psalm zu beten gibt nicht nur Kraft, es beunruhigt auch.

Schlimm, weil gedankenlos ist es, dass viele voller Stolz das Wort Globalisierung im Munde geführt wird. Spricht daraus nicht provinzielle Engstirnigkeit angesichts der Tatsache, dass Millionen Menschen sterben, weil ihnen die einfachste Lebenshilfe fehlt? Die Reichtümer an Brot und Wasser, an Wissen und an einem Zuhause, an Freiheit oder an Gesundheit sind überhaupt nicht globalisiert, dh gerecht verteilt. (An der Verteilung dieser sechs Lebensnotwendigkeiten, die UNO nennt sie die basic needs; entscheidet Jesus den Zugang zum Reich Gottes, es hat ein Tor der Gerechtigkeit. Die Duldung von Ungerechtigkeit verschliesst es). Fortschritt und Lebenschancen kommen nur einer Minderheit auf dem Globus zugute. Wir gehören zu ihr. Diese Ungerechtigkeit verursacht jene Flüchtlingsströme, Hungertoten, Bürgerkriege und Korruptionen unter der Mehrheit der Weltbevölkerung. Wir stehen auf der Verursacherseite, also weder auf der Seite der Beobachter noch gar der Richter.

Der Markt regelt im Glauben vieler Menschen alles. Er hat auch seine "Hofprediger" und Gläubigen. Sie übersehen, dass er die Probleme der Freiheit und der Gerechtigkeit nicht regelt. Gewiss, er ist ein unentbehrliches Instrument zur Verteilung von Gütern, mehr nicht. Er hat kein Gewissen und keine Ethik. Hört er die Schreie der Vergewaltigten, der Vergessenen, der Flüchtlinge, der Bedrängten? Stärkt er deren Widerstandskraft? Für Menschlichkeit gibt es keine Gene. Hier sind Philosophien und Religionen im Ringen um die "bessere Gerechtigkeit", wie Jesus den Wettbewerb verschiedener Frömmigkeiten nennt, gefragt.

Vor drei Wochen sagte der Chef eines Privatsenders (Chrisma 5/2001 S.41): "Was in der Kirche ein Gebet ist, das ist bei uns ein guter Song. Kultstars und Kultmarken sind bei uns die tonangebenden Götter. Wir sorgen für den täglichen Kick im Diesseits, die Kirche verspricht das Paradies im Jenseits....Im Mittelpunkt steht der Glaube an sich selbst." Nun sollten wir nicht gleich gutbürgerlich unsere christlichen, jüdischen oder muslimischen Nasen rümpfen und dafür danken, dass wir nicht sind wie "jene Jugend von heute", wie jene Spaßgesellschaft mit ihrem Ich- und Personenkult, mit ihrer Prominentengeilheit. Die Frage an uns heißt: Was bleiben unsere Religionen denen schuldig, die von solchen Göttern wie Macht, Markt und Unterhaltung begeistert sind? Was der Liederdichter Herrnschmidt erfahren musste, erfahren biblisch inspirierte Nonkonformisten oft genug. Sich mit Mächtigen anzulegen ist unbequem. Wer aus der Kirche austritt, spart nicht nur Geld, sondern auch Unannehmlichkeiten, die mit dem Satz unseres Psalmes verbunden sind "Besser sich bergen bei Gott als sich bei den Großen zu sichern."

Bei Gott sich zu bergen heißt nicht, ihn zu schützen. Das hat er nicht nötig, Anwälte und Schutz haben aber seine Ebenbilder nötig, wenn ihre Rechte mit Füßen getreten werden.

Calvin wie Luther haben in ihren Auslegungen von Psalm 118 die macht- und mammonkritische Haltung derer betont, die so beten. Wer betet, wie gestammelt oder wortlos auch immer, übernimmt Verantwortung. Gebete sind "sensitivity training", helfen zu einem aufmerksamen Leben.

Luther schreibt in seiner Auslegung: "Wen wundert es, dass Könige, Fürsten, Bischöfe, Herren, Weise, Kluge, Reiche, Gelehrte das Evangelium verfolgen? Wer soll's denn sonst tun? ...Sie tun es von Amts wegen, denn sie müssen zusehen, dass ihre Gebäude nicht Lücken, Risse und Ungestalt gewinnen." Das heißt, sie müssen die Interessen ihrer Institutionen und sich selbst behaupten. Diese sind nicht immer identisch mit den Interessen des Evangeliums.

Calvin stellt nüchtern fest, dass "manche unerfahrenen Leute dem Evangelium den Rücken kehren, weil es nicht überall Beifall findet und seine Bekenner nicht beliebt macht.", besonders nicht bei denen, "die über andere hinausragen." Der Abschied von einem biblisch begründeten Glauben ist auch ein Abschied von den Menschen, die auf seine Gerechtigkeit hoffen, bevor sie sterben.

IV.

Der Psalm erinnert an das Laubhüttenfest, das seinerseits wiederum an die Wüstenwanderung erinnert. Die neue Freiheit wird hart getestet - durch Hunger, durch selbstgebaute Götter, durch Verklärung der Vergangenheit in Gestalt der Fleischtöpfe Ägyptens. Das Fest erinnert an die bewährte Freundschaft Gottes mit seinem Volk. In der christlichen Tradition wird Psalm 118 auf zwei Feste im Kirchenjahr verteilt, auf Ostern und Pfingsten. "Schmücket das Fest mit Maien" dichtete 1715 zu Pfingsten Benjamin Schmolck, ...denn der Geist der Gnaden hat sich eingeladen." Gottes Geist wird in diesem Lied genannt: "Tröster der Betrübten / Siegel der Geliebten / Geist voll Rat und Tat / starker Gottesfinger / Friedensüberbringer/ Licht auf unserem Pfad". (EG 135). Der Hugenottenflüchtling Philipp Spitta, Uhrmacher und Pfarrer in Niedersachsen, bittet in schönen Reimen, der Heilige Geist möge der Gemeinde geben
- Abrahams feste Glaubenszuversicht,
- Moses' Gebet für andere,
- Davids Mut zu streiten sowie seinen Mut zur Umkehr.
- Elias' heilige Strenge gegen zeitgenössische Götzen,
- der Apostel ungebeugten Zeugenmut, die Wahrheit Christi zu sagen,
- des Stephanus Glaubensheiterkeit (EG 137)

Die Christenheit schöpft ihren Glauben und ihre Praxis aus der ganzen Bibel. Aber ich muss sofort hinzufügen: Die christliche Tradition feiert weithin Ostern und Pfingsten israelvergessen. Man genießt das Erbe Israels und Aarons, als ob der Erblasser nicht mehr lebte, als ob nicht Israel die Psalmen auch betete und Aarons Segen nicht spreche. Zu Ostern gehören die Verse 12- 24, zu Pfingsten die Verse 24 - 29. Der schöne Vers "Dies ist der Tag, da Adonaj es getan. Wir wollen jubeln und uns daran freuen" ist zu Ostern der Höhepunkt der Textlesung und österlichen Freude, zu Pfingsten ihr Ausgangspunkt. Man jubelt über den Sieg gegen den Tod und seine riesige, menschenfeindliche Verwandtschaft. Man freut sich über Gottes Geist, der eine niedergeschlagene Nachfolgegruppe Jesu zur christlichen Gemeinde aus allen Völkern baut, obwohl zu ihr schlafende oder weglaufende Jünger gehören, ein Petrus, der nicht zu dem steht, was er vollmundig bekennt, ein Verräter in den eigene Reihen, resignierende Emmauspilger sowie ungläubige Thomasse.

Die Osterlieder sind mir deshalb lieb, weil ich weiß, wieviel Kraft wir brauchen, um täglich menschlichen Freiraum gegen die Todesfaktoren zu behaupten - für andere und für uns. Die Ostern begonnene Befreiung rechnet mit Fortsetzung. Der von Gott zu neuem Leben erweckte Mann aus Nazaret rechnet mit meiner Nachfolge auf Gottes Weg der Gerechtigkeit. Mit Paulus, der die Macht des Todes, des Scheiterns, der Gottesferne und eines verfehlten Lebens mit den Worten des Propheten Hosea (13,14) beschreibt, kann ich dann wie Gott über den Tod und seine Komplizen siegreich spotten: " Der Tod ist verschlungen im Sieg, Tod wo ist dein Sieg? Tod wo ist dein Stachel?" (1.Kor.15,54f.) Die Pfingstlieder preisen die Talente des Heiligen Geistes, die wir bitter nötig haben mit den Worten aus Jesaja 11,2 "Weisheit - Einsicht - Rat - Stärke - Erkenntnis - Gottesfurcht - Recht - ". Komm mit deinen siebenfältigen Gaben heißt es in manchen Pfingstliedern.

Aber in vielen Liedern, Gebeten und Theologien zu Ostern und Pfingsten hat man sich früh von Israel abgegrenzt, ja es zunehmend zum Feindbild aufgebaut. Die Argumentation heisst: Israel verwarf "den tragenden Eckstein". Deshalb hat es die Leiderfahrungen seiner Geschichte sich selbst zuzuschreiben. In den drei ersten Evangelien wird aus Jes 5 das Gleichnis von Gottes Weinberg aufgegriffen. Der Weinberg Gottes ist Israel. Gott legt viel Freundschaft auf Dauer in diese Beziehung. Doch was sieht der radikal kritische Jesaja in Israel? "Gott hoffte auf Guttat und siehe da Bluttat; auf Rechtsspruch, und siehe da: Rechtsbruch."

Die schärfste Israelkritik ist in der jüdischen Bibel selbst zu finden. Zu keiner Religion gehört wesentlich so viel Selbstkritik wie zur biblischen. Das hat mit dem Ersten Gebot zu tun, das alle Autoritäten, auch fromme, kritisch an dem Einen Gott misst und dadurch relativiert. Die Kirche hat in ihrer Predigt, gerade der protestantischen, diese Israelkritik auch immer als Kirchenkritik ausgelegt. Für Israel aber rechnete sie mit keiner Umkehrmöglichkeit. Für sich selbst hoffte sie auf Gottes Gnade. Für Israel hatte sie Gnadenlosigkeit übrig.

1826, zwei Jahre nach seiner Taufe, schreibt Heinrich Heine: "Es ist ganz bestimmt so, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (zB der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen." Sein Judesein verzieh man ihm nicht. Kritik an der Kirche erscheint leichter abzuwaschen. Allzu leicht wusch sich die christliche Gemeinde "im Blut Christi", ohne die damit verbundene radikale Umkehr ernst zu nehmen.

Das Weinberggleichnis wird von Matthäus, Markus und Lukas so aufgenommen, dass seine Spitze sich gegen Israel richtet. Gottes Feindschaft auf Dauer wird hier entdeckt und nicht ein Ruf zur Umkehr. Steht da nicht, dass Israel Gottes Knechte und seinen Sohn umgebracht hätten? Die drei Evangelisten schreiben, dass Gottes Weinbergvolk damit den Eckstein verworfen hätten. Muss man das Neue Testament so lesen? Auch Lukas berichtet in seiner Apostelgeschichte von Petrus, der vor dem Hohen Rat erklärt (4,10-12): "Es sei dem ganzen Volk Israel kundgetan: Im Namen Jesu Christi von Nazaret, den ihr gekreuzigt habt, den Gott von den Toten auferweckt hat: Durch ihn steht dieser (vorher Gelähmte) gesund vor euch. Das ist der Stein, der, von euch Bauleuten verworfen, zum Eckstein geworden ist und in keinem anderen Namen ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter den Himmeln den Menschen gegeben, durch den sie gerettet werden sollen." Der amerikanische Neutestamentler Norman Beck schreibt zu diesen Stellen: Wenn sie unkommentiert im Gottesdienst vorgelesen werden, dann sollten wir unter Protest die Kirche verlassen.

Im 1. Petrusbrief (2,4) wird zum 5. Mal im Neuen Testament so argumentiert. Auf der einen Seite ist klar: Der die Kirche tragende Eckstein liegt in Zion. Calvin drückt das so aus: "Wenn unser Glaube sich zuverlässig auf Christus gründen will, muss er sich zum Gesetz und zu den Propheten begeben, denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem" (nach Jes 2, 3). Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die Israelgeschichte nur die mehr oder weniger abgeschlossene Vorgeschichte der Christusgeschichte. Sehe ich es recht, so kennt auch der Islam die den Gedanken einer beerbten Vorgeschichte im Judentum und im Christentum.

Ostern und Pfingsten können wir den Psalm 118 nur singen, beten und hören, wenn wir von unserem Anspruch ablassen, das allein richtige Verständnis zu haben. Jesus von Nazaret hat es nicht nötig, dass seine Christenheit mit einem Absolutheitsanspruch unter den Weltreligionen auftritt. Wohl aber ist die Christenheit gefragt, wie verbindlich sie den Willen Gottes in der Christusnachfolge nimmt. Dabei hat sie selbstkritisch zu sehen, wo sie ihren Grundstein Jesus Christus verwirft oder ihn umgeht.

Der Psalm rechnet damit, dass es Gerechte gibt, Menschen, denen Gott seine Gerechtigkeit mitteilt. Er braucht sie nicht für sich. Er teilt sie mit seinen Geschöpfen in allen Dimensionen ihres Lebens. Sind die Gotteshäuser auf der Erde wirklich Gottes Häuser, dann geht von dort Gerechtigkeit aus. Dann ist dort das "Tor zu Adonaj".
"Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände."

So dichtet Goethe im "Westöstlichen Diwan". So könnte es ein schönes harmonistisches Schlusswort meines Psalmenkommentars sein. Es wäre zu billig. Es geriete mit Recht unter den Spott Heinrich Heines:
"Wir glauben all an einen Gott
Jud', Christ und Heid' und Hottentott."

Das verbietet der Frankfurter Poet. Einmal schrieb er dieses Gedicht gegen religiöse Intoleranz in allen Religionen, auch wenn er die Verse dem persischen Dichter Hafis (Scham od-Din Mohammed, Schiras 1327 1390) widmet, der von denen bekämpft wurde, die sich selbst für allein rechtgläubig hielten. Zum anderen geht Goethes Gedicht weiter.
"Er, der einzige Gerechte
will für jedermann das Rechte.
Sei, von seinen hundert Namen,
dieser hochgelobet! Amen!"

Wir drei verraten uns und unsere Traditionen, die sich dem Einen und Einzigen Gott verdanken, wenn wir nicht für jeden Mann, für jede Frau das "Rechte", die "Gerechtigkeit" verlangen. Gottes Tore der Gerechtigkeit liegen vor uns. Sie sind offen. Hinter uns liegen die verschlossenen Türen unserer blossen Selbstgerechtigkeit. Diese verschließen uns den Weg zum anderen - im Gegensatz zu Gottes Wegen der Gerechtigkeit

Editorische Anmerkungen

* Zu Martin Stöhr siehe: https://www.jcrelations.net/de/artikelansicht/stoehr-martin.html