Tikun Olam in Judentum und Islam

Das jüdisch-rabbinische Konzept zur Verbesserung der Welt im Lichte des jüdisch-muslimischen Dialogs.

Mein Vortrag heute besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil versuche ich, den Ursprung des Begriffes Tikun Olam zu erhellen und erläutere seine Bedeutung im heutigen Judentum. Im zweiten Teil prüfe ich, ob auch im Islam von Tikun Olam gesprochen werden kann. Im dritten Teil des Vortrags werden wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Tikun Olam in Judentum und Islam kennen lernen. Der vierte Teil des Vortrags führt uns weg von der Theorie von Tikun Olam, zur täglichen Praxis von Tikun Olam in Israel, mit der Frage: »Wo treffe ich in meiner täglichen Erfahrung auf diesen Begriff?«

1 Tikun Olam im Judentum – der Ursprung des Begriffes und seine Bedeutung

Tikun Olam ist ein sehr alter jüdischer Begriff. In unserer Zeit steht der Begriff Tikun Olam für die zentrale Aufgabe des Judentums: Fürsorge für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft, im Eintreten für soziale Gerechtigkeit, aber auch in der Übernahme von Verantwortung gegenüber einem jedem Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Heute verwenden wir diesen Begriff auch in Bezug auf unsere Verantwortung für die Umwelt und den Schutz unseres Planeten und seiner Ökosysteme, also unserer Fürsorge für Tiere und Pflanzen insgesamt.

Normalerweise verwenden wir das Wort Tikun als Gegensatz zu Kilkul – »Kaputtmachen, Verderben «, können es also mit »Korrektur« oder »Reparatur « übersetzen.Tikun Olam lässt sich in diesem Sinne auch als »Reparatur der Welt« verstehen. Tikun ist in der jüdischen Tradition nicht einfach eine Reaktion auf Kilkul – »Kaputtmachen« oder »Zerbrochen sein«.

Wir beginnen mit dem Ursprung des Begriffs Tikun Olam. Vor jeder Klärung der Idee des Tikun Olam müssen wir fragen, woher dieser Begriff stammt. Die Bedeutung des Begriffs Tikun Olam hat sich in den letzten 2100 Jahren sehr geändert. Der Begriff Tikun Olam wird in rabbinischen Texten erwähnt. Die Mischna erzählt uns von Takanot der Rabbinen, zu Deutsch »Anpassungen«, mit dem Ziel, Unrecht bestimmten Menschen gegenüber wieder gutzumachen (metaken im Hebräischen, daher auch Tikun). Gemeint ist Unrecht, das den Menschen gelegentlich durch die Vorschriften in der Torah zugefügt wurde, in Fällen, in denen die Torah keine geeignete Antwort auf die persönliche Situation eines Menschen liefern konnte. Daher beschlossen die Rabbinen für diese Fälle einen halachischen Tikun – eine Korrektur der Lehre, der Halacha. Schon vor über 2000 Jahren wurde ein solcher Tikun Olam durchgeführt. Wenn die Existenz der ursprünglichen Lehre jemandem in einer bestimmten Situation Schaden zufügen konnte, musste eine Tekana, ein Beschluss, gefasst werden, der eine Antwort auf dieses Unrecht oder Problem bot. In anderen Worten: Die Halacha, so wie sie am Berg Sinai gegeben wurde, hat für bestimmte Situationen nicht immer die richtige Antwort gegeben. Es war die Leistung der Rabbinen, die Halacha, die Lehre, oder eine Mizwa, ein Gebot, durch Änderungen zu verbessern.

Eine der bekannten Tekanot dieser Art nennt sich Prosbul: Ich zitiere aus der Mischna, Traktat Gittin, Kapitel 3, Mischna 4: »Hillel ordnete Prosbul wegen des Tikun Olam an.«

Was ist Prosbul? In unserer modernen Welt wissen wir, wie einfach es ist, einen Kredit aufzunehmen, zum Beispiel durch einen Knopfdruck am Handy, und manchmal ist das vielleicht auch gefährlich. In der Vergangenheit handelte es sich dabei um einen sehr komplizierten Vorgang. Im Judentum gibt es alle sieben Jahre ein Shabbatjahr, auf Hebräisch Schmita, so auch im nächsten Jahr. Die Hauptsache eines solchen Jahres ist die Auslösung des Grundbesitzes. Das Shabbatjahr oder Schmita beinflusst viele Lebensbereiche, so auch bei Krediten und Schulden. Denn das ist auch das Jahr, in dem Schulden erlassen werden. Diese Praxis, der Erlass aller Schulden alle sieben Jahre, führte zu Problemen. Die Menschen waren kurz vor der Shabbat jahr nicht mehr bereit, Kredite zu vergeben. Hillel der Ältere, der vor etwa 2100 Jahren lebte und den Vorsitz im letzten Sanhedrin hatte, korrigierte diese Angelegenheit. Die Pflicht aus der Torah, im Schabbatjahr alle Schulden zu erlassen, hatte in bestimmten Fällen zu einem wirtschaftlichen Schaden für die Armen geführt. Denn die Besitzer von Kapital hörten auf, Kredite zu vergeben an diejenigen, die ihrer bedurften, wenn das Erlassjahr sich näherte. Sie fürchteten, ihr Geld nicht zurückzubekommen. Das steht im Widerspruch zur Torah, deren Ziel es war, die Armen gut zu behandeln. Aus diesem Grund korrigierte Hillel die Sache und führte Prosbul ein. Er schuf einen halachischen Mechanismus, der die Vergabe von Krediten auch vor dem Erlassjahr ermöglichte. Diese Korrektur wurde zu seiner Zeit Tikun Olam genannt.

Hier steckt meiner Meinung nach der Kern der Idee vom Tikun Olam. Die Welt wurde in einer unvollkommenen Gestalt erschaffen, und deshalb ist der Mensch verpflichtet, die Welt zu korrigieren und so auch die Torah.

In neuerer Zeit erhielt der Ausdruck Tikun Olam weitere Bedeutungen. Das moderne Judentum unserer Tage sieht in diesem Begriff einen zentralen Bestandteil jüdischer Identität, einen Ausdruck für die zentrale Aufgabe des Judentums bei der Korrektur von Unrecht in der Gesellschaft. Eine weitere moderne Bedeutung von Tikun Olam beinhaltet auch die Korrektur des Menschen selbst. Die bekannteste und bedeutendste Quelle für den Ausdruck Tikun Olam findet sich in dem Gebet Alejnu leschabeach – »An uns ist es, den Herrn des Alls zu preisen« oder »Uns obliegt, dich zu preisen«, ein Gebet für das Neujahrsfest Rosch haSchanna.

Der Überlieferung nach ist Rosch haSchanna sowohl der Tag, an dem der Mensch erschaffen wurde, als auch der Tag, an dem Gott auf dem Richterstuhl sitzt und alle, die in seine Welt eingehen, zum Gericht aufstellt und gerecht richtet. Aus dieser Überlieferung, dass der Mensch an Rosch haSchanna erschaffen wurde, können wir schlussfolgern, dass Rosch haSchanna der sechste Schöpfungstag war. Heute wird das Gebet Alejnu leschabeach jeden Tag gebetet. Es wird drei Mal täglich gebetet, am Ende des Morgengebetes (hebräisch Schacharit), am Ende des Nachmittagsgebetes (hebräisch Mincha) und am Ende des Abendgebetes (hebräisch Aravit). Früher wurde es nur an Rosch haSchanna und an Jom Kippur gebetet. An diesen beiden Festen verneigen wir uns vor dem uns allen gemeinsamen Gott.

Der erste Vers lautet so: »An Uns ist es, den Herrn des Alls zu preisen, dem Schöpfer des Anfangs Größe zu geben.« Von dem Wort »Anfang« her ist klar, warum dieses Gebet thematisch zum Anfang des Jahres und zum Anfang der Schöpfung gehört. Der Höhepunkt des Gebetes kommt im zweiten Teil. »Deshalb hoffen wir auf Dich, Ewiger, unser Gott, Dich bald in der Herrlichkeit Deiner Stärke zu sehen, um Götzen von der Erde zu beseitigen, Abgötter gänzlich auszurotten, die Welt zu vervollkommnen als Reich des Allmächtigen, alle Sterblichen werden Deinen Namen anrufen, alle Frevler der Erde sich Dir zuwenden.« Wichtig für uns ist die Übersetzung: »die Welt zu vervollkommnen als Reich des Allmächtigen«. Eine andere Übersetzung findet sich im Gebetbuch (hebräisch Siddur) Sfat Emet. Dort lautet die Zeile: »damit die Welt gegründet wird«. Das sind zwei verschiedene Bedeutungen. Die Grenzen zwischen Übersetzung und Kommentar sind hier fließend. Jeder, der die Bibel nicht auf Hebräisch liest, sollte daher mehrere Übersetzungen verwenden oder gleich Hebräisch lernen.

Im Folgenden werden wir herausfinden, welche Übersetzung die Richtige ist und für das Verständnis dieses Textes besser passt.

Eine der Eigenschaften, die ich von meinem Vater David Flusser geerbt habe, ist, alles Mögliche erforschen und untersuchen zu wollen. Das heißt in diesem Fall, genau auf den Text zu schauen und ihn jedes Mal von Neuem so zu lesen, als wäre es das erste Mal, dass ich ihn lese, und nichts im Text als selbstverständlich nehmen. Ich bete dieses Gebet, in dem die Worte letaken olam – die Welt zu vervollkommnen oder zu gründen – vorkommen, dreimal am Tag, das heißt, bis zu diesem Vortrag mehr als tausendmal pro Jahr und über fünzfigtausendmal in meinem Leben. Und erst jetzt, in der Vorbereitung auf diesen Vortrag, ist mir wieder aufgefallen, dass die jemenitische Fassung des Textes richtig ist. Statt letaken Olam – die Welt reparieren oder aufrichten – steht da letaken olamle – die Welt gründen. Das ist bei dem jemenitischen Text ein Unterschied von nur einem Buchstaben, nämlich Kaf statt Quf. Diese jemenitische Fassung ist die ursprüngliche, obwohl in der Mehrheit der Siddurim letaken Olam abgedruckt ist, mit Kuf, also reparieren oder verbessern. In einer englischen Übersetzung habe ich gefunden: »that the world will be perfected«. Das Verb »gründen« hat eine weit größere Bedeutung. Der Grundgedanke ist, dass alle Menschen Tikun Olam praktizieren müssen, diese Aufgabe hat Gott dem Menschen übertragen. Das ist die Verpflichtung eines jeden von uns, sowohl als Einzelperson, als auch von uns allen als Gesellschaft.

Im Gebet Alejnu leschabe’ach – “ – in der herkömmlichen Fassung versteckt sich die Annahme, dass wir in einer nicht volkommenen Welt leben. Im Gegensatz dazu spricht die jemenitische Fassung vom Gegründet-Sein der Welt im Königtum des Allmächtigen. Wir sprechen von einer Verbesserung des Zustandes der Welt, bei der wir mitwirken müssen. Trotz der schwierigen Wirklichkeit leben wir heute in einer Welt, die sehr viel besser ist als noch vor einigen Jahrhunderten und erst recht besser als im letzten Jahrhundert. Und trotzdem ist es weiterhin unsere Aufgabe, die Welt zu verbessern.

Kehren wir zum Gebet Alejnu leschabe’ach zurück. Es wurde für Neujahr, für Rosch haSchanna verfasst, das in der Zeit der Schöpfung liegt. Dadurch wird klar, dass die jemenitische Fassung lechonen Olam – »die Welt gründen« – richtig ist. Sie passt gut zu Rosch haSchanna, dem Jahresanfang, zur Schöpfung, dem Schöpfer und dem Erschaffenen. Damit stellt sich die Frage, welchen Tikun die Menschen tun sollen, Tikun auf der Basis des Verbs »gründen« oder auf der Basis von »vervollkommnen«. Wenn wir vollständig Tikun Olam machen wollen, dann müssen Tikun Olam im Sinne von »gründen« und »vervollkommnen« gemeinsam erreicht werden. Nur wenn diese beiden Ziele miteinander verbunden werden, können wir zur Vollkommenheit desTikun Olam und zum Gegründet-Sein der Welt im Königtum des Allmächtigen gelangen. Hier stellt sich noch einmal die Frage: Was meinen wir mit Tikun Olam im Judentum? Ich behaupte, dass wir im Judentum als Voraussetzung zwei Arten vonTikun Olam benötigen. Das verpflichtet uns, einen hohen ethischen Standard einzuhalten. Ethik ist die Basis im Judentum, quasi die Wirbelsäule des Judentums. Ihr Ursprung liegt in der Torah, also den fünf Büchern Moses.

Mein Vater David Flusser hat einmal geschrieben: »Gott erwählte sein Volk Israel, damit sie Tikun Olam tun im Königtum des Allmächtigen. Das ist das Ziel der Erwählung Israels durch Gott.« Das ist ein äußerst wichtiger Satz – sowohl wegen der Erwählung Israels als auch wegen des Ziels dieser Erwählung.

Die jüdische Ethik ist das Mittel zum Tikun Olam. Sie ist die Gebrauchsanweisung für den Menschen, wie er Tikun Olam praktizieren soll. Sie besteht aus dem Halten der Mizwot, der religiösen Gebote und Verbote. Alle Mizwot, aber mit dem Schwerpunkt auf den Mizwot zwischen Menschen. Zwar gibt es in ihr auch eine geistliche Dimension, in der Glaube eine Rolle spielt, aber in erster Linie verpflichtet sie uns zu aktivem Handeln. Tikun Olam steht in Verbindung zu unseren menschlichen Beziehungen, umfasst aber auch viele andere Bereiche des Menschlichen, wie die Verpflichtung für die Umwelt. In dieser Welt leben verschiedene Menschen, die alle Rechte besitzen und ebenso Tiere und Pflanzen. Die jüdische Ethik, das Rückgrat des Tikun Olam, berührt menschliche Beziehungen. Das beginnt mit der Verpflichtung, verlorene Gegenstände ihrem Besitzer zurückzugeben und jedem Menschen zu helfen, auch dem, der uns nicht leiden kann, und endet mit der eindeutigen Pflicht, für diejenigen Sorge zu tragen, die es nötig haben, Menschen mit Behinderung, Blinde und Taube, Schwache, Waisen und Witwen.

Die jüdische Ethik, die die Wurzel des Tikun Olam darstellt, hat zum Ziel, dafür Sorge zu tragen, dass niemand von einem anderen verletzt wird. Das beginnt mit dem Gebot »Du sollst nicht stehlen!« und »Du sollst nicht töten!« und geht bis zur Vermeidung von Betrug zum Beispiel im geschäftlichen Bereich. JüdischerTikun Olam verbessert und ordnet die Beziehungen zwischen den Menschen. Bestechung ist für alle Menschen und selbstverständlich auch für die Führenden verboten. Die Sorge für die Schwachen verpflichtet uns, den Armen eine Ecke des Feldes zu überlassen und den Arbeitern ihren Lohn pünktlich und in angemessener Höhe zu zahlen. Dazu zählt auch die Sorge für die Arbeitslosen, die Sorge für gute Arbeitsbedingungen, die sozialen Bedürfnisse.

Die Sorge für den anderen ist ein zentraler Bestandteil von Tikun Olam. In dem Artikel meines Vaters David Flusser aus dem Jahre 1963 macht er einen Vergleich zwischen jüdischer Ethik und der Ethik anderer Nationen. Nach seinen Worten geht die jüdische Ethik hervor aus dem geschichtlichen Erlebnis der jüdischen Nation: dem Erleben der Versklavung in Ägypten, einem Trauma für uns. Ein traumatisches Erlebnis, das die spirituelle und gesellschaftliche Gestalt des Volkes Israel geprägt hat. Aus dieser schrecklichen Erfahrung der Versklavung in Ägypten erwächst uns die Pflicht des Tikun Olam.

Ich möchte mich nun dem Kern der jüdischen Ethik zuwenden, zur Bedeutung desTikun Olam, den wir praktizieren sollen. Und ich lade uns alle ein, an diesem Tikun Olam mitzuwirken, zunächst alle Kinder Isaaks und Ismaels, aber auch alle anderen Schwestern und Brüder, die hier sitzen. Wonach müssen wir streben, um zumTikun Olam zu gelangen? In der Tat ist die Antwort in der Mitte der Torah im Wochenabschnitt Qedoschim zu finden. »Ihr sollt heilig sein«, im Hebräischen sind das nur zwei Worte. Im Buch Levitikus, Kapitel 19, Verse 1 und 2 heißt es: »Und der HERR sprach zu Mose: Sprich zur ganzen Gemeinde der Israeliten und sage ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig.«

Im Judentum gibt es keine Heiligen, weder Mose noch irgendjemand anderes, aber wir sollen uns bemühen, diese Stufe zu erreichen. Dieses Streben gleicht der Annäherung an die Unendlichkeit in der Mathematik. In den Kapiteln 18 und 19 des Buches Levitikus finden wir 51 Gebote in nur zwei Kapiteln: Der Großteil von ihnen betrifft die Pflichten eines Menschen zu seinem Gegenüber und ein anderer Teil die Pflichten gegenüber seinem Schöpfer. So zum Beispiel die Sorge dafür, einen Teil des Ernteertrags dem Armen zu überlassen. In Kapitel 19, Verse 9 und 10 lesen wir: »Und wenn ihr die Ernte eures Landes einbringt, sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten, und die Nachlese deiner Ernte sollst du nicht einsammeln. Auch in deinem Weinberg sollst du keine Nachlese halten, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht einsammeln. Dem Armen und dem Fremden sollst du sie überlassen. Ich bin der HERR, euer Gott.« Oder das Gebot des Menschen, nicht zu lügen und nicht zu stehlen, in Vers 11: »Ihr sollt nicht stehlen und nicht lügen und einander nicht betrügen. « Und das Gebot, gerecht zu urteilen, in Vers 15: »Ihr sollt kein Unrecht tun im Gericht. Einen Geringen sollst du nicht bevorzugen und einen Großen nicht begünstigen. Du sollst deinen Nächsten gerecht richten.«

Weil die Ethik alle Bereiche des Lebens umfasst undTikun Olam alle diese Bereiche betrifft, können wir denTikun Olam auch aus den Bereichen des Geschäftlichen, des Handels und der Wirtschaft nicht ausnehmen, so in den Versen 35 und 36: »Ihr sollt kein Unrecht tun im Gericht, beim Messen, Wiegen und Abmessen. Eine richtige Waage, richtige Gewichtssteine, ein richtiges Efa und ein richtiges Hin sollt ihr haben. Ich bin der HERR, euer Gott, der euch herausgeführt hat aus dem Land Ägypten.« Und danach folgt unsere Verpflichtung, Menschen mit Einschränkungen, wie Taube oder Blinde, Fremde und Waisen zu beschützen, in Vers 14: »Einen Tauben sollst du nicht schmähen, und einem Blinden sollst du kein Hindernis in den Weg legen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der HERR.«

Und selbstverständlich die Sorge um den Fremden, ja die Liebe zu ihm, in den Versen 33 bis 34: »Und wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrängen. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott.«

Das Gebot der Fremdenliebe ist das Gebot, das in der Torah am häufigsten erscheint, nämlich 36 Mal. Das Gebot »Du sollst nicht töten« ist in der Torah nur zweimal erwähnt. Dies sind die Worte des lebendigen Gottes. Euer Tikun Olam gehe aus eurer Erfahrung hervor, aus dem Leid, dass ihr in Ägypten ertragen habt. Ihr habt gelernt, was Leid ist und aus diesem Trauma erwächst euch die Pflicht zumTikun Olam. Eine der wichtigsten Aspekte desTikun Olam ist die Liebe zum Fremden. Das ist die Art vonTikun Olam, die ihr tun müsst. Aber dies dient nicht nur den anderen, sondern auch euch, zur Bewältigung eures Traumas, wie eine Art Selbsttherapie. Ihr habt die Möglichkeit, eure Seele zu heilen, indem ihr etwas gebt und Verantwortung dem anderen und Schwachen gegenüber tragt. Der moderne Fremde ist der Flüchtling.

Es reicht nicht, dass wir die Fremden beschützen, wir müssen auch für ihre Bedürfnisse sorgen. In einem Teil der Gebote finden wir am Ende eine Art »Stempel« Gottes. »Ich bin der HERR.« So heißt es in Levitikus, Kapitel 19, Vers 18, immer noch im Wochenabschnitt Qedoschim: »Du sollst nicht rächen und Zorn nachtragen den Söhnen deines Volkes, sondern liebe deinen Nächsten, wie dich selbst Ich bin der HERR.« Einmal wurde Hillel der Ältere gefragt, wie es möglich sei, die ganze Torah auf einem Bein stehend zusammenzufassen. Hillel antwortete: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Das ist die ganze Torah.« Die Fürsorge für die Schwachen ist nicht nur eine Aufgabe des Einzelnen, sondern der Gemeinde und Gesellschaft, heute insbesondere des Staates. Dies können wir als gesellschaftliche und staatliche Pflicht zum Tikun Olam ansehen. Im Wochenabschnitt Qedoschim gibt es viele Gebote, die das Leben der Menschen untereinander betreffen, aber es gibt auch Gebote für das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott. Diese zwei Arten von Geboten sind symmetrisch angeordnet. Das wäre ein Thema für einen eigenen Vortrag.

Meine These ist, dass wir nur erfolgreich mit dem Tikun Olam vorankommen können, wenn wir beide Arten von Geboten gleichermaßen beachten. Dabei begründen wir eine bessere Welt.

Ein wichtiger Bestandteil desTikun Olam und Mittelpunkt der Sorge um den Anderen, ist, den Mangel des Anderen zu beheben, und zwar in allen Bereichen des Lebens, Nahrung, Geld, Arbeitsbedingungen und auch Erholung. Hierher gehört auch das Gebot der Zedaka, des Almosen-Gebens. Gerade heutzutage ist es nicht immer einfach, Almosen zu geben.Zedaka ist nämlich etwas weiter gefasst, als einfach Geld zu spenden. Der Begriff Zedaka bezeichnet im Judentum die Unterstützung für Menschen, die in finanzielle, wirtschaftliche Notlagen geraten sind. Maimonides fasst den Begriff Zedaka sehr weit. Diese Unterstützung kann in Hilfeleistung, in der Gewährung eines Kredites, in konkreter Hilfe sogar im Finden einer Arbeitsstelle bestehen. Auch das ist für Maimonides Zedaka. Maimonides entwirft ein Modell des Almosen- Gebens, ein Zedaka-Modell mit acht Stufen. Die niedrigste Stufe ist die Zedaka, die einem Bedürftigen direkt gegeben wird. Dabei kann dieser verletzt oder beschämt werden. Die achte und höchste Stufe ist die Vermittlung einer Beschäftigung, eines Arbeitsplatzes für diesen Menschen. Für Maimonides ist von Bedeutung, den Empfänger der Zedaka nicht zu beschämen.Was ist der Unterschied zwischen Zedaka und sozialer Gerechtigkeit? Zedaka ist eine persönliche Angelegenheit, im Gegensatz dazu liegt soziale Gerechtigkeit in der Verantwortung der Gemeinde und des Staates. In der Tat nimmt Tikun Olam im Judentum auch die Gemeinde in die Pflicht.

So eröffnet uns beispielsweise das 22. Kapitel im Buch Exodus in den Versen 20 bis 23 die Verpflichtung der Gesellschaft zum Tikun Olam: »Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht erniedrigen. Wenn du sie erniedrigst und sie zu mir schreien, werde ich ihr Schreien hören, und mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch töten mit dem Schwert, so dass eure Frauen Witwen und eure Söhne Waisen werden.« Achtet darauf, was für eine Strafe wir als Gesellschaft erhalten, wenn wir die Lehren aus unserer schrecklichen Erfahrung in Ägypten nicht zu lernen bereit sind. Nach den Traumata, in Ägypten und des vergangenen Jahrhunderts, verlangt Gott nicht von uns, stark zu sein, ganz im Gegenteil: für den Fremden zu sorgen, für die Waise und die Witwe und Tikun Olam zu praktizieren für ebendiese schreckliche Welt, die wir in Ägypten und im letzten Jahrhundert in Auschwitz erlebt haben. Wir müssen Gnade zeigen dem Schwachen gegenüber und für ihn sorgen. Tun wir dies nicht, werden wir bestraft.

Der Rabbiner Samson Raphael Hirsch wirkte in Deutschland und lebte von 1808 bis 1888. Als Torah-Ausleger betonte er stark die jüdische Ethik. Er sah auch die Gesellschaft in der Verantwortung, wenn es darum ging, für das Wohlergehen des Schwachen zu sorgen. In seinem Kommentar zu dem Vers, den wir gerade gelesen haben, schreibt er wie folgt: »Darum wendet sich hinsichtlich ihrer das Gesetz zunächst an die Gesellschaft, missbraucht ihre Schwäche nicht, lasset sie nicht ihren Schwächezustand fühlen.«

Tikun Olam ist auch Sorge für die Umwelt. Das ist tatsächlich der ersteTikun Olam, den Gott uns Menschen in Form eines Gebotes aufträgt. Das geschieht am Ende der Schöpfung der Welt und des Menschen. Gott setzt den Menschen in den Garten Eden mit dem Ziel, dass dieser den Garten bewahren möge, den Garten, die Welt und alles Geschaffene. Ich, Gott, habe die ganze Welt geschaffen, aber du als Mensch bist verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren. Im Buch Genesis, Kapitel 2, Vers 15 lesen wir: »Und der HERR, Gott, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaute und bewahrte.« Dazu schreibt Samson Raphael Hirsch Folgendes: »Die Arbeit und Hüten [umfasst] nicht nur die direkte Bearbeitung und Pflege des Bodens, sondern das ganze sittliche Verhalten des Menschen in pflichtgetreuem Erfüllen und Unterlassen.«

Abraham Joshua Heschel hat gesagt, Tikun Olam ohne Sorge für die Umwelt sei unmöglich. Tikun Olam zwingt uns zu einem ethischen Verhalten auch gegenüber der Umwelt, Tieren und Pflanzen und Menschen. Lesen wir als Beispiel im 5 Buch Moses, Kapitel 5, Vers 14: »Der siebte Tag aber ist ein Sabbat für den HERRN, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter oder dein Knecht oder deine Magd oder dein Rind oder dein Esel oder all dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren, damit dein Knecht und deine Magd ruhen können wie du.«

Wichtig ist der Schluss des Verses »wie du«. Für die Erholung der Tiere müssen wir genauso sorgen wie für die der Menschen. Die Sorge für die Lebensqualität von Tieren erscheint in der Torah an vielen Stellen. Es soll ihnen kein Leid oder Übel zugefügt werden, sie sollen nicht ausgebeutet werden und vieles mehr. Auch dies ist ein Bereich vonTikun Olam. Zum Beispiel lesen wir im 5 Buch Moses, im 25. Kapitel, Vers 4: »Du sollst dem Ochsen nicht das Maul verbinden, wenn er drischt.« Wir sind also auch zum Tikun Olam gegenüber der Umwelt und den Tieren verpflichtet. Samson Raphael Hirsch sagt: »…jede Hinderung des Tieres am Essen von dem Früchten, an denen es arbeitet, auch mit der Stimme durch einen zurückschreckenden Zuruf, wird eine verbotene Wirkung hervorbringt.« Die vorhergehenden Gesetze hatten die Gebote der Rücksicht, des Wohlmuts und der Milde gegen Witwen und Waisen, gegen Arme und Fremdlinge, zuletzt gegen Verbrecher und Tiere zum Gegenstand.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Torah, die verbietet, dem dreschenden Ochsen das Maul zu verbinden, uns heute genauso wenig gestattet, Lebewesen wie zum Beispiel Kühe oder Hühner großzuziehen, wie das bei uns Praxis ist, ohne ausreichend großer Fläche, mit begrenzter Nahrung und enormen Misshandlungen. Ich glaube, dass die Torah uns nicht gestattet, unser koscheres Fleisch zu essen wegen des Leids der Lebewesen, dass wir verursachen, wenn wir diese Lebewesen großziehen. Hennen, die keinen einzigen Tag ihres Lebens im Sitzen verbringen können, weil sie in kleinen Legebatterien eingesperrt sind. Kühe, die Unmengen an Milch geben müssen und deren Kälber direkt nach der Geburt von ihren Müttern getrennt werden. Tiere brauchen einen fairen Lebensstandard »welfare« wie Menschen auch, auch bei ihnen haben wir Tikun Olam nötig.

Wir lesen im Buch Exodus, Kapitel 23, Vers 12: »Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Magd und der Fremde aufatmen können.«

Wir haben gesehen, dass Tikun Olam im Judentum von uns holistisches Handeln erfordert. Reden allein werden die Welt nicht »verbessern« und sicher nicht »vervollkommnen«. Nur durch Taten können wir das Ziel erreichen. Gott hat uns den Befehl gegeben. Wir sollen handeln und weniger sprechen, für den Schwachen, für den Fremden, die Waise, alle Lebewesen und die Umwelt und die gesamte Schöpfung Gottes. Uns ist geboten, alles zu bewahren, was Gott geschaffen hat und dem zu helfen, der schwach geschaffen wurde, der eingeschränkt ist, der Waise und der Witwe. Alle diese ermöglichen uns Tikun Olam im tiefen Sinne dieses Wortes zu praktizieren.

2 Tikun Olam im Islam

Nun aber zur Frage, ob es Tikun Olam auch im Islam gibt. Tatsächlich existiert der Begriff Tikun Olam im Islam nicht. Aber viele der Gebote im Islam, die das Verhältnis der Menschen untereinander betreffen, ähneln den Geboten, die es im Judentum gibt, und viele sind auch mit diesen identisch. Deshalb können wir auch im Islam eine parallele Tendenz zuTikun Olam finden. Wie erwähnt – im Judentum hat Gott diese Aufgabe dem Menschen aufgetragen. Im Judentum gibt es 613 Gebote. Im Islam werden die Gebote nicht gezählt, aber fünf Gebote haben einen besonderen Stellenwert. Diese werden die »5 Säulen des Islam« genannt. Die erste Säule ist das Glaubensbekenntnis, durch welches ein Mensch der Gemeinschaft des Islam beitritt. Drei weitere Säulen beziehen sich auf zentrale kultische Abläufe, und die letzte Säule ist die Art, wie die Gesellschaft den Schwachen hilft und wie das islamische Staatswesen für dieses Ziel finanziert werden soll. Wir werden uns auf diese Säule konzentrieren.

Bevor wir in die Diskussion dieser Fragen einsteigen, sollten wir uns mit der Epoche beschäftigen, in der der Islam entstanden ist. Es ist die Zeit der Dschahilıja. Das ist die vorislamische Zeit. Es gibt Beschreibungen über den Edelmut und die Großzügigkeit der Dschahilıja-Gesellschaft. Das hat die Gesellschaft in finanzielles Unglück gebracht für die Familien, die diesen Edelmut als Lebensweg gewählt haben. Sie gaben den Armen ihren ganzen Besitz. Der Islam, der sich später herausgebildet hat, verbot diesen Weg. Großzügigkeit ist ein zentraler Wert unter den gesellschaftlichen, ethischen und religiösen Werten der Menschen in der Zeit der Dschahilıja. Die Menschen der Dschahilıja taten viel Gutes, damit die Gesellschaft das erkennt und über die guten Taten spricht. Sie haben Gutes für die Schwachen getan, aber um ihren eigenen Namen zu ehren.

Der Koran warnt uns vor der Gefahr von Verschwendung. In Sure 17, Verse 27: »Verschwender sind die Brüder der Satane, und der Satan ist seinem Herrn undankbar.« Diese Großzügigkeit und die Sorge für die Schwachen sind dem Islam als Basis bis heute erhalten geblieben, aber mit Grenzen. Die Großzügigkeit ist Teil eines religiösen Gebots geworden. Der Koran verwendet zwei Begriffe: Sadaqa und Zakat. In Korean gibt es Verse, die zeigen, dass die Sadaka ein Geschenk ist, das der Mensch aus freiem Willen gibt. Die Zakat ist eine Pflicht, die der Muslim bezahlen muss. Der wichtigste Vers im Koran, der sich mit diesem Gebot beschäftigt, benutzt den Begriff Sadaqa. Der Koran hat Grenzen für die freiwillige Sadaqa. Er legt fest, wie Sadaqa gegeben werden soll, nämlich nicht in grenzenloser Großzügigkeit. Als Sadaqa soll nur gegeben werden, auf was man selbst verzichten kann. Die ethischen Regeln und die Ethik selbst sind die hohen Aufgaben für die Gläubigen im Islam. In der Sure 2, Vers 177 heißt es: »Nicht darin besteht die Güte, dass ihr eure Gesichter gegen Osten oder Westen wendet. Güte ist vielmehr, dass man an Allah, den Jüngsten Tag, die Engel, die Bücher und die Propheten glaubt und vom Besitz – obwohl man ihn liebt – der Verwandtschaft, den Waisen, den Armen, dem Sohn des Weges, den Bettlern und für (den Loskauf von) Sklaven hergibt, das Gebet verrichtet und die Abgabe entrichtet; und diejenigen, die ihre Verpflichtung einhalten, wenn sie eine eingegangen sind, und diejenigen, die standhaft bleiben in Not, Leid und in Kriegszeiten, das sind diejenigen, die wahrhaftig sind, und das sind die Gottesfürchtigen.«

Das Gebot, Gerechtigkeit gegenüber Waisen zu üben und ihren Besitz aufrichtig zu verwalten, zieht sich durch den ganzen Koran und ist Teil des Bundes zwischen Gott und den Israeliten. Das schließt Gebote zwischen Kindern und Eltern, Gebote für den Waisen und den Bedürftigen ein. In Sure 2, Vers 83 heißt es: »Und als wir mit den Kindern Israel einen Bund schlossen, (sprachen wir:) ›Dienet keinem denn [= außer] Allah, tut Gutes euern Eltern und Verwandten und Waisen und Armen und sprecht von den Leuten nur Gutes und verrichtet das Gebet und entrichtet das Almosen.‹ Hernach kehrtet ihr euch bis auf wenige ab und wurdet abtrünnig.«

Der Koran widmet viel Aufmerksamkeit der Hilfe für Witwen und Waisen. Gleichzeitig achtet er darauf, nicht verschwenderisch zu handeln. In Sure 25, Vers 67 heißt es: »Und diejenigen, welche beim Spenden weder verschwenderisch noch geizig sind; sondern zwischen diesem stehen.« Und in Sure 9, Vers 60 wird das Geld der Sadaqa nur für die Armen, die Bedürftigen und diejenigen, die mit deren Versorgung beschäftigt sind, bestimmt. »Die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen und die, welche sich um sie bemühen, und die, deren Herzen gewonnen sind, und für die Gefangenen und die Schuldner und den Weg Allahs und den Sohn des Weges. (Das ist) Eine Vorschrift von Allah; siehe, Allah ist wissend und weise.«

Das Ziel der Sadaqa war, die Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern. So zum Beispiel zwischen den Einwanderern, die von Mekka nach Medina gekommen waren. Hier war das Ziel, die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Einwanderern und den Einwohnern Medinas auszugleichen, die den Islam angenommen hatten und deren wirtschaftliche Lage sehr viel besser war. Ebenso war es das Ziel, die Herzen derer, die den Islam annehmen, durch die erfahrene Hilfe zu unterstützen. Der Islam hat die Sklaverei nicht abgeschafft. Es gibt aber einige Verse, die beschreiben, wie der Umgang mit Sklaven sein soll. Auch soll Geld verwendet werden, um Sklaven freizukaufen.

Es gibt im Islam acht Ziele der Sadaqa, fünf gesellschaftliche, auf der Basis von religiösen Grundsätzen, und drei weitere mit dem Ziel der Sorge für die Existenz des Staates, wie das Zahlen von Steuern. Es gibt verschiedene Kriterien für die Höhe von Steuern: Zum Beispiel werden Pflanzen, die ohne Bewässerung gewachsen sind, mit zehn Prozent besteuert. Mit Bewässerung sind es nur fünf Prozent. Im Gegensatz dazu ist die Zakat eine Besitzsteuer und deshalb hoch. Die Reichen mussten für den Besitz, den sie hatten, auch höhere Steuern zahlen. Erwähnenswert ist auch die Zakat al-fiter. Ein Muslim ist verpflichtet, am Ende des Fastenmonats Ramadan eine bestimmte Summe zu zahlen. Sadaqa ist auch der Ausdruck eines Menschen, der den Islam angenommen hat. Die Pflicht der Zakat, also Almosen zu geben, muss mit weitem Herzen erfüllt werden. Wenn ein Kredit gewährt wird, ist es verboten, für diesen Zinsen zu nehmen. In Sure 30, Verse 38 bis 39 heißt es: »So gib dem, der von deiner Sippe ist, seine Gebühr, wie auch dem Armen und dem Sohn des Weges. Solches ist gut für jene, welche das Angesicht Allahs suchen; und sie – ihnen ergeht es wohl. Und was ihr auf Wucher ausleiht, um es zu vermehren mit dem Gut der Menschen, das soll sich nicht vermehren bei Allah. Und was ihr an Armenspende gebt, im Trachten nach Allahs Angesicht – sie sind es, denen es verdoppelt wird.« Zinsen sind, wie gesagt, verboten. Darauf werden wir noch zurückkommen.

Der Begriff Tikun Olam existiert im Islam tatsächlich nicht. Aber zu einigen Bereichen gibt es Verse, die sich mit Almosen und Mildtätigkeit beschäftigen. Diese Verse bringen die Gläubigen dazu, so zu handeln, wie es auch dem Tikun Olam entspricht. So heißt es in Sure 2, Vers 177: »Nicht besteht die Frömmigkeit darin, dass ihr eure Angesichter gen Westen oder Osten kehret; vielmehr ist fromm, wer da glaubt an Allah und den Jüngsten Tag und die Engel und die Schrift und die Propheten, und wer sein Geld aus Liebe zu Ihm ausgibt für seine Angehörigen und die Waisen und die Armen und den Sohn des Weges und die Bettler und die Gefangenen; und wer das Gebet verrichtet und die Armensteuer zahlt; und die, welche ihre Verpflichtungen halten, wenn sie sich verpflichtet haben, und standhaft sind in Unglück, Not und Drangsalszeit; sie sind es, die da lauter [= aufrichtig] sind, und sie, sie sind die Gottesfürchtigen. «

An verschiedenen Stellen im Koran gibt es Verse, die sich mit ethischen Themen beschäftigen, die auch miteinander verknüpft werden. So in Sure 6, Vers 152, der sich mit ehrlichem Handel in Verbindung mit Waisen und gerechten Gerichtsurteilen beschäftigt: »Und kommt nicht dem Gut der Waise zu nahe, außer um es zu mehren, bis sie herangewachsen; und gebet Maß und Waage in Gerechtigkeit. Wir beladen keine Seele über Vermögen. Und im Spruch seid gerecht, wäre es auch gegen einen Anverwandten, und haltet den Bund Allahs. Solches gebot er euch, damit ihr es zu Herzen nähmet.« Oder das Verhältnis der Diener Allahs zu den Schwachen, von den Waisen bis zu den Gefangenen. In Sure 76, Verse 8 bis 10 heißt es: »Und die mit Speise, aus Liebe zu Ihm, den Armen und die Waise und den Gefangenen speisen: ›Siehe, wir speisen euch nur um Allah willen; wir begehren keinen Lohn von euch noch Dank.‹«

Auch bei Geschäften und im Handel der Gläubigen untereinander wird eine faire Durchführung gefordert. Wir haben die Wichtigkeit der richtigen Waage gesehen. Dieses Instrument kommt von Allah, das heißt Allah hat es den Menschen zusammen mit der Heiligen Schrift übergeben. Die Waage verspricht, über Fairness und Ehrlichkeit im Handel zu wachen. Im Bereich der Moral ist auch die Ehrung der Eltern eingeschlossen. In Sure 17, Verse 23 bis 24 heißt es: »Und bestimmt hat dein Herr, dass ihr ihm allein dienet und dass ihr gegen eure Eltern gütig seid, sei es, dass der eine von ihnen oder beide bei dir ins Alter kommen. Drum sprich nicht zu ihnen: ›Pfui!‹ und schilt sie nicht, sondern führe zu ihnen ehrfürchtige Rede. Lass zu ihnen den Fittich der Unterwürfigkeit hängen aus Barmherzigkeit und sprich: ›Mein Herr, erbarme dich beider, so wie sie mich aufzogen, da ich klein war.‹«

Der Mensch hat nicht nur die Pflicht, seinen Eltern Gutes zu tun, sondern allen Menschen. Sure 4, Vers 36: »Und dienet Allah und setzet ihm nichts an die Seite; und seid gut gegen die Eltern, die Verwandten, die Waisen, die Armen, den Nachbar, sei er verwandt oder aus der Fremde, gegen den vertrauten Freund, den Sohn des Weges und den Besitz eurer Rechten. Siehe, Allah liebt nicht den Hochmütigen, den Prahler.«

Dieser Vers zeigt uns, dass die Mildtätigkeit einem jeden Menschen zu gelten hat.

3 Tikun Olam im Judentum und im Islam im Vergleich

In diesem dritten Teil meines Vortrages ist es nun Zeit, zu versuchen, das Gemeinsame und das Verschiedene zusammenzubringen.

Das Gebot des Tikun Olam im Judentum können wir mit gemeinsamen Elementen von Tikun Olam vergleichen, die auch im Islam vorhanden sind. In beiden Religionen ist es das Ziel der Gebote des zwischenmenschlichen Bereichs, die Menschen zu einer Verbesserung der Welt: d. h. zum Tikun Olam zu bringen. Judentum und Islam sind Schwester-Religionen, die ihren gemeinsamen Ursprung im Stammvater Abraham haben. Dessen Kinder, Ismael und Isaak, nahmen jeder das Erbe ihres Vaters und trugen es an einen anderen Ort, aber die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Religionen sind groß und tief.

Schon in der Zeit der Entstehung des Islam finde ich eine Symmetrie zwischen der Beschränkung, die der Islam für die Gabe der Sadaqa festlegt, und den Beschränkungen, die es auch im Judentum in dieser Angelegenheit gibt. Wie schon erwähnt verbietet der Islam, ohne Beschränkung Sadaqa zu geben, damit niemand seinen persönlichen Besitz zugunsten eines anderen verliert, wie es in der Gesellschaft der Dschahilija in ihrer Großzügigkeit üblich war. Der Islam legt eine Beschränkung fest, die auch für denjenigen Sorge trägt, der die Sadaqa gibt. Dafür gibt es eine Parallele im Judentum. Es heißt schließlich: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Du darfst also für deinen Nächsten nicht mehr sorgen, als du für dich selbst sorgst.

Wir sehen hier zwei parallele Festlegungen im Judentum und im Islam über die Grenzen von Tikun Olam, die Notwendigkeit der Sorge für mich selbst und meine Familie. Das ist nicht immer leicht für uns alle! Eine Gemeinsamkeit von Judentum und Islam ist, was im Judentum Halacha und im Islam Scharia genannt wird. Beide, Halacha und Scharia, sind Wegweiser durch das Leben eines gläubigen Menschen. Beide beschäftigen sich mit allen Lebensbereichen, dem Privatleben, der Familie und der Öffentlichkeit, religiösen Vorschriften, Kult und Gebet, Fasten und Wallfahrten. Beide beschäftigen sich mit den Geboten des menschlichen Zusammenlebens der Menschen, der Gesellschaft und der Gemeinde. Ihr Ziel ist, uns zumTikun Olam zu führen. Große Aufmerksamkeit widmet der Koran, wie auch die Torah, dem Gebot, den Schwachen zu helfen. Beide betonen besonders, dass die Gläubigen die Waisen und Witwen schützen müssen. Im Judentum gibt es auch den Schwerpunkt in der Notwendigkeit, für die Fremden zu sorgen: »Seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.« Und diese Pflicht ist die am häufigsten genannte in der Torah, nämlich 36 Mal.

Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass der Begriff Tikun Olam aus dem Judentum stammt und keine andere monotheistische Religion diesen Begriff verwendet. Und trotzdem erkennen wir, dass auch im Islam von den Gläubigen verlangt wird, sich an viele Gebote zu halten, deren Ziel es ist, eine gerechte, ja eine verbesserte Gesellschaft zu erreichen, in der es mehr Gerechtigkeit und Gleichheit gibt und die die Rechte eines je- den Einzelnen schützt. All das ist ein grundlegender Teil der Idee vonTikun Olam. Wir haben auch gelernt, dass Wohltätigkeit im Islam und im Judentum eine große Bedeutung hat. Sogar die Begriffe sind in beiden Religionen fast identisch – Zedaka im Judentum und Sadaqa oder Zakat im Islam.

Sowohl im Judentum wie im Islam gibt es Gesetze über die Höhe des Zehnten und Höhe der Zedaka, die abgegeben werden muss. In diesem Bereich haben sich verschiedene Einstellungen entwickelt, wie zum Beispiel die acht Stufen der Zedaka von Maimonides. Im Judentum und im Islam gibt es anonyme Almosen-Kassen, in die man einzahlen kann, so dass der Empfänger der Spenden nicht weiß, wer ihm geholfen hat. Im Judentum gibt es verschiedene Arten von Zehnt, zum Beispiel den Armen-Zehnt. Diese Einrichtung gehört sowohl zur Zedaka als auch zum Bereich der sozialen Gerechtigkeit. Dem entspricht im Islam der Zakat, der eigentlich eine Steuer ist, eine Summe, die gemäß dem Koran jeder Muslim zahlen muss und die ermöglicht, ein System der gesellschaftlichen Hilfe zu entwickeln.

Es finden sich aber auch Unterschiede in einigen Bereichen des Gebens in beiden Religionen. So beispielsweise bei der Konversion. Im Judentum ist es verboten, jemandem etwas zu geben, der zum Judentum übertreten möchte, während er diesen Prozess des Übertritts durchläuft. Eine Konversion zum Judentum ist sehr schwierig. Im Islam gibt es Unterstützung und Hilfe gerade für diejenigen, die den Islam annehmen. Vielleicht nicht, um sie davon zu überzeugen, sondern ihnen den Weg in eine neue Welt mit ihren Herausforderungen zu erleichtern.

In der Frage der Sklaverei und der Einstellung zu ihr gibt es Unterschiede zwischen Judentum und Islam. Ich möchte die gesellschaftlichen Bedingungen für den Sklaven im Judentum und seine Freilassung erwähnen und alle seine Rechte wie ein Ruhetag am Samstag und andere Rechte. Das ist Tikun Olam der Torah im Vergleich zum Lebensstandard von Sklaven in der Antiken Welt. Im Islam treffen wir auf den Propheten Muhammed und seine Zeitgenossen. Diese besaßen, erbeuteten, erwarben, verkauften und befreiten Sklaven. Diese Sklaven bekamen Rechte, die ihren Stand erheblich verbesserten im Vergleich zu dem, was in der vorislamischen Gesellschaft üblich war. Auch in diesem Bereich gingen Judentum und Islam wichtige Schritte zum Tikun Olam.

Eine der schwierigsten Themen für den Menschen früher und heute sind Anleihen und in erster Linie ihre Rückzahlung. Damit ist auch das Nehmen von Zinsen verbunden. Ursprünglich war das Nehmen von Zins in beiden Religionen, im Judentum wie im Islam, verboten. Im Judentum ist es erlaubt, von jemandem, der Nichtjude ist, Zinsen zu nehmen. Das hatte gesellschaftliche Gründe: Kredite hatten die Aufgabe, den Lebensstandard der Bedürftigen zu verbessern. Das ist meiner Meinung das Ziel beider Religionen, durch Kredit die Lebensqualität von Schwachen zu verbessern mit einer Möglichkeit für eine Rehabilitation. Wir haben gesehen, dass Kredite im Judentum im Schmita-Jahr ihre Gültigkeit verlieren. Das jüdische Verbot, Zinsen zu nehmen, bezieht sich auf die Halacha. In der Torah gibt es zwei Wörter für Zins, Neschech (auf Deutsch in etwa »das Abgebissene«, von dem Verb naschach »abbeißen «). An mehreren Stellen wird in der Torah davor gewarnt. Nach jüdischer Vorstellung übertritt jeder, der Kredite mit Zinsen vergibt, viele Verbote. Nach islamischem Recht ist Zins (auf Arabisch Riba) verboten. Dieses Verbot wird unterschiedlich ausgelegt.

Wir haben gelernt das die beiden Religionen einen Weg gefunden haben, die Rechte der Menschen und besonders die Rechte der Schwachen zu verbessern, den Zustand und die Lebensqualität des Menschen und der Gesellschaft, mit dem Ziel, die Welt zu vervollkommnen.

4 Tikun Olam in meinem persönlichen Leben in Israel

Im vierten und letzten Teil meines Vortrags möchte ich euch erzählen, was ich in Israel auf dem Gebiet von Tikun Olam mache. Es sind Erfahrungen von Tikun Olam in der gesellschaftlichen Realität des Staates Israel und in meinem Leben. Nur zu lernen und zu sprechen ist nicht genug in diesem Gebiet. Man muss tun! Gesellschaftliche Pflichten, die ein Teil vonTikun Olam sind, sind die Gebote von Gott, gegeben an die Kinder Ismaels wie auch an die Kinder Isaaks. Ich möchte euch von ein paar Begegnungen mit Menschen heute in Israel erzählen, die zum Tikun Olam gehören.

Ich beginne mit Beziehungen zwischen Juden und Arabern. Aus der Entfernung, von Europa aus, hat man gelegentlich den Eindruck, in Israel steht alles in Brand. Richtig ist, dass alles sehr sensibel ist, und einseitige Schritte können eine Gefahr in dieser Region sein. Normalerweise bin ich der aktive Part. Ich möchte euch aber ein Erlebnis erzählen, in dem gerade ich der passive Part war und anderen die Möglichkeit zum Tikun Olam gegeben habe. Vor etwa drei Jahren musste ich mich einer kleinen Operation unterziehen. Ich wolte nicht unter Vollnarkose sein. Der Chirurg war ein Mensch des Friedens. Die beiden Anästhesisten waren zwei religiöse, rechtsstehende Siedler. Drei der Assistenten waren Araber. Eine interessante Situation während der Operation. Im Hintergrund war während der Operation Musik zu hören, die der Chirurg ausgewählt hatte. Nach der Operation fragte ich ihn, ob die Musik von Offenbach sei. Es stimmte. Ich hatte das bemerkt, trotz der körperlichen Schmerzen und ich festgebunden war. Da gab es die Stunden der Erhebung, der Euphorie, Freundlichkeit und Geschwisterlichkeit der sechs Menschen. Sie arbeiteten harmonisch zusammen und sprachen liebevoll miteinander. In meinen Augen ist auch das Tikun Olam.

Es gibt in Israel zwei Bewegungen, die aus religiösen und ethischen Gründen für Tikun Olam aktiv sind. Ich bin Mitglied in beiden. Die eine Organisation heißt Oz we Schalom, auf deutsch »Stärke und Frieden«. Da bin ich schon 38 Jahre lang Mitglied. Diese Organisation ist die Nachfolgerin der Bewegung Brit Schalom, »Bund des Friedens«, die Martin Buber, Gerschom Scholem, Ernst Simon und Samuel Hugo Bergmann zusammen aufgebaut haben. In ihr war ich viele Jahre lang Generalsekretär und Sprecher. Sie ist das Widderhorn der Torah Israels, von der es heißt: »Ihre Wege sind Wege der Anmut, all ihre Pfade (führen zum) Frieden.« und »Suche Frieden und jage ihm nach!« Ich habe viele Jahre im Rahmen dieser Bewegung gearbeitet, die heute leider nicht mehr zu Wort kommt, aber es gibt einige junge Menschen, die heute versuchen, sie von neuem zu aktivieren. Über viele Jahre hinweg organisierten wir Aktivitäten, um Brücken zwischen Juden und Arabern zu bauen. Ich habe Brücken gebaut zwischen Siedlern und Palästinensern. Es gab Protestveranstaltungen und Demonstrationen und gemeinsames Lernen und Treffen für den Frieden. Als Sprecher der Bewegung war ich im Parlament sehr aktiv, um dem Frieden näherzukommen. Wir besaßen Einfluss auf alle politischen Parteien.

Die zweite Bewegung, in der ich aktiv bin, nennt sich Tag Me’ir, zu Deutsch »Lichtzeichen« oder »Leuchtzeichen«. Der Name Tag Me’ir ist ein Protest gegen eine aggressive rassistische Gruppe namens Tag mechir. Das bedeutet »Preisschild. « Die Bewegung »Leuchtzeichen«/Tag Me’ir steht umfassend für Tikun Olam.

Wir kommen zu allen, die durch Gewalt von Mensch gegen Mensch verletzt werden, oder wir besuchen Familien, in denen jemand von der Familie ermordet wurde wegen extremer Gewalt von beiden Seiten zwischen Palästinensern und Juden oder jeder anderen Gewalt aufgrund nationaler oder religiöser Identität. Wir schauen nicht darauf und unterscheiden nicht, ob ein Terrorist Jude oder Palästinenser, ob das Opfer Jude oder Palästinenser ist. Wir habe Palästinenser besucht, deren Angehörige ermordet worden waren, durch jüdischen Terror lebendig verbrannt wurden, und wir pflegen zu diesen Familien ständige Kontakte. Genauso besuchen wir Siedler, die durch Palästinenser verletzt wurden. Wir kommen zu Moscheen, die niedergebrannt wurden, und überall hin, wo es Terror gibt. Bei einem solchen Besuch kam ich zusammen mit meinem Sohn, einem Soldaten, zu einer durch Extremisten niedergebrannten Moschee, um unsere Anteilnahme zu bekunden. Alle Wände dort waren mit einer dicken schwarzen Ascheschicht bedeckt. Mein Sohn Hillel schrieb spontan mit seinem Finger die Worte auf die Wand: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

Wir haben auch die Einwohner des Dorfes Duma besucht. Dort überlebte das Kind Achmad als Einziges, nachdem seine Mutter, sein Vater und sein einjähriger Bruder durch einen Anschlag zweier jüdischer Terroristen in ihrem Haus getötet wurden. Die Täter hatten einen Molotow- Cocktail durchs Fenster geworfen. Wir vertreten diese palästinensischen Familien auch vor Gericht. Wir versuchen an diesen Orten, Licht statt Dunkelheit zu verbreiten, Liebe statt Hass, Frieden statt Krieg. Wir besuchen jeden, der durch Hass verletzt wurde, und solche Fälle gibt es leider jede Woche. In beiden dieser Bewegungen wird Tikun Olam in der tiefsten Bedeutung des Wortes umgesetzt, mit allem was die Liebe zum Fremden betrifft. Der Fremde, das kann heute der Palästinenser sein, oder der Flüchtling aus Eritrea, der im Süden von Tel Aviv wohnt. Sich um diese Menschen zu kümmern, ist ein Gebot von Gott. Ich persönlich begleite eine Familie aus Eritrea, eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn, dessen Vater für eine lange Zeit im Gefängnis sitzt.

Zehn Jahre lang gab Gott mir die Möglichkeit, eine Schule zu leiten, eine Schule für besondere Bildung in Jerusalem für Jugendliche zwischen 13 und 21 Jahren. Dort hatte ich die Gelegenheit, täglich Schüler mit starken Behinderungen zu unterstützen. Ich habe diesen Ort auch zu einem Ort des Miteinander machen können, mit Freundschaft und Herzlichkeit der Schüler auf der einen und den Mitarbeitern auf der anderen Seite, nicht religiösen ebenso wie orthodoxen und Charedim. Aber das Wichtigste war meiner Ansicht nach, dass Juden aus den unterschiedlichsten Strömungen zusammen mit Muslimen und Christen unter einem Dach zusammengearbeitet haben. Ich habe diese Gruppe von Menschen zur gemeinsamen Arbeit gebracht, alle als Kinder Abrahams. So entstand auch ein Treffen von Schülern aus allen drei Religionen aus ganz Jerusalem: Juden, Muslime und Christen. Wir feierten zusammen alle Feste, und wir fühlten an diesem Ort Liebe, Frieden und Wohlwollen. Das war, so denke ich, eine doppelte Mission, diejenigen zu stärken, die die Gesellschaft zurückgelassen hatte, und dabei Menschen zusammenzuführen, die sonst nicht zusammenleben.

Vor zwanzig Jahren durfte ich die Organisation Achla aufbauen, die für Menschen mit besonderen Behinderungen in sehr komplizierten Situationen da ist. Sie wird durch private Spenderinnen und Spender finanziert. Hier muss ich die Stiftung S.H.A.R.E. und besonders Lisbeth und Karl-Hermann Blickle erwähnen; ohne die Familie Blickle würde dieses Projekt nicht existieren. Wir begleiten Familien in Jerusalem und Umgebung, bei denen ein Familienmitglied besondere und sehr komplizierte Bedürfnisse hat. Manche Familien haben mehrere solcher Mitglieder. In einer Familie aus sechs Leuten hatten fünf solche Probleme. Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, begleiten wir zur Polizei, vor Gericht und an jeden anderen Ort, wenn es nötig ist. Die Hauptaufgabe ist die Begleitung und Unterstützung dieser Menschen, und mit ihnen für alle Lebensbereiche Lösungen zu finden: einen Weg zur Rehabilitation. Wir gehen auf dem Weg zur Rehabilitation mit den Familien.

Ich spreche von Familien, deren Zustand wirklich kritisch ist und bei denen die Institutionen des Staates Israels nicht in der Lage sind, auf ihre Situation angemessen zu reagieren. Diese begleiten wir und finden für sie Lösungen, in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium, dem Ministerium für Arbeit und Soziales, dem für Gesundheit und anderer Institutionen. So arbeiten die Mitarbeiter der Organisation Achla. Wir sind offen dafür, mit allen Menschen zu arbeiten, da diese als Bild Gottes geschaffen wurden, mit religiösen und charedischen Familien, Flüchtlingsfamilien; es besteht auch der Wunsch, mit arabischen Familien zu arbeiten. Zurzeit weiten wir unsere Zusammenarbeit aus mit einer Akademie für Charedim, dem »Lev institute«; von dort haben wir Freiwillige, die mit unseren Familien arbeiten. Diese Familien befinden sich in schlimmen Notlagen. In diesen Tagen kam eine Familie dazu, mit zwei kleinen Kindern im Alter von vier und sechs Jahren, die beide an Krebs erkrankt sind und deren Gesundheitszustand schwierig ist. Sie werden in Israel und im Ausland behandelt. Wer jedoch unsere Hilfe besonders braucht, ist ihr großer Bruder, der ein schwieriges Verhalten und Benehmen aufweist. Das ist eine Aufgabe, die genau dem Tikun Olam entspricht.

Der Rabbiner Prof. Seev Safrai sagte mir in einem Gespräch in Vorbereitung auf diesen Vortrag, dass wir in Achla mit unserer Arbeit in der Organisation Tikun Olam tun, mit Quf und Kaf. Mit Quf, weil wir die Lage der Familien und deren Mitglieder verbessern, aber vor allem mit Kaf, weil es unser Ziel ist, für diese Familien ein neues Leben zu gründen und somit eine bessere Gesellschaft durch einen Treffpunkt zwischen den Familien und der Gesellschaft.

Zu meiner Freude bin ich nicht allein, und meine Kinder tun es mir nach. In der Zeit des Kriegs in Syrien zum Beispiel, als Millionen von Flüchtlingen ohne Obdach waren, überwies mein Sohn, ein Offizier in der israelischen Armee, eine beachtliche Summe an eine Organisation, von der er sicher sein konnte, dass die Hilfe die Kinder in Syrien auch wirklich erreicht. Mein zweiter Sohn ist freiwillig aktiv für junge Menschen, die der LGBTI-Community angehören und deshalb Schwierigkeiten haben, manchmal auch in Gefahr sind, zum Beispiel einen Selbstmord zu versuchen.

In Israel gibt es 40.000 Non-Profit-Organisationen. In diesen arbeiten 650.000 Menschen. Die meisten von ihnen arbeiten für den Tikun Olam, die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen und der Gemeinde, für die eigentlich der Staat Sorge tragen müsste. Diese Verantwortung haben die Bürger in ihre eigenen Hände genommen. Diese Tätigkeiten kommen aus der Ethik der Torah.

Noch etwas Persönliches: Es gibt daran keinen Zweifel, dass meine eigenen Tätigkeiten davon beeinflusst sind, dass meine Familie und besonders meine Mutter 1945 aus ihrem persönlichen Ägypten ausgezogen ist, nachdem sie dreieinhalb Jahre im Konzentrationslager war und dort fast ihre ganze Familie verloren hat, auch ihren ersten Ehemann. Vier Generationen sind nicht aus Ägypten zurückgekehrt. Da ich zur zweiten Generation der Schoa-Überlebenden gehöre, entwickelte ich eine enorme Sensibilität, schon im Alter von vier oder fünf Jahren gegenüber Menschen und Tieren. Ich fühlte mich persönlich verpflichtet. Es besteht kein Zweifel, dass wir Menschen sind, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden. Als Muslime, Christen und Juden sind wir zusammen und gemeinsam verpflichtet, uns anzustrengen, Tikun Olam zu tun. Und zwar Tikun Olam mit Kaf und Tikun Olam mit Quf, also die Verbesserung der Welt, und noch wichtiger: zusammen eine bessere Welt zu gründen.

Ich lade uns alle dazu ein, anzufangen, und dann erfüllt sich auch der letzte Vers des Alejnu leschabeach in vollständiger Weise für uns alle als Juden, Muslime und Christen:

»Und es heisst: Der Ewige wird König über der ganzen Erde sein, An jenem Tag wird der Ewige einzig und Sein Name einzig sein!« Amen.

Es ist wahr. Als Kinder Abrahams sind wir diesem Ziel vielleicht näher als jemals zuvor. Ich lade Sie ein, einander die Hand zu geben, Christen und Muslime und Juden, die ihr hier seid, mitzuarbeiten mit mir und mit der Familie Blickle. Wir haben eine Pflicht zum Tun, zusammen als Kinder Abrahams und Nachkommen von Issak und Ismael, zusammen mit unseren christlichen Geschwistern, Tikun Olam zu tun!


QUELLE: Obiger Artikel stammt aus:

Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg)

Sonderheft 2022:
Interreligiöser Dialog im Lichte Isaaks und Ismaels.
Friedensdimensionen des jüdisch-muslimischen Gesprächs

Freiburg 2022

 

 

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ZfBeg Info

Editorische Anmerkungen

Johanan Flusser studierte Veterinärmedizin, Philosophie und Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er ist Leiter der israelischen Hilfsorganisation Achla und Sohn des berühmten jüdischen Jesusforschers David Flusser.