Theologische Vorarbeiten zu einem christlich-jüdischen Dialog

Was einem christlich-jüdischen Dialog entgegensteht und ihn behindert, wo nicht gar verhindert. Was können und müssen wir tun, damit der Wunsch nach einem solchen Dialog seiner Verwirklichung ein Stück näher gebracht werden kann?

Rolf Rendtorff

Theologische Vorarbeiten zu einem christlich-jüdischen Dialog

Prolegomena

Das Thema, zu dem ich für heute abend eingeladen wurde, lautete: "Der jüdisch-christliche Dialog". Eine solche Themenformulierung bringt mich immer in Verlegenheit. Denn den "Jüdisch-christlichen Dialog" gibt es nicht. Was es gibt, ist der Wunsch einiger Christen, daß es ihn geben sollte, und ihre manchmal recht intensive Bemühung darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Aber es sind nur wenige Christen, die sich darum bemühen, sehr wenige auf die Gesamtheit der Christen gesehen, und auch sehr wenige Theologen auf die Gesamtheit der Theologen gesehen. Die Zahlen schrumpfen noch mehr zusammen, wenn wir sie auf die Geschichte der christlichen Kirche insgesamt beziehen. Denn, und damit kommen wir zu einem der wesentlichen Ausgangspunkte unserer Fragestellung, selbst der Wunsch nach einem jüdisch-christlichen oder christlich-jüdischen Dialog war in der Geschichte der Kirche so gut wie nie vorhanden - bis, ja bis zur allmählich entstehenden Einsicht, daß die christliche Kirche und Theologie tief in den Geschehniszusammenhang verstrickt war, den wir mit dem Begriff "Holocaust" zu umschreiben versuchen. Erst die Einsicht in diese Verstrickung hat den Wunsch nach einem christlich-jüdischen Dialog entstehen lassen. Aber diese Verstrickung erweist sich zugleich als eines der großen Hindernisse für einen solchen Dialog. Wir müssen deshalb zunächst davon sprechen, was einem christlich-jüdischen Dialog entgegensteht und ihn behindert, wo nicht gar verhindert. Ich will das in Kürze tun und ich will die Dinge deutlich bei Namen nennen. Dann möchte ich mich aber der Frage zuwenden, was wir denn tun können und tun müssen, damit der Wunsch nach einem solchen Dialog seiner Verwirklichung ein Stück näher gebracht werden kann. Denn ich möchte mit meinen einleitenden Bemerkungen ja keineswegs diejenigen ins Unrecht setzen, die mich zu diesem Vortrag eingeladen haben. Im Gegenteil, ich möchte versuchen, der in dieser Einladung enthaltenen Intention zu ihrem Recht zu verhelfen und aufzuzeigen, in welchem Kontext sie heute gesehen werden muß.

I

Für die christliche Kirche und Theologie galten durch die Jahrtausende hin, und gelten vielfach noch heute Judentum und Christentum als unvereinbare Gegensätze. Das hat nicht zu allen Zeiten und an allen Orten in aktiver Judenfeindschaft seinen Ausdruck gefunden, wenn dies auch oft genug der Fall war und oft genug im wahrsten Sinne , mörderische" Konsequenzen hatte. Es hat aber unter anderem seinen Ausdruck darin gefunden, daß die christliche Kirche ihr eigenes Selbstverständnis so definierte und formulierte, als gäbe es das Judentum nicht - genauer gesagt: als gäbe es das Judentum nicht mehr. Dies ist in dem Beschluß der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland vom Januar 1980 sehr treffend formuliert worden:

Durch Jahrhunderte wurde das Wort "neu" in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet: Der neue Bund wurde als Gegensatz zum alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden. Diese Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels und seine Verurteilung zur Nichtexistenz haben immer wieder christliche Theologie, kirchliche Predigt und kirchliches Handeln bis heute gekennzeichnet. Dadurch haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht. (4.7)

Hier begegnen einige wichtige Aspekte des Problems. Das Verhältnis von "alt" und "neu" wird in verschiedenen Richtungen entfaltet : alter Bund und neuer Bund, altes Gottesvolk und neues Gottesvolk, Ersetzung des Alten durch das Neue, Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen - bis hin zur Verurteilung des Alten zur Nichtexistenz. Gerade diese letzte Formulierung erscheint mir besonders wichtig: Durch Nichtachtung seiner gegenwärtigen Existenz wurde das Judentum zur Nichtexistenz verurteilt. Das Judentum gehörte für die christliche Tradition der Vergangenheit an. Für die Gegenwart spielt es keine Rolle; es existiert nicht mehr.

Die Gegenüberstellung von "alt" und "neu" hat aber auch eine "aggressive" Seite, um es einmal so zu nennen. Das Neue verdrängt das Alte; das heißt : das Christentum verdrängt das Judentum. Dies drückt sich unter verschiedenen Aspekten aus. Einerseits in der Lehre von der Substitution, der Ersetzung des Alten durch das Neue. Danach ist das Christentum an die Stelle des Judentums bzw. des biblischen Israel getreten. Die Kirche ist das "neue Israel". (Ich komme darauf zurück.) Aber was ist dann aus Israel geworden? Die Antwort, die die christliche Theologie durch die Jahrhunderte hindurch oft und oft gegeben hat, ist sehr eindeutig: Israel ist von Gott verworfen. Ich will das jetzt nicht näher entfalten; unsere theologischen Bibliotheken sind voll von Büchem, in denen diese Lehre auf die eine oder andere Weise vertreten wird.

Zwischen der Kirche als dem neuen, von Gott erwählten Israel und dem alten, von Gott verworfenen Judentum kann es kein Gespräch und schon gar keinen Dialog geben. An dieser Stelle tritt nun, besonders in der protestantischen Theologie, etwas anderes in Erscheinung : die Judenmission. Es ist eindrucksvoll und erschreckend zu sehen, wie die ersten kirchlichen Äußerungen nach dem Holocaust drei Dinge miteinander verknüpfen: das Schuldbekenntnis der Kirche wegen ihrer Mitschuld am Holocaust, die Lehre von der Verwerfung Israels und die nachdrückliche Aufforderung zur Verstärkung der Judenmission. Den Jüngeren unter Ihnen ist dieser Aspekt unserer theologischen Tradition wahrscheinlich nicht mehr bewußt. Ich möchte deshalb ein paar Sätze aus einem Dokument zitieren, das dies besonders eindrücklich widerspiegelt. Es ist das "Wort zu Judenfrage" vom April 1948. Es wurde beschlossen vom "Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland", also von einem Gremium, das noch nach 1945 die Tradition der Bekennenden Kirche aus der Zeit des Kirchenkampfes repräsentierte. Dort war fast alles vertreten, was damals in Deutschland kirchlich und theologisch Rang und Namen hatte. Dieses Wort enthält die Substitutions- und Verwerfungslehre in geballter Form - eine heute nur noch schwer erträgliche Lektüre! Und dann folgt im Schlußabschnitt ein Aufruf zur Judenmission:

Richtet gegenüber Israel mit besonderer Sorgfalt und mit vermehrtem Eifer das Zeugnis eures Glaubens und die Zeichen eurer Liebe auf. Sagt es ihnen, daß die Verheißungen des Alten Testaments in Jesus Christus erfüllt sind...Wohl wissen wir uns durch unser Bekenntnis zu dem gekreuzigten Christus von jenem Teil Israels, der in der Verwerfung seines Königs verharrt, schmerzlich getrennt...Aber wir wollen in der Fürbitte für Israel nicht müde werden und auf die zeichenhafte Bedeutung seines Schicksals achten.

Ich zitiere dies, um bewußt zu machen, daß auch noch in der ersten Phase der Neubesinnung nach dem Holocaust an so etwas wie einen Dialog zwischen Christen und Juden überhaupt nicht zu denken war Wenn Juden in den Blick kamen, dann bestenfalls als Objekte der Judenmission. Dies fügt sich mit dem schon Gesagten zusammen: Aus dieser christlichen Sicht hat gegenwärtiges Judentum theologisch keine Existenzberechtigung. Juden sind im Grunde potentielle Christen. Sie warten auf ihre Bekehrung, sie wissen es nur noch nicht. Darum müssen wir es ihnen sagen. Es versteht sich von selbst, daß sich kein Jude auf einen solchen "Dialog" einlassen kann und will. Deshalb ist das Aufgeben der Judenmission eine der grundlegenden Voraussetzungen für jedes Gespräch zwischen Christen und Juden. Glücklicherweise ist dies inzwischen schon weithin geschehen (am wenigsten vielleicht noch in Württemberg!).

Von den vielen Aspekten dieses ganzen Problemkreises will ich jetzt noch einen hervorheben, der für uns an den theologischen Fakultäten von besonderer Bedeutung ist: das Verhältnis von Altem und Neuem Testament. In gewisser Weise spiegeln sich hier die bisher genannten Aspekte wider. Es gibt eine breite Tradition christlicher Bibeltheologie, in der die christlichen Theologen das Monopol der Auslegung des "Alten Testaments" für sich beanspruchen. Was "wahr" ist, kann nach dieser Auffassung nur vom Neuen Testament her gesagt werden, und nur was nach diesen Kriterien "wahr" ist, kann innerhalb der christlichen Kirche und Theologie nachvollzogen werden und Geltung haben. Hier zeigt sich wieder das Phänomen der Nichtexistenz des Judentums für die christliche Theologie. Denn in dieser ganzen Diskussion spielte bis vor kurzem die Frage eines eigenständigen jüdischen Bibelverständnisses keine Rolle. Und deshalb wurde auch das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Bibelauslegung so gut wie gar nicht erörtert. Insbesondere wurde die Frage einer möglichen Kontinuität zwischen dem jüdischen und dem christlichen Bibelverständnis nicht gestellt.

Hier gibt es jetzt erste Anzeichen einer Neubesinnung. Dabei spielt ein Aufsatz des amerikanischen jüdischen Theologen Jon Levenson eine wichtige Rolle, der vor einigen Jahren in deutscher Übersetzung erschienen ist unter dem Titel "Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren" (EvTh 1991). Der Titel war nicht eigentlich als Provokation gemeint. Der Verfasser wollte aber nachdrücklich darauf aufmerksam machen, daß "theologische" Auslegung biblischer Texte, also auch solcher des "Alten Testaments", durchweg unter christlichem Aspekt betrieben werde und deshalb für Juden nicht von Interesse sei. Er meinte offenbar nicht, daß Juden sich überhaupt nicht für eine theologische Auslegung des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel interessierten; das zeigen seine übrigen Publikationen sehr eindrucksvoll. Aber er betrachtete die christliche Weise dieser Auslegung als einseitig, und er warf den Christen vor, daß sie sich nicht "der Begrenztheit des Kontextes ihres Unternehmens bewußt" seien, insofern sie einen ganzen Zweig der Bibelauslegung ignorierten.

Sie sind hier in Tübingen in der privilegierten Situation, daß Sie bereits Kunde von einem solchen Neuansatz bekommen haben; denn Herr Kollege Janowski hat sich ja Anfang dieses Jahres in seiner Antrittsvorlesung ausführlich mit dem Konzept von Jon Levenson auseinandergesetzt. Dabei hat er die grundlegende Veränderung deutlich gemacht, die sich mit Notwendigkeit ergibt, wenn man sich auf diese Frage einläßt:

Christliche Theologie muß bei der Frage nach der Einheit der Schrift...in Rechnung stellen, daß das Alte Testament als erster Teil der christlichen Bibel zuvor die Heilige Schrift des Judentums war - und weiterhin ist. Da die christliche Bibel aus zwei Teilen besteht, deren erster Teil als Tanach zugleich die Bibel Israels ist, bleibt alles, was zum Thema "Einheit der Schrift" auszuführen sein wird, dem Dialog mit dem Judentum ausgesetzt.

Hier erscheint das Judentum als lebendige und gegenwärtige Größe. Es hatte nicht nur den ersten Teil unserer christlichen Bibel als Heilige Schrift, sondern es hat ihn noch. Mit dieser Frage muß sich jede christliche Auslegung der Bibel auseinandersetzen - ja ich denke, sie muß damit beginnen. Denn dieser Teil der Bibel war ja schon die Bibel Israels, bevor das Christentum entstand. Und es war die Bibel Jesu und der ersten Christen, weil sie Juden waren. Wenn wir die Fragen vom Neuen Testament her stellen, drehen wir das Problem gleichsam um, indem wir fragen: Wie kann ein Teil der christlichen Bibel zugleich die jüdische Bibel sein? Aber die eigentliche Frage lautet doch umgekehrt: Wie konnte die Bibel Israels zu einem Teil der Bibel des Christentums werden?

So führt auch die Frage des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament letzten Endes wieder auf das Problem der "Israelvergessenheit" der christlichen Theologie. Denn nicht nur die Bibel Israels war da, bevor das Christentum entstand, sondern vor allem war Israel da. Hier liegt der entscheidende Ansatz für das notwendige Umdenken im Blick auf das Verhältnis von Judentum und Christentum. Wir müssen bei der Priorität Israels einsetzen. Die Existenz Israels bedarf gegenüber der des Christentums keiner Begründung. Wohl aber bedarf es der erklärenden Beschreibung, wie sich aus dem Judentum heraus eine neue Gemeinschaft entwickeln konnte, die sich schließlich vom Judentum trennte und eine eigene "Religion" entwickelte.

Ich denke, daß an dieser Stelle die theologischen Vorarbeiten zu einem christlich-jüdischen Dialog einsetzen müssen.

II

Entscheidend ist dabei der Ausgangspunkt. Christliche Theologen versuchen meistens, Israel aus christlicher Sicht zu definieren. Etwas zugespitzt gesagt: Sie versuchen, Israel einen Platz im christlichen Denkgebäude anzuweisen oder einen geeigneten Platz für Israel in diesem Denkgebäude zu finden. Aber wir müssen die Frage umkehren, sie sozusagen vom Kopf auf die Füße stellen. Am Anfang steht Israel. In Israel entsteht eine messianische Bewegung, ausgelöst durch das Auftreten eines Menschen namens Jesus, der von seinen Anhängern als der verheißene endzeitliche Retter betrachtet wird, als der "Messias". Wir können im Augenblick die Fragen beiseite lassen, ob Jesus selbst sich für den Messias gehalten hat und wieweit der Begriftehtuot;Messias" im damaligen jüdischen Kontext angemessen ist. Deutlich ist, daß es nach dem Tod Jesu in Israel eine Anzahl von Juden gab, die sich dadurch von den anderen Juden unterschieden, daß sie an den auferstandenen Jesus als den "Christus" glaubten. Jetzt kann man sagen, daß es Christusgläubige, also "Christen" gab. denn diese , aber es gab noch kein "Christentum", Christen waren Juden, eine Gruppe innerhalb des Judentums, eine messianische "Sekte", wobei der Begriff der Sekte rein definitorisch gemeint ist und keinerlei abwertende Bedeutung hat.

Die Frage ist jetzt: Ab wann gab es ein vom Judentum unterscheidbares Christentum? In Apg 1 1,26 findet sich die Bemerkung, daß man in Antiochia zuerst die Bezeichnung Cristianoi "Christen" für die Jünger (mathetai) verwendet habe. Das ist offenbar ein Rückblick auf den Beginn einer Praxis, die zur Zeit der Abfassung dieses Textes allgemein geläufig war. Es ist nun gewiß kein Zufall, daß sich dieser Sprachgebrauch außerhalb des Landes Israel (bzw. Judäa) herausgebildet hat, d.h. in einem Bereich, in dem gewiß die Mehrheit der als "Christen" Bezeichneten keine Juden waren. Auch die Auseinandersetzung des Paulus in Röm 9-11 läßt ja deutlich erkennen, daß das Problem des Verhältnisses der Christen zu den Juden in einer überwiegend nichtjüdischen Gemeinde, eben in Rom, diskutiert wurde. Damit taucht ein sehr wesentlicher Aspekt des Selbstverständnisses dieser neuen Gemeinschaft auf. Einerseits stand sie durch die Predigt der Apostel ganz in der jüdischen Tradition, und d.h. vor allem auch in der biblischen Tradition. Die jüdische Bibel war auch ihre Heilige Schrift. Andererseits gehörten ihre Glieder nicht zum jüdischen Volk, und gerade Paulus hatte sie ja gelehrt, daß das grundlegende Kriterium der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, die Beschneidung und damit die Verpflichtung zum Halten der ganzen Tora, für sie nicht galt. Sie gehörten zu den ethne, den Völkern.

Dies ist eine Schlüsselfrage für unser Problem. Durch die Ausbreitung der christlichen Botschaft über den Rahmen des jüdischen Volkes hinaus entstand eine neue Gemeinschaft, die nicht mehr als eine Gruppe innerhalb des Judentums verstanden werden konnte und sich auch selbst nicht mehr so verstand. Paulus hat dazu im Galaterbrief einen sehr interessanten biblischen Kommentar gegeben. "Weil die Schrift vorhergesehen hat, daß Gott die Heiden (ethne) durch den Glauben gerecht macht, hat sie dem Abraham im voraus verkündigt: "In dir sollen alle Heiden (ethne) gesegnet werden."" (Gal 3,8, Zitat aus Gen 12,3 par). Jetzt erfüllt sich also, was Gott schon im Sinn hatte, als er zum ersten Mal zu Abraham sprach. Entscheidend ist dabei, daß das Heil durch Israel zu den Völkern kommt. Davon ist auch an anderen Stellen in der Bibel Israels die Rede, so wenn es im Jesajabuch vom Gottesknecht heißt, daß er ein "Licht für die Völker" sein soll ("or gojim Jes 42,6), oder bei dem letzten Propheten, bei Maleachi: "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ist mein Name groß bei den Völkern" (Mal 1,11).

Aber wie sollen wir nun diese neue Gemeinschaft definieren? Damit sind wir wieder bei unseren einleitenden Überlegungen. Was wir jetzt nicht mehr tun können, ist, diese neuentstandene Gemeinschaft, die "Kirche" , einfach an die Stelle Israels zu setzen, wie es allzu oft in der christlichen Tradition geschieht. So wird z.B. häufig vom "neuen Israel" gesprochen, das dem "alten Israel" gegenübergestellt wird und es angeblich abgelöst hätte. Dabei wird oft der Anschein erweckt, als handle es sich hierbei um biblische Terminologie. Unter Theologen wird dieser Anschein noch dadurch verstärkt, daß man die Formeln vom Israel kata sarka und Israel kata pneuma verwendet, so als handle es sich dabei um ein antithetisches neutestamentliches Begriffspaar. Aber weder der Begriff "neues Israel" noch der Ausdruck Israel kata pneuma kommen im Neuen Testament vor, und der Begriff Israel kata sarka hat an der einzigen Stelle, an der er begegnet (1Kor 10,18), zweifellos nicht die ihm in diesem Kontext zugeschriebene Bedeutung.

Es ist interessant zu sehen, wie hier theologisches Wunschdenken Formulierungen produziert hat, die weitreichende Folgen gehabt haben. Demgegenüber ist es jetzt aber unsere Aufgabe, die Identität der christlichen Kirche so zu definieren, daß dabei die Integrität Israels gewahrt bleibt. Nun sind wir hier heute nicht die ersten, die dies versuchen. Gerade im Kontext der Bemühungen um einen christlich-jüdischen Dialog ist dieses Problem natürlich schon lange gesehen worden. Die ersten intensiven Ansätze gab es im Rahmen des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Dort besteht seit 1961 eine ständige "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen" - übrigens die einzige Arbeitsgemeinschaft des Kirchentages, die schon so lange kontinuierlich arbeitet. Die Ergebnisse der ersten Kirchentage wurden publiziert, und die Titel der Bücher sind für unsere Frage sehr aufschlußreich. Das erste über den Kirchentag 1961 hieß "Der ungekündigte Bund". Hier kommt die allmählich unter Christen entstehende Einsicht zum Ausdruck, daß der Bund, den Gott nach biblischer Sicht mit Israel geschlossen hat, weiterhin besteht und daß wir als Christen ihn uns nicht einfach zu eigen machen können. Aber damit stellte sich die Frage, wie denn nun die Identität der christlichen Gemeinschaft bestimmt werden kann. Der Titel des nächsten Bandes hieß: "Das gespaltene Gottesvolk". Hier wurde zwar die Auffassung festgehalten, daß die Kirche das Volk Gottes sei; aber da dieser Titel Israel nicht streitig gemacht werden sollte, entstand der Gedanke, daß das Gottesvolk jetzt gespalten sei. Damit wurde die Zusammengehörigkeit von Juden und Christen betont und zugleich die Perspektive auf eine künftige Wiederherstellung der jetzt zerbrochenen Einheit in Blick gefaßt.

Einen weiteren Schritt hat dann die rheinische Synode von 1980 vollzogen, die ich schon zu Beginn zitiert habe. Sie macht eine Unterscheidung zwischen den Begriffen "Volk Gottes" und "Bund".

Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist (4.4).

Hier wird also sehr bewußt der Titel "Gottes Volk" für das jüdische Volk reserviert. Zugleich wird der Begriff des Bundes nicht als mit dem des Volkes identisch betrachtet, sondern in einem weiteren Sinne verstanden, so daß er die Kirche mit umfassen kann. Diese Frage wird gerade in jüngster Zeit lebhaft diskutiert. Dabei ist vor allem der Bundesbegriff umstritten. Es hat sich gezeigt, daß von der Begrifflichkeit der Hebräischen Bibel her kein direkter Weg zu einer Ausweitung des Bundesbegriffs über den Rahmen Israels hinaus führt. Der neutestamentliche Bundesbegriff wiederum knüpft nicht unmittelbar an den der Hebräischen Bibel an; vor allem bezeichnet er niemals die Gemeinde oder eine Gruppe in ihr. (Interessant ist der Bundesbegriff in den Texten von Qumran, worauf Herr Lichtenberger aufmerksam gemacht hat.) Die weitere Entwicklung in der christlichen Theologie hat sich im übrigen nicht unmittelbar an die biblischen Vorgaben gehalten, wenn man z.B. an die reformierte Föderaltheologie des 16. und 17 Jahrhunderts oder an die Weiterentwicklung des Bundesbegriffs in der Theologie Karl Barths denkt.

So hat sich hier ein Feld für die theologische Diskussion ergeben, das noch ganz offen ist. Das Entscheidende ist aber, daß bei diesen Definitionsversuchen die Priorität und die Integrität Israels gewahrt bleiben. Dies könnte ein Thema für einen christlich-jüdischen Dialog sein. Allerdings zeigt sich dabei dann sehr bald, daß dies eigentlich gar kein Thema für jüdische Gesprächspartner ist. Zunächst ist es zweifellos sehr wichtig für sie, zu erfahren, daß es Christen gibt, die sich bemühen, die alten antijüdischen Klischees zu überwinden und Israel Israel sein zu lassen. Aber die Frage, wie diese nun ihre eigene christliche Identität formulieren wollen und können, liegt außerhalb des Interesses und auch der "Zuständigkeit" von Juden.

Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem des christlich-jüdischen Gesprächs. Ganz in den Anfangen unserer Bemühungen hat der Jerusalemer Religionswissenschaftler Zwi Werblowsky einmal die Formel von der "Asymmetrie" des christlich-jüdischen Gesprächs geprägt: Christen müssen sich mit ihren Beziehungen zum Judentum auseinandersetzen, denn es ist ein Bestandteil ihrer Identität. Juden müssen dies nicht, denn die Entstehung des Christentums hat für sie die Frage ihrer eigenen Identität nicht grundsätzlich verändert. Es gehört zu den schwierigen Erfahrungen, die jeder Christ machen muß, der sich um ein Gespräch mit Juden bemüht: Das christliche Selbstverständnis ist kein jüdisches Thema. Gewiß gibt es immer wieder einzelne Juden, die sich auf ein solches Gespräch einlassen. Aber sie tun es den Christen zuliebe, denn meistens sind es solche Juden, die schon positive Erfahrungen im Gespräch mit Christen gemacht haben und deshalb auch bereit sind, auf spezifisch christliche Probleme einzugehen, die nicht ihre eigenen sind. Herr Janowski hat in seiner Antrittsvorlesung einen von denen genannt, die sich immer wieder auf unsere Probleme einzulassen bereit sind: Michael Wyschogrod. Aber gerade er ist ein Einzelgänger und er ist sich dessen voll bewußt und hat es auch schon öffentlich ausgesprochen. Und es gibt natürlich noch einige weitere Einzelgänger Aber auch sie werden uns immer wieder bestätigen, daß dies eigentlich nicht ihre Probleme sind.

Übrigens muß man deshalb auch eher vom christlich-jüdischen Gespräch oder Dialog sprechen als vom jüdisch-christlichen. Ich verstehe gut, daß Christen, die in diesen Fragen engagiert sind, den Juden den Vortritt lassen möchten, und ich sehe in der Formulierung auch kein grundsätzliches Problem. Ich möchte aber bewußt machen, daß die Notwendigkeit zu diesem Gespräch oder Dialog eindeutig auf der christlichen Seite liegt.

III

Die Frage der Definition des christlichen Selbstverständnisses ist das eine große Thema, das unser Verhältnis zum Judentum bestimmt. Aber es gibt noch einen anderen Themenkreis, der gewiß von vielen für noch wichtiger gehalten wird: Jesus Christus als zweite Person der Trinität. Ich formuliere absichtlich so, weil damit die Aspekte in den Vordergrund treten, die für Juden besonders schwierig sind. Nicht Jesus als Person ist das Problem; auch die Messiasfrage ist ein Thema, über das sich diskutieren läßt und über das ja auch unter Christen diskutiert wird. Aber die Gottheit Jesu und dann insbesondere die Trinität sind Vorstellungen, die für Juden schlechthin nicht nachvollziehbar sind.

Aber lassen Sie uns schrittweise an diese Fragen herangehen. Zunächst ist von großer Bedeutung, daß es seit dem Beginn dieses Jahrhunderts eine ausgedehnte jüdische Jesusforschung gibt. Sie begann mit dem großen Joseph Klausner, dessen berühmtes Jesusbuch zunächst auf hebräisch erschien: Jeshua " ha-Nozri, Zemanno, Chajjaw we-Torato; dann folgen - um nur ein paar herausragende Namen zu nennen: Samuel Sandmel, David Flusser und der zur Zeit wohl bedeutendste jüdische Jesusforscher Geza Vermes (aus Ungarn stammend, jetzt Oxford). Es besteht heute fast völlige Übetum stimmung unter den Neutestamentlern, ob Christen oder Juden, daß Jesus Jude war, als Jude gedacht, gelebt und geglaubt hat. Aber dann stellt sich die Frage: Was hat dieser Jude Jesus mit der Christologie zu tun? Fragen wir Geza Vermes. In seinem neuesten Buch The Religion of Jesus the Jew (1993) zitiert er im Schlußkapitel das "Nicäno-Konstantinopolitanum", das große, grundlegende christliche Glaubensbekenntnis aus dem 4. Jahrhundert mit seinem ausführlichen christologischen Mittelteil und sagt dazu:

Der historische Jesus, der Jude Jesus, würde die ersten drei Zeilen und die letzten beiden Zeilen als vertraut empfunden haben und er würde, obwohl er nicht theologisch dachte, keine Schwierigkeiten gehabt haben, ihnen zuzustimmen,


Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt....

Und ich erwarte die Auferstehung der Toten

und das Leben der kommenden Welt.

aber er wäre zweifellos verwirrt (mystified) durch die übrigen vierundzwanzig Zeilen. Sie scheinen wenig mit der Religion zu tun zu haben, die er gepredigt und praktiziert hat. Aber die Lehren, die sie verkünden: den ewigen göttlichen Status Christi und seine körperliche Inkarnation, die Erlösung der ganzen Menschheit, die durch seine Kreuzigung bewirkt wurde, seine anschließende Erhöhung und vor allem die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist bilden die Grundlage für den Glauben, als dessen Urheber er betrachtet wird.

Vermes fahrt dann fort zu betonen, daß die Grundlagen des christlichen Glaubens nicht so sehr in den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas liegen, sondern vielmehr im Johannesevangelium und in den Briefen des Paulus: "Der Christus des Paulus und des Johannes mit ihrem Weg zur Vergöttlichung hat den Mann aus Galiläa überschattet und verdunkelt." Diese Position wird wohl mehr oder weniger von allen jüdischen Neutestamentlern geteilt. Für sie ist Jesus ganz und gar Jude - aber eben darum gehört er nicht in die Christologie, weil Christologie ohnehin jenseits dessen liegt, was Juden nachvollziehen können und wollen.

Aber wie steht es nun auf der christlichen Seite? Friedrich-Wilhelm Marquardt hat seiner Christologie den Titel gegeben: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Hier hält also Jesus, der Jude, Einzug in die christliche Systematische Theologie. Marquardt erörtert die eben behandelten Fragen und kommt zu einer interessanten Gegenüberstellung: Er vergleicht das "historisch-kritische Minimum christlicher Jesus-Historie" mit dem "synthetischen Maximum jüdischer Jesus-Historie" . Obwohl es charakteristische methodische Unterschiede zwischen beiden gibt, decken sich doch ihre Ergebnisse weitgehend:

Die Ergebnisse des "christlichen" Minimum sind im ,jüdischen" Maximum enthalten; in dieser Beziehung gibt es offensichtlich keine Differenzen mehr - ein großes Geschenk für den, dem an einer Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses gelegen ist...Ein ganzes Erbsystem von Antithesen scheint gefallen zu sein - wenigstens in dem historischen Bild, das man nun von Jesus und von seiner Verkündigung hat. (I,135)

Dies ist gewiß ein erstes, wichtiges Ergebnis des sich anbahnenden christlich-jüdischen Dialogs. Das Bild Jesu ist nicht mehr ein grundlegender Kontroverspunkt. Im Gegenteil, nicht selten sind jüdische Jesus-Historiker von ihren Fragestellungen aus bereit, mehr an der Jesus-Überlieferung der Evangelien für "historisch" zu halten als ihre christlichen Kollegen. Auch im Verständnis der "Jüdischkeit" Jesu gehen jüdische Jesus-Forscher oft weiter als die christlichen. Die meisten von ihnen sind auch der Meinung, daß Jesus ein ganz besonderer Platz in der jüdischen Glaubensgeschichte gebührt.

Aber wie geht es dann weiter? Im traditionellen christlichen Denken stellt sich an dieser Stelle die Frage nach dem Messias ein. Man will die Juden fragen, warum sie nicht erkannt haben, daß Jesus "der Messias" war Ja mehr noch: Man sagt einfach: "Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verworfen." Dieser schreckliche Satz steht in dem "Wort zu Judenfrage" von 1948, das ich schon zitiert habe. Für mich und viele meiner Generation ist dieser Text auch deshalb so schrecklich, weil es unsere theologischen Lehrer waren, die damals noch so weit von der notwendigen Einsicht entfernt waren, daß sie solches sagen und schreiben konnten und daß sie sich sogar verpflichtet fühlten, dieses Wort zu sagen.

Den zweiten Teil des eben zitierten Satzes werden heute wohl viele nicht mehr nachsprechen wollen: daß Israel seine Erwählung und Bestimmung verworfen habe - oder, wie es später in demselben Text heißt: daß Israel von Gott verworfen sei. Aber was ist mit dem Messias? Für viele Christen ist es doch in der Tat so, daß Jesus der Messias war - und daß die Juden dies nicht erkannt haben.

Aber nun ist ja der Satz "Jesus war der Messias" in sich selbst höchst problematisch. Er unterstellt zunächst, daß "der Messias" ein eindeutiger Begriff sei. Es hieße wohl Eulen nach Athen tragen, wenn ich in Tübingen erklären wollte, daß es zur Zeit Jesu im Judentum eine ganze Anzahl von Messiasvorstellungen gab und daß diese höchst unterschiedlich waren und daß in manchen Texten der Gemeinde von Qumran von zwei oder gar von drei Messiassen die Rede ist. Außerdem: Was heißt: Jesus war der Messias? War er es? Woher wissen wir das? Und woher konnten es seine Zeitgenossen wissen? Bei Geza Vermes heißt es, daß bei aller Vielschichtigkeit der Messiasvorstellungen im nachbiblischen Judentum eindeutig die Erwartung des Messias aus dem Geschlecht Davids, des maschiach ben-dawid dominiert habe. Er verweist dazu besonders auf die Gebetssprache, die am unreflektiertesten die herrschenden Vorstellungen wiedergibt. So erhoffen die Psalmen Salomos aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., welche nach Vermes "die Ideologie der Hauptströmungen jüdischer Religiosität" reflektieren, den Messias als "Sohn Davids".

Sieh, o Herr, und errichte ihnen ihren König, den Sohn Davids ... Und gürte ihn mit Stärke, daß er die ungerechten Herrscher erschüttere ... Mit einem eisernen Stab zerschmettere er all ihr Wesen, vernichte er die Gottlosen mit dem Wort seines Mundes ... Und er soll ein heiliges Volk versammeln ... Er soll die heidnischen Nationen unter seinem Joch dienen lassen ... Und er soll ein gerechter König sein, gelehrt von Gott ... Und es soll da keine Ungerechtigkeit geben in ihrer Mitte in seinen Tagen, denn alle sollen heilig sein und ihr König der Gesalbte des HERRN (Psalmen Salomos 17f).

Hier zeigen sich sehr deutliche Anklänge an biblische Texte wie Psalm 2, Jesaja 9 und 11 u.a. Dies war also offenbar eine der herrschenden - nach Vermes die vorherrschende Messiaserwartung jener Zeit, anknüpfend an die biblischen Traditionen.

Die Jünger und Anhänger Jesu dachten offenbar genau dasselbe. So fragen die Jünger den Auferstandenen: ,,HERR, wirst du in jener Zeit das Reich für Israel wieder aufrichten?" (Apostelgeschichte 1,6). Besonders aufschlußreich ist die Erzählung von den Emmaus-Jüngern in Lukas 24. Der Auferstandene gesellt sich unerkannt zu den beiden Jesus-Anhängern und läßt sich von ihnen berichten, was geschehen ist. Der Kernsatz ihrer enttäuschten und durch die Ereignisse verwirrten Darstellung lautet : "Wir hofften, er sei es, der Israel erlösen werde" (V 21). Aber Jesus weist sie zurecht:

O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war (V 25-27).

Diese Jünger Jesu erwarteten also auch einen politischen "Messias" , der Israel vom römischen Joch befreien würde. Aber ihre Erwartung hat sich nicht erfüllt. Der Auferstandene erklärt ihnen nun, daß ihr Messiasbild falsch war. Jesus entsprach einem anderen Messiasbild: dem des leidenden Messias. Es ist höchst aufschlußreich, daß hier innerhalb der christlichen Ostergeschichten eine ausdrückliche Korrektur des Messiasbildes vorgenommen wird. Wenn nun andere Juden, die nicht zum engeren Jüngerkreis Jesu gehörten, auch einen solchen politischen Messias erwarteten und durchaus bereit gewesen wären, Jesus als solchen anzuerkennen, wenn er die römische Fremdherrschaft beseitigt hätte - wäre ihnen dann vorzuwerfen, daß sie nach dem Kreuzigungstod Jesu diese Messiaserwartung als gescheitert ansahen - genauso wie die Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus? Wir können aus dieser Geschichte lernen, daß das richtige Verständnis der Messianität Jesu nur von seiner Auferstehung her zu gewinnen ist. Damit vollziehen wir aber den Schritt aus dem möglichen und sinnvollen Gesprächszusammenhang mit den Juden heraus.

Ich denke deshalb, daß es eine fruchtlose und im Grunde sinnlose Diskussion ist, mit Juden darüber zu streiten, ob Jesus "der Messias war" und warum die Juden dies nicht anerkennen. Der entscheidende Grund liegt eben darin, daß es sich dabei um ein Bekenntnis der nachösterlichen Gemeinde handelt. Damit entzieht sich diese Frage aber der Diskussion mit denjenigen Juden, die nicht zu dieser Gemeinde gehören. Von daher ist es übrigens auch höchst problematisch, vom "Messias Israels" zu reden. Der Begriff ist nicht biblisch; er begegnet weder im Alten noch im Neuen Testament. Er ist zudem mißverständlich. Die Rheinische Synode hat ihn in ihrer grundlegenden Erklärung von 1980 sehr betont verwendet:

Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet (4.3).

Die Synode hat den Begriff offenkundig im Sinne des Messias, der Israel verheißen war und der aus Israel kam, gemeint. Er ist aber sofort in einem anderen Sinne verstanden worden: als Messias für Israel. In diesem Sinne ist er im Munde von Christen nicht möglich. Ob Jesus oder irgendein anderer der Messias für Israel ist, können nur Juden entscheiden. Wir Christen können nur singen: "Nun komm, der Heiden Heiland".

IV

Schließlich komme ich jetzt noch einmal zurück zur Frage des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament. Dabei will ich mich auf die Frage konzentrieren, wie wir als Christen den ersten Teil unserer Bibel, den wir das "Alte Testament" nennen, lesen und auslegen sollen.

[Ich möchte hier eine kurze Überlegung einfügen über die richtige Benennung des ersten Teils unserer Bibel. Der Begriff "Altes Testament" wird heute von manchen kritisiert und vermieden, weil das Adjektiv "alt" im Sinne von "überholt" verstanden werden kann und natürlich auch oft verstanden worden ist. Auf jeden Fall ist deutlich, daß es ein rein christlicher Begriff ist, der ja seinen Sinn nur dadurch bekommt, daß noch ein "Neues Testament" folgt. Manche haben s eteschlagen, stattdessen vom "Ersten Testament" zu sprechen; allerdings könnte dieser Begriff dem gleichen Mißverständnis ausgesetzt sein, weil ja noch ein Zweites Testament folgt und weil das erste ohne das zweite als unvollständig betrachtet werden könnte. Deshalb sprechen heute manche von der "Bibel Israels". Ich habe diesen Begriff auch schon verwendet, weil mir einleuchtet, daß dabei der Name "Israel" im biblischen Sinne verwendet wird und weil dabei ganz deutlich ist, daß dieser Teil unserer Bibel schon die Bibel Israels war, bevor das Christentum entstand. Allerdings denke ich, daß wir auf diese terminologischen Fragen nicht allzuviel Gewicht legen sollten, denn an ihnen fallen nicht die eigentlichen Entscheidungen im Verhältnis von Juden und Christen.]

Gleichwohl ist dies ein guter Ausgangspunkt für unserer Überlegungen. Der erste Teil unserer Bibel ist zugleich die Bibel Israels, und er bleibt die Bibel Israels. Unsere Auslegung "bleibt" also stets "dem Dialog mit dem Judentum ausgesetzt" (Janowski). Ich möchte den Akzent aber noch etwas anders setzen. Die Tatsache, daß die Bibel Israels ein Teil unserer Bibel ist, hält uns ständig im Bewußtsein, daß wir selbst als Christen aus Israel hervorgegangen sind. Wir haben das schon ausführlich erörtert. Jetzt gilt es daraus die Folgerungen für unseren Umgang mit der Bibel zu ziehen.

Ich denke, wir können dabei ganz einfach beginnen, indem wir sagen : Wir lesen den ersten Teil unserer Bibel, weil wir in der Tradition dieser Bibel darinstehen. Wir brauchen keine besonderen hermeneutischen Mittel, um uns einen Zugang zu dieser Bibel zu verschaffen. Dabei ist es wichtig und nützlich, daß wir uns klarmachen, daß für die Menschen der neutestamentlichen Zeit, für Jesus und seine Jünger, für Paulus und die Evangelisten, diese Bibel ihre Bibel war - ihre ganze Bibel, nicht ein erster Teil, zu dem noch etwas anderes hinzukommen sollte. Also stellen wir uns zunächst einfach in diese Kontinuität hinein. Es ist unsere Bibel.

Das bedeutet, daß sich eine "christliche" Auslegung der Bibel nicht durch besondere christliche Auslegungsmethoden legitimieren muß. Wir lesen die Texte, wie sie dastehen. Wir können das tun, weil es unsere Welt, unsere "Glaubenswelt" ist, von der die Texte des ersten Teils unserer Bibel geprägt sind. Allerdings steht eine solche Aussage gegen die theologische Auslegungstraditamtaund auch gegen die Mehrheit der heutigen evangelischen Theologen (auf die ich mich jetzt beschränken will).

Ich will in aller Kürze etwas zu der herrschenden Auslegungstradition sagen. Man kann die verschiedenen Positionen vereinfacht in drei Gruppen einteilen. Die erste vertritt eine radikale Verneinung der Wahrheit des Alten Testaments. Es gehört zu den Absonderlichkeiten der neueren Theologiegeschichte, daß zwei Theologen, die in politischer und kirchenpolitischer Hinsicht so diametral entgegengesetzte Positionen vertraten wie Rudolf Bultmann und Emanuel Hirsch im Blick auf das Alte Testament fast gleichlautende Auffassungen hatten: Das Alte Testament ist Zeugnis des Scheiterns und nur als negatives Gegenbild des Neuen Testaments zu verstehen. Man hätte denken können, daß diese Auffassung der Vergangenheit angehört; aber sie findet sich mit ausdrücklicher Berufung auf Bultmann und Hirsch im Jahr 1993 bei Otto Kaiser in seiner Theologie des Alten Testaments. Er spricht von "Israels Scheitern am Gesetz und an der Geschichte" und fordert den Leser auf das Alte Testament "gegen den Wortlaut der Texte...als Verheißung zu verstehen" (87). Ich hoffe, Kaiser steht mit dieser Auffassung heute allein.

Eine extreme Gegenposition findet sich in der christologischen Auslegung, vor allem bei Wilhelm Vischer in seinem zuerst 1934 erschienenen Buch "Das Christuszeugnis des Alten Testaments." Er konnte sagen: "Wir, die wir glauben, Jesus sei der Sohn Gottes,...und nicht die Synagoge, die seinen Messiasanspruch abgelehnt hat, sind die legitimen Erben des göttlichen Testaments." In dieser Schärfe wird diese Position seither kaum noch vertreten; immerhin kann man bei Hans Walter Wolff lesen: "Wir vermögen in diesen jüdischen Söhnen (d.h. in der Synagoge) das Zeugnis ihrer Väter nicht in seinem Gesamtsinn wiederzuerkennen. So bleibt denn nur noch die Frage nach jenen anderen Söhnen, die Paulus als das Israel Gottes anspricht." Hier wird also das Alte Testament insgesamt so positiv betrachtet, daß die Christen es für sich allein beanspruchen und den Juden das Recht darauf verweigern.

Der Einfachheit und Kürze halber fasse ich jetzt alle diejenigen Theologen in einer mittleren Gruppe zusammen, die eine partielle Gültigkeit alttestamentlicher Texte postulieren, wobei sie selbst die Maßstäbe kennen und handhaben, mit denen sie vom Neuen Testament her diese Gültigkeit feststellen. Meinungsführer ist hier wohl nach wie vor Antonius Gunneweg, der seine Auffassung schon 1977 in seiner Hermeneutik des Alten Testaments dargelegt hat und die im wesentlichen unverändert auch seiner 1993 posthum erschienenen "Biblischen Theologie des Alten Testaments" zugrundeliegt. "Über Geltung und Nichtgeltung (des Alten Testaments) kann nur vom Christlichen her, also aufgrund und anhand des Neuen Testaments entschieden werden." Interessant ist, daß Gunneweg dabei ausdrücklich die historisch-kritische Forschung einbezieht: enint;Der historisch-kritische Ausleger (ist) darin Theologe, daß er den Text am Maßstab des Christlichen zu messen gelernt hat und imstande ist." Vergleichbare Auffassungen finden sich in vielen Variationen, auch in Tübingen. Allen ist gemeinsam, daß sie beanspruchen, einen christlichen Maßstab zu besitzen, von dem aus sie das Alte Testament beurteilen und bewerten können.

Ich muß leider gestehen, daß ich diesen Maßstab nicht besitze. Ich sehe keine Möglichkeit, von mir aus das Alte Testament zu "bewerten" Ich sehe aber auch keine Notwendigkeit dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von den neutestamentlichen Schriftstellern auf den Gedanken gekommen wäre, unterschiedliche Wertungen zwischen den einzelnen Teilen oder Worten seiner Bibel, seiner "Schrift", vorzunehmen. Vielmehr ist es ja gerade eine aus heutiger Sicht überraschende Tatsache, daß die christliche Gemeinde die jüdische Bibel unverändert als ersten Teil ihrer Bibel beibehalten hat. Sie hat auch keinen Kommentar dazu gegeben, wie man ihn lesen soll.

Gewiß, im Neuen Testament sind bestimmte Texte des Alten Testaments interpretiert und kommentiert worden. Aber das ist ja ein Vorgang, der sich schon innerhalb des Alten Testaments vielfaltig erkennen läßt und ebenso auch innerhalb des Neuen Testaments. Das bedeutet also, daß es eine kontinuierliche Linie des Interpretierens von Texten gibt, die sich vom Alten Testament bis ins Neue hineinzieht.

Hier kommen wir nun an einen Punkt, an dem in sinnvoller Weise von einer "christlichen" Auslegung des Alten Testaments gesprochen werden kann. Das führt uns zugleich noch einmal zur Frage nach dem christlich-jüdischen Dialog zurück. Als christliche Leser werden wir notwendigerweise manches mit anderen Augen und mit anderen Fragestellungen lesen, als es jüdische Leser tun. Wir wissen ja ziemlich viel über die jüdische Auslegungstradition, sofern wir uns dafür interessieren. Wir könnten also mit jüdischen Bibellesern in einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch über unsere unterschiedlichen Leseerfahrungen eintreten. Wir könnten dabei vor allem viel über die religiösen und theologischen Traditionen des jeweils anderen erfahren. Aber wir würden doch in einem solchen Gespräch niemals auf den Gedanken kommen, bestimmte Texte für richtig oder für falsch zu erklären. Auch die Frage, was "wahr" ist, könnte in dieser Form in einem solchen Gespräch kaum gestellt werden.

Vor allem würden wir aber feststellen, daß es weite und ganz grundlegende Bereiche unserer gemeinsamen Bibel gibt, in denen sich unsere Auslegung nicht grundsätzlich unterscheidet. Ich bin immer wieder überrascht, wie weit hinten in manchen alttestamentlichen Theologien die Schöpfung rangiert. Im Kanon unserer Bibel steht sie ganz am Anfang, und es gibt auch keinen Zweifel daran, daß sie für den christlichen Glauben am Anfang steht. Nur auf Grund des ganzen Kanons der Bibel konnte ja das Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, zum ersten Artikel unseres christlichen Glaubensbekenntnisses werden. Wenn wir dann weiterlesen und zum Bereich des Exodusgeschehens kommen, dann ist ganz evident, welche Bedeutung dieses Thema z.B. für christliche Befreiungstheologien bekommen hat. Bei großen Bereichen der Propheten, bei den Psalmen oder beim Buch Hiob, ja auch bei Kohelet brauchten wir uns gewiß nicht grundsätzlich zu streiten.

Ich warte jetzt förmlich auf den Zuruf: Aber das Gesetz! Ja, das Gesetz - in welchem Sinne? Meinen wir, was in der Bergpredigt im Matthäusevangelium steht? Das gehört in die Kategorie "Toraverschärfung im Judentum". Oder was Paulus sagt? Aber ist das so eindeutig? Und ist nicht Vieles von dem, was man gemeinhin für ,jüdisch" hält, nur christliches Klischee oder bestenfalls Mißverständnis? Z.B. daß man sich durch Erfüllung der Gebote das Heil erwerben könne oder müsse? Ich denke, daß gerade hier ein fruchtbares Feld für ein christlich-jüdisches oder dann auch jüdisch-christliches Gespräch läge. Dabei könnten wir sorgfältig die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten, und gewiß würden die Unterschiede hier ihr Profil gewinnen. Aber gerade dabei würde sich zeigen, daß es überhaupt nicht um Wertungen und schon gar nicht um richtig oder falsch gehen kann, sondern um die verschiedenen Ausformungen der biblischen Tradition in unseren beiderseitigen Glaubensgemeinschaften.

Es gibt also viel an theologischen Vorarbeiten zu einem christlich-jüdischen oder dann auch jüdisch-christlichen Dialog zu tun. Ich denke, daß dies ein nicht unwesentliches Element unseres theologischen Studiums im engeren und im weiteren Sinne sein könnte, und ich kann Sie deshalb nur dazu ermuntern, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Editorische Anmerkungen

Vortrag gehalten im Evangelischen Stift Tübingen am 8. November 1996. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. © Copyright 1996 Rolf Rendtorff. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.