Theologische Schuld - theologisches Lernen

Was haben wir aus dem Versagen der Theologie zwischen 1933 und 1945 gelernt?

Man kann und darf nicht historisch rückwärts verurteilen. Als Inhaber eines Lehrstuhls für „Katechetik“, wie die religionspädagogischen Professuren damals hießen, weiß ich auch nicht, wie ich mich in der Zeit des Nationalsozialismus positioniert hätte. Denn das Versagen der Theologie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Blick auf den Rassenantisemitismus und seine schrecklichen Konsequenzen im millionenfachen Mord an den Juden Europas folgte einer Systemlogik. Die judenfeindliche Haltung, die die christliche Theologie seit den Abgrenzungsprozessen der Jesus-Sekte von ihren jüdischen Schwestern und Brüdern in neutestamentlicher Zeit entwickelt, dann durch manche Kirchenväter in den sog. „Adversus-Iudaeos-Texten“ theologisch etabliert und schließlich manifest tradiert hatte, war die meist unhinterfragte Folie, auf der die weitere Existenz des Judentums theologisch wahrgenommen wurde.

Theologische Ursünde

Drei Bereiche theologischer Lehre sollten dabei eine besonders folgenschwere Wirkungsgeschichte zeigen. Zum einen ist die Ursünde der fatalen antijüdischen Einstellung die Substitutionslehre, also die Lehre von der heilsgeschichtlichen „Ersetzung“, „Verwerfung“ oder „Ablösung“ des Judentums als das von Gott erwählte Volk durch das Christentum. Sie führt zu einer Siegerideologie, die ihr in Stein gemeißeltes Sinnbild in den Figuren der mittelalterlichen Kathedralen gefunden hat, nämlich der Ekklesia und Synagoga: Die Ekklesia mit erhobenem und gekröntem Haupt, mit Zepter und prächtigem Gewand, stolz auf Christus blickend, daneben die Synagoga, blind gegenüber Christus, die Gesetzestafeln als Zeichen des Bundesgleiten ihr aus der Hand. Mit dieser Ablösetheologie verbunden war – zweitens – die faktische Leugnung und Verdrängung des Judeseins Jesu. Durch seine Taufe am Jordan hätte Jesus seine jüdische Existenz endgültig hinter sich gelassen und damit auch alles Jüdische überwunden. Schließlich – drittens – ist die ebenso theologisch wie historisch falsche Auffassung zu nennen, dass „die“ Juden Jesus „ans Kreuz geschlagen“ hätten: der berüchtigte Gottesmord-Vorwurf.

Nebenbei bemerkt: Dass diese Fehlinterpretation der Überlieferung der Evangelien keineswegs aus der Welt ist, zeigte mir ein Gespräch mit einer katholisch sehr enga - gierten Mutter, die ihren Sohn auf eine katholische Schule schickt, als sie mir vor einiger Zeit sagte: „Was, Sie beschäftigen sich mit dem christlich-jüdischen Dialog? Aber die Juden haben doch Jesus getötet!“ Alle drei theologischen Grundmotive, die Substitutionslehre, die Leugnung des Judeseins Jesu und die Gottesmord-Theorie, wurden in der theologischen und lehramtlichen Geschichte des Christentums kaum ernsthaft hinterfragt. Sie bildeten den Nährboden, auf dem alle theologischen Gewächse und Pflanzen, beispielsweise die Gotteslehre, die Christologie, die Lehre von der Kirche, gedeihen sollten, was unweigerlich eine dezidiert theologisch-ablehnende Haltung gegenüber den Juden zur Folge hatte. Wenn nicht offene Anfeindung, die sich als Antijudaismus artikulierte, war es die – für heutige Augen – unfassbare Ignoranz, die das Verhältnis christlicher Theologie zu den großartigen Leistungen jüdischer Theologie, Philosophie, Exegese, Gotteslehre, Liturgie, Homiletik etc. durch die Jahrhunderte prägte. An bekann - ten Namen katholischer und evangelischer Theologie könnte dies auch besonders für die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und natürlich ab 1933 nachgewiesen werden.

Ein markantes Beispiel

Um nur ein Beispiel aus der katholischen Tradition zu erwähnen, soll kurz von dem Tübinger Dogmatiker Karl Adam (1876-1966) die Rede sein, der zu seinen Lebzeiten einer der bekanntesten katholischen Theologen war und der von manchen retrospektiv zu den Vorbereitern des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) gerechnet wurde. Bisweilen galt er gar als Erneuerer der katholischen Theologie. Doch die Schattenseiten seines theologischen und weltanschaulichen Ansatzes wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr offenbar[1]: Adam hatte 1933 Hitler als Führer begeistert begrüßt, ja, hat in messianischen Kategorien euphorisch von der Machtübertragung an den „Führer“ gesprochen. Lange Jahre, selbst als anderen die Augen über die wahre Natur des NS bereits aufgegangen waren, hat Adam versucht, die Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Katholizismus auf zuweisen. Er hielt den NS als eine vom heiligen Geist inspirierte Bewegung. Bereits vor 1933 war ihm an einer Gestalt der katholischen Theologie gelegen, die als integraler Bestandteil des deutschen Staates und des deutschen „Wesens“ fungieren sollte.

Verhängnisvoll und aus heutiger Sicht theologisch völlig abwegig waren Karl Adams Unternehmungen, einen arischen, nichtjüdischen Jesus zu konstruieren.[2] Jesus wurde in Heldenkategorien gezeichnet, seine helden hafte Männlichkeit überbetont und sein Kreuzestod in heroischen Kategorien gedeutet. Gleichzeitig wurde Jesus seiner jüdischen Herkunft und aller jüdischen Merkmale beraubt. Adam war überzeugt, dass zwischen Judentum und Christentum ein unüberbrückbarer Gegensatz bestehe, was jedem Versuch, eine Verbindungslinie oder eine jüdische Wurzel im Christlichen zu entdecken oder nur zu denken, von vorne herein die Berechtigung absprach.

Dabei war Karl Adam alles andere als ein Einzelfall – weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite.[3] Christliche Theologie in diesem Sinne kommt ohne jeden positiven Bezug zum Judentum aus, konstituiert sich gerade durch die Abgrenzung von der „Negativfolie“ jüdischer Religion. Diese systematische antijüdische Selbstdefinition, die eine Geschichte hat, die fast so lang wie das Christentum ist, machte christliche Theologie so anfällig für Kollaboration mit dem NS. Um noch einmal paradigmatisch und exemplarisch für andere Theologen Karl Adam zu erwähnen: In seinem berühmtesten und am meisten verbreiteten Buch „Das Wesen des Katholizismus“ (1924) haben weder das alttestamentliche Israel noch das nachbibli - sche Judentum einen heilsgeschichtlichen Platz, sie sind völlig aus dem theologisch verengten Blick geraten und es wird in keinster Weise ein Gespräch oder eine positive Relation versucht. Das Judentum entspricht einer „ontologischen Vakanz“, einer Leerstelle, es kommt in einer solchen Theologie einfach nicht als existierende Größe vor. Die Konsequenz davon ist, dass das Judentum als Religion abgewickelt ist und dass auch die Juden ohne Aufsehen verschwinden können. Theologie trägt so zu einer Lehre der Menschenverachtung bei.

Wichtig zu sehen ist, dass sich Kirche, Theologie und Öffentlichkeit mit der Aufarbeitung der NS-bezogenen Inhalte von Karl Adam lange Jahrzehnte schwer taten. Adam konnte seinen Lehrstuhl für Dogmatik nach dem Krieg unbeanstandet behalten, bis er 1949 emeritiert wurde. Die erste umfassend kritische Arbeit erschien erst im Jahre 2001.[4] Und erst im Jahre 2010 sah sich die Diözese Rottenburg-Stuttgart gezwungen, das Stuttgarter Karl-Adam-Haus umzubenennen; 2011 folgte die Stadt Tübingen diesem Beispiel und gab der bis dahin so benannten Karl-Adam-Straße einen neuen Namen. Hier zeigt sich, welch langen Atem theologische Lern- und Umdenkprozesse benötigen.

Theologische Lernprozesse nach 1945

Schon vor der Befreiung vom NS war einigen Christinnen und Christen sowie einigen wenigen christlichen Theologinnen und Theologen klar, so kann es nicht weiter gehen. Die negative Verhältnisbestimmung zum Judentum hat nicht nur den hohen Preis der Herabsetzung und Verachtung von Jüdinnen und Juden in ihrer religiösen – im Rassenantisemitismus auch in ihrer physischen – Existenz, sondern zollt auch einen hohen Preis für die christliche Theologie selbst: Sie verliert ihre Grundlagen und Ursprünge ebenso aus den Augen wie die geschichtliche und gegenwärtige Existenz des Judentums und der jüdischen Theologie. Damit beraubt sie sich einer entscheidenden Gesprächspartnerin für ihre Gottes-, Lebens- und Weltdeutung.

Neben einzelnen Beispielen für gegenseitiges Interesse, Achtung und Wertschätzung in der Geschichte des Verhältnisses von Christen und Juden, war es ausgerechnet ein Jude, der die, wie er sie nannte, christliche „Lehre der Verachtung“ im Gespräch mit Christinnen und Christen, christlichen Theologinnen und Theologen überwinden wollte. Er hatte es sich schon weit vor 1945 zur Lebensaufgabe gemacht, zu den historischen und theologischen Wurzeln des Antijudaismus und Antisemitismus zu forschen und wollte durch historische Nachweise ein Umdenken auf christlicher Seite bewirken: der französische Historiker Jules Isaak (1877-1963). Er kann exemplarisch dafür stehen, wie durch den aufrichtigen Dialog, durch historische und theologische Reflexion sowie vor allem durch persönliche Begegnung ein Lernprozess ins Entstehen kommen kann, der das Christentum, so darf man, zu ge gebener Maßen etwas pathetisch aber sachlich richtig, behaupten, von Grund auf verändert hat und weiter verändern wird. Es gab natürlich auch andere Personen, die an diesem Lernprozess von Kirche und Theologie nach 1945 aktiv mitwirkten, Jules Isaak aber brachte einen besonders profilierten Beitrag ein. Isaak war zusammen mit jüdischen Denkern, katholischen und evangelischen Theologen einer der Initiatoren, die bereits im Jahr 1947 die „Seelis berger Thesen“ entwickelten und publizierten. Diese Thesen, die eine Abkehr von den „Hauptsünden“ judenfeindlicher Theologie darstellten, hatten eine breite Wirkungsgeschichte auf den Lernprozess christlicher Theologie. Die Punkte, die Isaak dezidiert einbrachte, waren: Die Lehre von der „Verachtung der Juden“ und das christliche „System der Herabwürdigung“ jüdischen Glaubens und Lebens musste überwunden werden; die ungerechten Aussagen über die Juden mussten in Lehre, Katechese und Predigt überprüft und korrigiert werden; die Juden sollten nicht länger als die Schuldigen am Tod Jesu bezeichnet werden; die Zerstreuung des Judentums über den Erdkreis sollte fortan nicht mehr als Strafe für Ablehnung und Kreuzigung Jesu dargestellt werden.

Jules Isaaks großes Projekt war das der Reinigung christlicher Theologie und Lehre von antijüdischen Momenten. Deshalb arbeitete er hartnäckig daran, den Papst in einer privaten Audienz zu treffen, um ihn von der Dringlichkeit des Anliegens zu überzeugen. Bei dem Papst, der das Zweite Vatikanische Konzil einberief, um damit eine bedeutende Wende in Kirche und Theologie, insbesondere auch in ihrer Haltung zum Judentum einzuleiten, fand er offene Ohren. Johannes XXIII. empfing Jules Isaak am 13.06.1960 und bekam von dem Historiker ein Dossier überreicht, das die wesentlichen Punkte einer völligen Neu - ordnung des Verhältnisses zu den Juden ent hielt. Nach der Audienz erteilte der Papst den Auftrag, eine Erklärung über das jüdische Volk auszuarbeiten. Hier beginnt die Textgeschichte von Nostra Aetate, der bedeutenden Erklärung der Haltung der Kirche zum Judentum. Diese Erklärung wurde zum Auslöser für eine kom plette theologische Neuorientierung und steht neben zahlreichen Verlautbarungen der evangelischen und vieler weiterer Kirchen welt weit für den Lernprozess, der durch das Versagen der Theologie in der Zeit des NS angestoßen wurde.

Was wurde konkret gelernt?

Die wichtigsten Grundsätze des erneuerten Verhältnisses von Christen und Juden sind bekanntlich:

  • Das Christentum kann sich nur selbst definieren, wenn es die biblische Existenz Israels und die nachbiblische Existenz des Judentums theologisch ernst nimmt. Das Judentum hat eine ungekündigte und bis heute für das Christentum höchst relevante theologische Dignität.
  • Christen und Juden haben einen gemeinsamen Erwählungsursprung, den die biblischen Schriften bezeugen.
  • Das Judentum besitzt eine unkündbare heilsgeschichtliche Qualität. Es schließt den Bund Gottes mit Israel, die Gabe der Tora, den Gottesdienst und alle Verheißungen mit ein.
  • Jesus war und blieb Jude, ebenfalls waren die ersten Jünger und die Apostel Juden.
  • Der Bund, den Gott mit dem jüdischen Volk geschlossen hat, wurde weder gekündigt noch widerrufen. Er ist und bleibt gültig, weil Gott sich als treu erweist. Damit ist eine klare Absage an jede Verwerfungsoder Ablösetheologie ausgesagt.
  • Nicht „die“ Juden haben Jesus getötet, historisch gesehen waren es römische Behörden und Akteure, die die Hinrichtung Jesu eingefädelt und vollstreckt hatten. Daran haben einige jüdische Kollaborateure mitgewirkt.
  • Jeglicher theologischer Antijudaismus und gesellschaftlicher Antisemitismus ist zu bekämpfen, jede Verfolgung des Judentums zu verurteilen.

Diese Grundsätze, die von einigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfern schon früh in den späten 1940er und den 1950er Jahren formuliert wurden, waren die Grundlage für die späteren großen Entwicklungen im „Lernprozess Christen-Juden“ und für die bedeutenden Erklärungen der Kirchen zum Judentum.

Doch kann aus den Erfahrungen der Theologie in der Zeit des NS noch etwas Übergreifendes und ebenfalls zutiefst Christliches gelernt werden: eine kritische Haltung ge genüber totalitärem und menschenverachtendem Denken im Allgemeinen. Eine Systemlogik, wie sie Jahrhunderte theologisch gepflegt wurde und das jüdische Volk in seiner religiösen Existenz und Würde missachtete, darf es in der christlichen Tradition niemals wieder geben – egal gegenüber wem. Von dem besonderen Verhältnis zwischen Christen und Juden ausgehend, kann schließlich ein Lernprozess im Blick auf die Bezieh ung zu anderen Religionen angestoßen werden – wie es in der Tat durch die Erklärung Nostra Aetate und andere Wegmarken der Kirchen geschah.

Fremde Religionen und Kulturen dürfen nie mehr durch die Brille einer Hermeneutik der Abgrenzung und Abwertung betrachtet werden. Theologie und Kirche müssen aus dem Verständnis der Würde aller Menschen – theologisch grundgelegt durch den allgemeinen Heilswillen Gottes – Konsequenzen für das Handeln in Gegenwart und Zukunft ziehen. Der kirchlich-theologische Lernprozess entwickelt sich schließlich zu einer grund legenden Verhaltensrevision, die die Kirche wieder zu ihren Ursprüngen führt: Ihr Ort ist an der Seite der Verfolgten und Verachteten, ihre Option ist eine grundlegende Option für die Marginalisierten.

Dadurch bekommt Auschwitz keinen nachträglichen Sinn verliehen. Wenn aber die Erinnerung an die Katastrophe – auch an das katastrophale Denken und Verhalten mancher christlicher Theologen jener Zeit – einen Stimulus zur Revision fehlgeleiteter, menschenverachtender und ignoranter Positionen in Kirche und Theologie bewirkt, wäre zumindest eines nicht gestorben, was Christen und Juden zutiefst verbindet: die Hoffnung. 

[1] Scherzberg, Lucia: Karl Adam und die Theologie, Saarbrücken 2011.

[2] Burkard, Dominik: Die Entwicklung der Katholisch-Theologischen Fakultät, in: Wiesing, Urban et al. (Hg.): Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, 2010, S. 119-176.

[3] Vgl. u.a. Ericksen, Robert P.: Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986.

[4] Scherzberg, Lucia: Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus: Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001.

Editorische Anmerkungen

Quelle: "Nun gehe hin und lerne", Themenheft 2017, Hrsg. v. Deutschen Koordinierungsrat (DKR), siehe: DKR-Shop

Prof. Dr. Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik, Homiletik und religiöse Erwachsenenbildung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem: christlich-jüdisches Verhältnis, erinnerungsgeleitetes Lernen und Theologie nach Auschwitz.