Selbstkritik, Selbstzweck oder Selbstverpflichtung: Die Wissenschaft vom Judentum und die Krise der Geisteswissenschaften

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum, so die These von Goodman-Thau, kann helfen, die Krise der Geisteswissenschaften zu überwinden. Dabei fällt den Wissenschaften in Deutschland - nicht zuletzt aus historischen Gründen - eine besondere Rolle zu.

Eveline Goodman-Thau

Selbstkritik, Selbstzweck oder Selbstverpflichtung

Die Wissenschaft vom Judentum und die Krise der Geisteswissenschaften

Die Vernichtung des europäischen Judentums, die Zerstörung seiner geistigen und lebendigen Tradition im Herzen Europas und die daraus resultierende Abwesenheit des Judentums im Abendland im letzten Jahrhundert dieses Millenniums hat zu einer erneuten Spannung zwischen europäischer Aufklärung und Judentum geführt, die sowohl in Israel als auch im Abendland in Form der Krise der europäischen Geisteswissenschaften spürbar ist. Diese Situation macht es erforderlich, den Weg der europäischen Geistesgeschichte zurückzuverfolgen und die Anfänge sowie die Entwicklungsgeschichte des jüdischen Erbes Europas zu untersuchen.

Judentum als Vermittler zwischen den Kulturen

Von Beginn an war die Geschichte des jüdischen Monotheismus durch die Begegnung mit fremden Kulturen gekennzeichnet. In einem Prozess von Abgrenzung und Anpassung bildete sich allmählich eine Identität heraus, die sowohl Exklusivität wie Inklusivität, Partikularismus wie Universalismus erlaubte. In einem Dialog – mit sich und der Umwelt, im individuellen wie im Gesellschaftlichen – entstand im Lauf der Jahrhunderte ein Denken, das eine wechselseitige Rezeption zwischen dem Judentum und den verschiedenen Kulturen, mit denen es in Berührung kam, aufzeigt. In dem Maß, in dem die jüdische Tradition von fremdem Geistesgut inspiriert wurde, floss auch jüdisches Gedankengut in allen Epochen bis zur Gegenwart in das Abendland ein, wobei die spezifisch jüdischen Züge nie verloren gingen.

In dieser Hinsicht stellt das Judentum ein Phänomen in der europäischen Geistesgeschichte dar: Trotz der vielen Brüche und Verschmelzungen ist ein Kontinuum zu beobachten, das stets eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen einnahm.

Hannah Arendts Brief an Karl Jaspers

In einem Brief an ihren Lehrer und persönlichen Freund Karl Jaspers schrieb Hannah Arendt am 29. Januar 1946 als Antwort auf seine Bitte, einen Aufsatz für die Zeitschrift „Die Wandlung“ zu schreiben (Er schickte ihr das erste Heft vom November 1945.):

... Wenn Juden in Europa bleiben sollen können, dann nicht als Deutsche oder Franzosen etc., als ob nichts geschehen sei. Mir scheint, keiner von uns kann zurückkommen (und Schreiben ist doch eine Form des Zurückkommens), nur weil man nun wieder bereit scheint Juden als Deutsche oder sonst etwas anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind. Das würde heißen, dass ich gerne schreiben würde, wenn ich als Jude über irgendeinen Aspekt der Judenfrage schreiben kann – und abgesehen von allem anderen, d. h. von Ihren möglichen Einwänden weiß ich nicht, ob Sie das drucken könnten bei den augenblicklichen Schwierigkeiten.1

Hannah Arendt hat auch nach dem Krieg noch in deutscher Sprache geschrieben, sie ist auch mehrmals in Deutschland zu Besuch gewesen, aber gelehrt hat sie als Jüdin nach dem Krieg in Deutschland nicht mehr.

Vor dem Hintergrund der modernen Säkularisierung

Jenseits der in Fachkreisen und einer breiteren Öffentlichkeit fortdauernd geführten Diskussion über Ort und Bestimmung eines wissenschaftlichen Umgangs mit dem Judentum an deutschen Universitäten, die sich nicht zuletzt bemerkbar macht an der subtilen Semantik in der Benennung des Faches als „Judaistik“ oder „Jüdische Studien“, entweder getrennt oder mit Bindestrich geschrieben (wobei im letzteren Fall wieder die Reihenfolge der Benennung eine wichtige Rolle zu spielen scheint) – jenseits dieser Diskussion lohnt es sich, einige Grundfragen zu klären.

Die westliche Moderne, gewachsen aus Aufklärungs- und Säkularisierungsprozessen, ist ein zentrales Thema der Geisteswissenschaften, sowohl im Dialog mit den Naturwissenschaften als auch im Dialog zwischen den Kulturen. Dabei erweist es sich als wünschenswert, sich zu vergegenwärtigen, wie dieser Prozess der Säkularisierung im Hinblick auf die Traditionen, die Europa geprägt haben – Judentum, Christentum, Islam und griechisch-römische Antike – verlief.

Die Frage nach dem Zusammenhang von Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst hat die Wahrnehmung und Interpretation von historischen Erfahrungen der Völker Europas bestimmt – bei erheblichen Unterschieden auf geographischer und kultureller Ebene. Die Spannung zwischen dem Drang, die Tradition durch Kanonisierung des geistigen Erbes zu bewahren und der damit zusammenhängenden Institutionalisierung, hat ihre unauslöschlichen Spuren im Prozess der Moderne hinterlassen: Im Riss der gegenwärtigen Umbrüche in Europa fallen sie ins Auge.

Über eine lange Periode hinweg wurde weder in Europa noch in anderen Ländern der westlichen Welt – das „europäische Modell“ als Wissenschaftsideal nicht in Frage gestellt. Max Weber hat die kulturelle Moderne dadurch beschrieben, dass die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte Vernunft in drei Bereiche auseinander fällt, die von nun an durch formale Argumentation zusammengehalten werden. Von nun an werden die Grundfragen der Menschheit unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der Authentizität oder Schönheit behandelt – als Erkenntnis-, als Gerechtigkeits- oder als Geschmacksfrage. In der Neuzeit entsteht eine Spaltung in den menschlichen Wertsphären: Wissenschaft, Moral, Kunst. Jede Sphäre wird ihren wissenschaftlichen Fachleuten zugeordnet; ihnen werden die Fragestellungen überlassen. Kulturelle Überlieferungen geraten so in die Hände von Spezialisten, die jeweils in ihrem Bereich einen abstrakten (mit den anderen Bereichen nicht mehr verbundenen) )und absoluten Geltungsanspruch in Bezug auf ihr Spezialgebiet entwickeln.

Die Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts versuchten noch, den Abstand zwischen Theorie und Praxis, der Expertenkultur und der Gesellschaft zu überbrücken. Die Wissenschaften sollten objektivierend wirken; Moral und Recht sollten eine universal gültige Grundlage des menschlichen Zusammenlebens entwickeln und die Kunst sollte ungestört schöpferisch tätig sein. Aus den Potentialen und hoch entwickelten Reservoirs dieser Bereiche sollte dann ein gemeinsames Ethos für die Gestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse entstehen und das Glück der Menschen befördert werden.

Der Historismus des 19.Jahrhunderts, die Zeit, in der die Wissenschaft des Judentums als akademische Disziplin ihren Eingang in das europäische Denken – wenn auch nicht in ihre Institutionen – fand, bildete eine neue Herausforderung für die Geisteswissenschaften in Bezug auf die Tradition. Er öffnete den Blick für unser Selbstverständnis und die verschiedenen Kulturvarianten, in denen die Fragen der Moderne gelöst werden. Dabei brachte er einerseits die dogmatische Struktur der Überlieferung hermeneutisch zu Bewusstsein, andererseits bestand die Gefahr, dass der Lebensbezug der Dokumente verloren ging.

Jürgen Habermas beschreibt 1978 in seiner Rede zum 80. Geburtstag von Gershom Scholem die daraus resultierende Ambivalenz der Geisteswissenschaften folgendermaßen:

... So bewegten sie sich in jener merkwürdigen Ambivalenz zwischen der Erhellung von Dokumenten, aus denen wir noch Lebenswichtiges lernen können, und der Entzauberung ihrer dogmatischen Geltungsansprüche. Diese Ambivalenz beunruhigt eine an ihren Gegenständen Anteil nehmende Philologie bis auf den heutigen Tag.

Der Beitrag des Judentums...

Für das Judentum galt und gilt diese Ambivalenz nicht. Es nimmt eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen ein, wobei der Aspekt Religion als Kultur eine wichtige Rolle spielt. Daraus ergibt sich ein Bild, das den zentralen Stellenwert der Ethik – als Verantwortung für den Anderen und das Andere – als erste Philosophie und als Beitrag aus der Urquelle des Judentums für das Abendland zeigt. Es zeigt sich weiter, dass sich die geistig gelungene Symbiose zwischen Judentum und Abendland gerade im europäischen Humanismus – und seinen Ausprägungen auf den Gebieten der Wissenschaft, Philosophie und Kunst – manifestiert.

... zu einem neuen Ethos in Forschung und Lehre

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem jüdischen Erbe Europas dient somit nicht nur der Erinnerung an die Zerstörung und den Verlust, sondern sie öffnet auch ein Tor für ein neues Ethos in Forschung und Lehre an deutschen Universitäten. Es bedeutet eine Chance, die Überschriften „Opfer“ – „Täter“ oder „Antisemitismus“ in Bezug auf die jüdische Tradition und das Judentum zu ändern und der Wissenschaft des Judentums, eingebettet in das Abendland, die Würde zurückzugeben, die ihr innerhalb der europäischen Geistesgeschichte zukommt. Es bedeutet eine Möglichkeit, aus dem Kreislauf von Selbstkritik und Selbstzweck auszubrechen in eine Selbstverpflichtung: Gerade in diesem Fach das Ideal eines Universitätsstudium zu verwirklichen, das den ganzen Menschen anspricht und zugleich die ethischen Herausforderungen der Gegenwart als Geschichtsbewusstsein annimmt, als Korrektur der Problematik von Historismus und Tradition.

Es würde bedeuten, sich am Ende des 20. Jahrhunderts der Aufgabe zu stellen, den Errungenschaften der Wissenschaft des Judentums, die im 19.Jahrhundert Eingang in Europa gefunden hat, gerecht zu werden. Die Selbstverpflichtung würde bedeuten, sich mit der Frage auseinander zu setzen, was es heißt, Geisteswissenschaften in einem Land zu lehren, welches 1933 jüdische Gelehrte aus den Universitäten vertrieben und sie nach dem Krieg nicht eingeladen hat, wieder zu lehren – nicht, dass sie in großen Massen gekommen wären. Zu fragen wäre, wie es möglich ist, dass man Martin Buber aus der Frankfurter Universität entlassen hat, aber Kant dort weiter gelesen wurde. Zu fragen wäre: Wie liest man Kant mit Buber, und wie liest man Kant ohne ihn?

Es würde möglich machen, jenseits von Fachdiskussionen und Personalquerelen einen Schritt heraus zu gehen, aus der Schoa die Kraft der Erneuerung zu schöpfen und nicht in einem ewigen Gefühl der Schuld und der Ohnmacht, das durch eine Erinnerungskultur nicht beseitigt werden kann, stecken zu bleiben. Es geht darum, die Brücke zu schlagen zwischen Theorie und Praxis, eine Übung, die es dem Judentum erlaubt hat, von einer religiösen Tradition in eine moderne Denkweise überzugehen.

„Das Judentum ist die Menschlichkeit, die an der Schwelle einer Moral ohne Institution steht.“

Eine Erneuerung wissenschaftlichen Umgangs mit dem Judentum an deutschen Universitäten steht somit einerseits unter dem Zeichen des Zivilisationsbruches der Schoa, aber andererseits auch unter dem, was Emmanuel Levinas die Conditio Judaica – die jüdische Bestimmung – genannt hat.

Solange Tempel stehen, Fahnen auf Palästen flattern und die Magistratsbeamten noch ihre Schärpen anlegen, riskiert man bei den Stürmen unter der Schädeldecke keinerlei Schiffbruch. Sie stellen nur das Schaukeln dar, das die Brisen der Welt bei ihren im Hafen fest verankerten Seelen hervorrufen. Das wirkliche Innenleben ist kein frommer oder revolutionärer Gedanke, der uns in einer behaglich dasitzenden Welt ankommt, sondern die Verpflichtung, die ganze Menschlichkeit des Menschen in der nach allen Winden offenen Laubhütte des Gewissens zu beherbergen... Dass aber die Menschheit sich in jedem Moment der gefährlichen Situation aussetzen kann, in der ihre Moral von einem ‚Innersten‘ abhängt, in der ihre Würde sich dem Raunen einer subjektiven Stimme verdankt und sich keiner objektiven Ordnung mehr spiegelt oder bestätigt – das ist das große Risiko, von dem die Ehre des Menschen abhängt. Aber vielleicht ist die Bedeutung der Tatsache, dass es inmitten der Menschheit eine jüdische Bestimmung gibt, gerade in diesem Risiko zu suchen. Das Judentum ist die Menschlichkeit, die an der Schwelle einer Moral ohne Institution steht.2

Levinas reflektiert den Preis, den das jüdische Volk für dieses „Ausgesetztsein“ bezahlt hat und endet so:

Die Bestimmung aber, zu der die menschliche Moral nach so vielen Jahrhunderten wie zu ihrer Matrix zurückkehrt, attestiert durch ein uraltes Testament ihren Ursprung innerhalb der Kulturen. Kulturen, die von dieser Moral ermöglicht, hervorgerufen, begrüßt und gesegnet werden, von der Moral, die aber erst geprüft und gerechtfertigt ist, wenn sie der Zerbrechlichkeit des Gewissens standhält...3

Judaistik ist kein Programm der „Wiedergutmachung“

In der Tat ist das Gewissen zerbrechlich, weil auch das Wissen am einzelnen Menschen bricht und dort seinen Einbruch erlebt, wo das „Religiöse“ und das „Profane“ sich treffen. Das Judentum braucht daher nicht als „profane Wissenschaft“ salonfähig gemacht zu werden. Wenn diese menschlich und historisch verantwortlich ist, dann ist sie es, und wenn nicht, so hat sie in den „Heiligen Hallen“ unserer Universitäten auch keinen Ort. Es geht ja nicht um „Judaistik“ oder „Jüdische Studien“ als Politikum, Nachholbedarf oder „Wiedergutmachung“; sondern um das geistige Überleben der gesamten Gesellschaft und um die notwendige Erneuerung der Universitäten in einem Land, das die Spätfolgen eines Zivilisationsbruches erlebt, in einem Land, in dem das jüdische Bürgertum als eine Kraft, die die Werte mit trägt, nicht mehr da ist. Und es geht um die Ausbildung einer akademischen Elite, die dieser Aufgabe gewachsen ist. Die angestrebte Interdisziplinarität dieses Faches bietet die Möglichkeit, die traditionsstiftenden Elemente der europäischen Traditionen und ihren Zusammenhang mit dem Judentum kennen zu lernen und zu erforschen. Dies wäre eine gemeinsame Aufgabe für uns alle: aus der Zerstörung einen neuen Anfang zu machen, sich der historischen Stunde und damit der Geschichte zu stellen.

Zur Problematik dieser Aufgabe gehört auch die Frage, ob Nichtjuden das Fach Judaistik oder Jüdische Studien lehren können: Dabei geht es weniger darum, was gelehrt wird, als vielmehr darum, warum gelehrt wird; und es ist daher in diesem Zusammenhang auch nicht wichtig, ob man das Fach Judaistik oder Jüdische Studien nennt, weil damit nur Begriffe gegeben sind, die mit Inhalt gefüllt werden müssen.

Adornos Plädoyer für die Freiheit des Geistes

Theodor W. Adorno hat 1962 in seinem Aufsatz „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“ einen Versuch unternommen, das Bildungsproblem der Geisteswissenschaften zu beschreiben:

Er gilt der Frage, ob der Universität heute Bildung dort noch gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriff festhält, also in den so genannten Geisteswissenschaften; ob im Allgemeinen der Akademiker durch deren Studium überhaupt noch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, die vom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinn der Gegenstände selber liegt, mit denen er sich befasst. Vieles spricht dafür, dass von eben dem Begriff der Wissenschaft, wie er nach dem Verfall der großen Philosophie aufkam und seitdem eine Art Monopol erlangte, jene Bildung unterhöhlt wurde, welche er Kraft des Monopols beansprucht.

Adorno plädiert hier dafür, den Geist in der Wissenschaft zurückzugewinnen, der eben in

der viel berufenen methodischen Sauberkeit, der allgemeinen Kontrollierbarkeit, dem Consensus der zuständigen Gelehrten, der Belegbarkeit aller Behauptungen, der logischen Stringenz der Gedankengänge

fehlt.

Wo der Konflikt gegen die unreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur Dialektik der Bildung, zum inwendigen Prozess von Subjekt und Objekt gar nicht kommen, den man im humboldtschen Zeitalter konzipierte.

Die Freiheit der Wissenschaft hängt unmittelbar mit der Freiheit des Geistes zusammen, und dies ist gerade das Problem:

Zur Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht, neigt die Wissenschaft offenbar umso mehr, pocht umso mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, dass sie das nicht gewährt, was sie verspricht.

Die innere Haltung und die damit verbundenen Fragestellungen, die selbstverständlich wissenschaftliche Haltung, die jeder Hochschullehrer, sei er jüdischer Herkunft oder nicht, in seinem oder ihrem Fach mitbringt, ist hier ausschlaggebend. Es ist, mittlerweile allgemein bekannt und von akademischen Kreisen in der ganzen Welt akzeptiert, dass es keine „objektive“ Wissenschaft gibt – dies gilt sicherlich für die Geisteswissenschaften. Der Methodenstreit ist in sich ein Kampf um die akademische „Wahrheit“, die eben nur auf diese Weise gesucht werden darf. Es geht ja nicht darum, „subjektive“ Meinungen auszuschalten, sondern darum, „objektive“ Wissenschaft auf ihre Prämissen hin kritisch zu befragen. Davor hat aber m. E. die Wissenschaft nach der Aufklärung die größte Angst: zu entdecken, dass sie sich in vielerlei Hinsicht nicht über ihre eigenen Methoden aufgeklärt hat, nämlich darüber, dass ihre Fragestellungen auch nur eine Auswahl aus vielen sind und dass man mit anderen Fragestellungen möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommt.

Kritische Wachsamkeit gegenüber der Aufklärung

Gerade wenn es um die jüdische Tradition geht, die von Anfang an in einem regen Austausch mit anderen Kulturen – griechischer Spätantike und arabischer Tradition und deren frühmittelalterlicher europäischer Rezeption – eine doch immer wieder eigene Synthese gefunden hat, muss man sich als Wissenschaftler davor hüten, voreilig die Methoden der Aufklärung unkritisch zu übernehmen. Denn diese sind in vielen Fällen nicht geeignet, religiöse Phänomene und Weltanschauungen adäquat zu beschreiben. Wir brauchen hier einen differenzierteren Weg, der nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sehr oft werden aber historisch bestimmte und geprägte Methoden, seien sie aus der Renaissance oder der Neuzeit, auf ältere Texte angewandt, was zu groben Missverständnissen führt und erhebliche innere Widersprüche aufzeigt.

Ein weiteres Problem in Deutschland betrifft die Unterscheidung zwischen Philologie und Philosophie in der Debatte zwischen den Anhängern der mehr philologisch geprägten Judaisten, d.h. den Vertretern der historisch-kritischen Schule, und den „lebendigen“ Judaisten der philosophischen Schule. Die einen sind – in der Nachfolge der historisch-kritischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts – an einem Verstehen der Quellentexte unter sprachlichen und quellengeschichtlichen Aspekten interessiert, wogegen die anderen das Judentum als eine lebendige Tradition betrachten, die trotz aller Brüche ein geistiges Kontinuum darstellt.

Das Judentum hat – wie bekannt – keine dogmatische Theologie entwickelt und braucht sich daher nicht wie die Aufklärer von der Religion aufzuklären. Sie kann in der Religion die besonderen kulturellen und prägenden Merkmale und Phänomene studieren, die religionshistorisch und religionsphilosophisch zu entschlüsseln, Aufgabe der Wissenschaft vom Judentum sein soll. Hier ist die Verbindung zwischen Philologie und Philosophie äußerst wichtig. In jeder Epoche der jüdischen Geschichte finden wir den Versuch, in der Sprache der Zeit, also im Zeitgeist, den alten Wahrheiten ein neues Gewand zu geben. Sicherlich sind dabei Entwicklungen und Veränderungen zu beobachten, aber man sollte nicht den Fehler begehen, den philologischen Teil der Forschung von den jeweiligen philosophischen Inhalten zu trennen. Die scharfe Trennung zwischen Philologie und Philosophie in der deutschen Wissenschaft des 18. und des 19. Jahrhunderts ist in dieser Hinsicht noch immer ein großes Hindernis. Am Ende dieses Jahrhunderts sollte auch in diesem Land die Trennung zwischen „Erkenntnis“ und „Erfahrung“ längst überwunden sein.

„Religion“ und „Profanität“ im Judentum

Die Geschichte des Judentums machte es im 19. Jahrhundert für das Judentum notwendig, sich der Weltkultur zu präsentieren und sich der historisch-kritischen Wissenschaft zu stellen. Die Wissenschaft des Judentums war eine Antwort auf diese Herausforderung und leistete somit einen positiven Beitrag zur Erhaltung des Judentums, indem es säkularisierten Juden die Möglichkeit einer jüdischen Identität und allen Juden eine Phase der Modernisierung erlaubte. Die Befürchtung, dass historische Forschung vom Glauben abbringe, war bereits durch die ständige Teilnahme von rabbinischen Autoritäten bei der wissenschaftlichen Arbeit im Mittelalter und in der Renaissance widerlegt worden. Das Anliegen und Ziel der jüdischen Gelehrten war es, die jüdische Welt- und Geschichtsauffassung zum Kriterium für die Würdigung der Welt und der Geschichte zu erheben und von Gott auszugehen, eine Tatsache, die sich nicht unreflektiert und vorwissenschaftlich verwirklichen lässt. Da die göttliche Botschaft immer durch die Sprache zu uns gelangt, ist die Sprachwissenschaft ein Mittel der Erkenntnis neben den anderen Hilfswissenschaften im Bereich der Geisteswissenschaften. Dieser Einsicht entspricht bereits die Sprachtheorie der mittelalterlichen Kabbala wie auch ihre Weiterentwicklungen in der modernen jüdischen Religionsphilosophie von Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Emmanuel Levinas. Darüber hinaus setzen der rationalistische Charakter des jüdischen Religionsgesetzes und die Möglichkeit einer persönlichen Gottesbeziehung – wie diese z. B. von Martin Buber in seinem Ich - Du entwickelt wird – eine positive Einstellung zu allen menschlichen Einsichten und Fakultäten voraus, die grundsätzlich mit der Aufklärung zu vereinbaren sind. Es ist daher ein Irrtum, im Kontext des Judentums von „Religion“ und „Profanität“ zu sprechen.

Die historisch-kritische Methode muss deshalb ihren Stellenwert in der Verwirklichung des göttlichen Willens bekommen und in die Offenbarung als geschichtliches Ereignis eingeschlossen werden. Letzteres wurde von Gershom Scholem – in der Nachfolge von Franz J. Molitor – in seinem Aufsatz „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“ aufgezeigt.

Der hermeneutische Pluralismus des Judentums erlaubt literarisch-kritische, historisch-kritische, anthropologische, philosophische und andere Interpretationen der Tora nebeneinander, ohne die Frage der Autorität des Textes in den Mittelpunkt zu rücken. So wird das menschliche Verständnis des Textes als Teil der Heiligen Schrift überliefert, und die historisch gegebene Grenze zwischen Autor und Leser wird in der Gegenwart aufgehoben. Mündliche und schriftliche Lehre sind somit voneinander abhängig und bilden zusammen die Heilige Schrift als menschliches Zeugnis des göttlichen Wortes in menschlicher Sprache.

Kritik, Analyse und Synthese formen den methodischen Rahmen des Umgangs mit dem Text, der menschlicher Kritik unterworfen ist. Die Herausforderung der jüdischen Hermeneutik liegt nach wie vor in der Notwendigkeit, Gott nicht nur im Jenseits, sondern auch in der Geschichte und ihren menschlichen Komponenten zu sehen und in die Erkenntnis des Intellekts nicht nur die reine Vernunft, sondern auch die Erfahrung der Wirklichkeit einzubeziehen.

Religiöse Hermeneutik im Kontext der Wissenschaft des Judentums ist eine notwendige Ergänzung des abendländischen Aufklärungsverständnisses

Die Funktion der Judaistik für Studierende

Zu diesen geisteswissenschaftlichen Aspekten fügt sich nun ein weiterer, der mit der Geschichte der Gegenwart zusammenhängt: Der Grund, warum Studenten dieses Fach studieren, hat unmittelbar mit der Schoa zu tun.

Es gibt mittlerweile ein wachsendes Interesse an jüdischem Gedankengut. Das hat einerseits zu tun mit einer allgemeinen Orientierungslosigkeit und andererseits mit der Suche nach Identität bei vielen jungen Menschen in diesem Land, die alles, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist, unmittelbar mit der heutigen Situation verbinden. Der künstlich hervorgebrachte und seit 50 Jahren ideologisch auch vertretene „Neuanfang“ unter dem Motto „Gnade der späten Geburt“ wird existentiell in Frage gestellt. Judaistik oder Jüdische Studien spielen dabei eine zentrale Rolle (neben dem Historikerstreit, der 68-er Bewegung oder der Debatte über das Mahnmal, Goldhagens Buch und der Wehrmachtsausstellung).

Da Juden einen großen Anteil an allen Bereichen der Wissenschaft hatten, dies aber in der akademischen Ausbildung in der Nachkriegszeit keine besonders große Rolle spielte, sind die heutigen Hochschullehrer durch ihre Ausbildung allein nicht in der Lage, dieses Bedürfnis der Studenten in seiner Gänze aufzunehmen und zu thematisieren.

Es geht also nicht darum, über die Schoa zu lehren oder Antisemitismus und Rechtsradikalismus als Spezialfächer einzuführen; sondern darum, diese Tradition in allen Fächern als integraler Bestandteil des wissenschaftlichen Ansatzes mit einzubeziehen. Die Frage der Methodik wissenschaftlicher Erkenntnis steht also unter dem Zeichen der Frage „Wissenschaft nach Auschwitz“.

Die Erneuerung der Universitäten im Osten spielt in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle: Sie müssen sich einerseits gegen eine Übernahme des westlichen Modells wehren, das in dieser Hinsicht ein unaufgeklärtes Modell ist; und sie müssen andererseits versuchen, auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen sozialistisch-kommunistischen Vergangenheit (welche ja als Medizin gegen den Faschismus verbreitet und verkauft wurde) einen wirklichen Neuanfang zu machen.

Es gibt keine wertfreie Wissenschaft

Die Lehrstühle für Jüdische Studien mit ihren interdisziplinären Ansätzen sind bei dieser Aufgabe besonders angesprochen. In meinen Seminaren hatte ich Studierende aus fast allen Fachbereichen der Geistes- und Naturwissenschaften, die „das Judentum“ kennen lernen wollten. Oft stellte es sich heraus, dass viele in Israel gewesen oder durch familiäre Zusammenhänge mit der jüngsten deutschen Geschichte konfrontiert worden waren. Die neuen Lehrstühle könnten mit ihrem Ansatz für die erste Generation nach der Wende eine wichtige Aufgabe erfüllen – für eine Generation, an der man in Sachsen-Anhalt scheinbar so tragisch gescheitert ist. Denn man ist, wie mir in vielen Gesprächen mit Studenten allmählich deutlich wurde, an der Verantwortung für das geistige (nicht für das wirtschaftliche) Wohl von vielen Menschen gescheitert.

Vielleicht geht diese Aufgabe über das normale Maß einer akademischen Ausbildung im klassischen Sinn hinaus. Aber können wir es uns als Gesellschaft noch leisten, jungen Menschen, denen wir in den produktivsten Jahren ihres Lebens eine Ausbildung finanzieren, dies vorzuenthalten? Viele Juden wie ich sehen darin eine besondere Aufgabe – gerade in Deutschland. Die Frage ist nur: Wer sind unsere Partner? Es gibt keine wertfreie Wissenschaft, weil sie von und für Menschen ist.

Die Zusammenarbeit von Lehrern und Schülern in gemeinsamer Verantwortung ist erforderlich. Sie ist im Grunde genommen die Basis einer guten Wissenschaft, die den historischen Methoden zur Erkenntnis verpflichtet ist. Aus meiner Erfahrung kann ich nur berichten, dass es sehr viele Studenten und sehr wenige Hochschullehrer gibt, die diese Aufgabe als Mandat einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Judentum annehmen. Hier ist der Bruch am deutlichsten erkennbar, der Nachholbedarf groß. Interdisziplinarität hat also nichts mit einem Mangel an „Expertise“ zu tun, ist kein Ritual der „political correctness“, sondern rührt an der Sache selbst. Es ist der Ort, wo sich die Geister scheiden zwischen Leopold Zunz und Hermann Cohen, wo der Vater der Wissenschaft des Judentums, der bereits von Gershom Scholem als „Totengräber“ beschrieben wurde, möglicherweise eine neue Begegnung haben könnte mit einem Vertreter der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.

Die fachmännische Vertretung der Ethik und der Religionsphilosophie als Mittelpunkt aller Bestrebungen zur Förderung der Wissenschaft vom Judentum an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ist mehr als ein Desiderat. Sie ist eine akademische Notwendigkeit.

,Die übliche Unterscheidung zwischen „religiös“ und „säkular“, die aus der westlich – christlich geprägten Kultur stammt und im Judentum nicht durchgehalten wurde, muss in ihren grundsätzlichen Zügen erkannt und kritisiert werden. Es geht hier also nicht um eine „jüdische“ oder eine „nicht-jüdische“ Wissenschaft, es geht auch nicht um die Frage, ob das Judentum als Religionsgemeinschaft in Deutschland das Recht auf eine eigene Institution hat, sondern um die Art und Weise, wie Judentum als Wissenschaft an deutschen Hochschulen gelehrt wird. Es geht nicht um die fachliche Ausbildung zum Rabbiner, Religionslehrer, Kantor oder Sozialarbeiter, der für den Aufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland angestellt werden soll, sondern um die Basis einer Gesellschaft, in der das Judentum als mittragender Wert, als kulturelles Erbe Europas nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz wieder einen Ort haben soll, der getragen wird von Juden und Nichtjuden in einer säkularisierten Welt.

Wenn die Werte der Aufklärung uns zu tragen vermögen – was durch Auschwitz in Frage gestellt werden muss – dann hat die akademische Disziplin „Judaistik“ sicherlich einen Beitrag zu leisten. Die Juden in Deutschland müssen daher eine wachsende Rolle spielen und sich einmischen, nicht nur in Bezug darauf, was ihre Kinder und Enkelkinder im Kindergarten und in der Schule, sondern auch zukünftig an der Universität lernen. Dies gilt für Mediziner wie für Juristen und Ingenieure.

Christliche und aufklärerische Vorurteile beseitigen

Die „Doppelbedeutung“ und „Zwitterstellung“ der wissenschaftlich-theologischen Fakultäten an deutschen Universitäten (wo in manchen Fällen wie in Heidelberg und Leipzig bis zum heutigen Tag noch Konfessionsklauseln gelten, die es Juden unmöglich machen, dort zu promovieren, ganz zu schweigen von einer möglichen Habilitation) machen es aus der Sicht der Wissenschaft vom Judentum zur Notwendigkeit, die kulturellen Werte einer Universitätsausbildung kritisch zu befragen. Dass die Lage in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Holland und England oder zu den Vereinigten Staaten von Amerika hier sich eher negativ auswirkt, versteht sich aus den oben angeführten Gründen von selbst. Es geht ja nicht um die ethnische Zugehörigkeit, sondern um aufgeklärte Grundlagen für eine Geisteswissenschaft, die sich mit Texten beschäftigt, die jahrhundertelang das Fundament für die Juden in Europa gebildet haben und die es jetzt in ihren identitätsstiftenden Zügen zu entdecken gilt, gereinigt von allen – christlich und aufklärerisch – falschen Vorurteilen. Der vermeintlich „objektive“ Wissenschaftsanspruch mancher Judaisten ist ein Hindernis für die aufklärende Funktion der Wissenschaft überhaupt und führt zu einem wissenschaftlichen Fundamentalismus, der klare antijudaistische Tendenzen zeigt und sich – bewusst oder unbewusst – antijudaistischer Slogans bedient.

In der Theorie ist bereits erkannt worden, dass sich Wissenschaft immer in einer Wechselwirkung zwischen „dem Erforschten“ und dem „Erforschenden“ vollzieht und dass die Annahme einer reinen Innenperspektive ebenso naiv ist wie die einer reinen Außenperspektive; dass es sich in unserem Fall also um das Erforschte und um jüdische und nichtjüdische Forscher handelt. Die Frage bleibt allerdings, warum dies gerade in Deutschland nicht zu einer fruchtbaren Kooperation gelangen kann: Warum dieses Angebot in der Praxis von nichtjüdischer Seite abgelehnt wird.

Die Antwort auf diese Frage hat möglicherweise mit der allgemeinen Orientierungslosigkeit junger Menschen in und mit der geistigen Malaise der Universitäten Deutschlands am Ende dieses Jahrhunderts zu tun.

An der Enttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren Naivität schuld, sondern ebenso, dass die Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivität, von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt haben, ohne das Geist nicht lebt; ihr Mangel an Selbstbestimmung dabei ist nicht weniger naiv. Noch wo sie weltanschaulich dem Positivismus opponieren, sind sie insgeheim unter den Bann der positivistischen Denkmanier geraten, den eines verdinglichten Bewusstseins. Disziplin wird, im Einklang mit einer gesellschaftlichen Gesamttendenz, zum Tabu über alles, was nicht das je Gegebene stur produziert; eben das aber wäre die Bestimmung des Geistes.

so Theodor W. Adorno in seinem oben zitierten Aufsatz „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“. Die Verselbständigung der Methoden führt in die Irre, der Streit um ihretwillen ersetzt den Streit um die akademische Wahrheit. "Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich ein Vakuum."

Chance eines neuen Humanismus?

In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Zustand weiter zugespitzt, und mehr und mehr Stimmen werden laut, die eine Erneuerung der Universitäten fordern. Die Bedingungen dieser Erneuerung sind nicht nur finanzieller Art. Sie beziehen sich auf die Möglichkeit eines neuen Humanismus, der durch eine Erhellung im Forschen das Unmögliche zu denken vermag. Dies bedeutet ein Suchen nach Antworten, die jeden Einzelnen als Individuum und uns alle als Gesellschaft unmittelbar betreffen. Die bestehende Trennung von Humanität und Institution macht es notwendig, einen Rahmen zu eröffnen, in dem die verschiedenen Bereiche unseres Lebens, der private und der öffentliche, wieder zusammenwachsen können; in dem Individuum und Gesellschaft in ihren verschiedenen Ausdrucksformen als Ganzes erkannt werden – jenseits von akademischen Zwängen sowie bürokratischen und wirtschaftlichen Interessen; in dem die Bereiche der Kunst, der Religion und der Wissenschaft wiederum in den Dienst unserer Bildung und Kultur gestellt werden können und in dem die Ethik als erste Philosophie den Geist beflügeln kann.

In dieser Erneuerung können die Traditionen, die Europa geprägt haben – d. h. die griechisch-römische, die jüdische, die christliche und die islamische – in ihren traditionsstiftenden Grundzügen erkannt und zum Ausdruck gebracht werden. Akademische Einrichtungen sind dazu da, in einem Klima des offenen Austausches – nicht nur durch Kolloquien und Publikationen, durch Forschung und Fachdiskussionen – eine Tradition des Lehrens und Lernens zu entwickeln. Sie können zu einem Ort werden, wo Hochschullehrer zusammen mit Studierenden das Ideal eines Universitätsstudiums zu verwirklichen suchen, das den ganzen Menschen anspricht und das – wie oben angedeutet – die ethischen Herausforderungen der Gegenwart ins Zentrum rückt.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist von den gewohnten nach Disziplinen getrennten Einrichtungen Abschied zu nehmen. Aber auch zu den üblichen interdisziplinären Einrichtungen gibt es einen wesentlichen Unterschied: die Abwesenheit der Trennung von Theorie und Praxis, von Forschung und Lehre – mit anderen Worten: von Leben und Lehre. Technische Kenntnisse müssen mit menschlicher Kompetenz verbunden werden. Im Bereich der Geisteswissenschaften bedeutet dies, dass es in erster Linie nicht so sehr um eine Erweiterung unseres Wissens, unserer historischen Kenntnisse geht; sondern um die Frage der Adaption: Wie können wir den Überfluss unseres Wissens für das Wohl der Gesellschaft einsetzen? Und wie können wir das geistige und physische Überleben der nächsten Generation sichern?

Eine Renaissance der Wissenschaft

Diese Fragen betreffen alle akademischen Bereiche. Sie reichen von der Medizin, über die Naturwissenschaften, die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, bis hin zur Theologie, zu den Religionswissenschaften und der Kunst und betreffen sicherlich auch die Philosophie und die Sozial- und Geschichtswissenschaften.

Sie aufzunehmen würde eine Renaissance der Wissenschaft erlauben, die die kulturellen Unterschiede und historischen Hintergründe der europäischen Denktraditionen neu reflektiert. In der Begegnung zwischen Ost und West, Morgenland und Abendland, Religion und Moderne können diese Traditionen neu belebt und für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Die historische Wissenschaft muss sich daher einer grundlegenden Kulturkritik unterziehen, wenn sie auch in der Zukunft eine glaubwürdige Methode für unsere Natur- und Geisteswissenschaften sein will.

Diese wissenschaftliche Herausforderung muss von einer gesellschaftlichen begleitet werden und den wichtigen Beitrag einer grundlegenden Reflexion des Wertewandels am Ende dieses Jahrhunderts leisten.

Die Wissenschaft des Judentums hat in Deutschland angefangen, eben hier ist sie auch größtenteils untergegangen. Das muss die deutsche Wissenschaft in diesem Fach – nolens volens – mit reflektieren. Trotz der Schoa hört die Wissenschaft des Judentums nicht im 19. Jahrhundert auf, und wir als Wissenschaftler der Nachkriegsgeneration haben die Selbstverpflichtung das Fach – wie auch alle anderen Fächer – für das 21. Jahrhundert salonfähig zu machen.

ANMERKUNGEN

1 Hannah Arendt, Ich will verstehen, München 1996, 205.

2 Emmanuel Levinas, Eigennamen, München/Wien, 1988

3 Ebd., 106

Editorische Anmerkungen

Eveline Goodman-Thau ist Rabbinerin von „Or Chadasch – Bewegung für progressives Judentum“ in Wien. Sie lehrt als Judaistin an verschiedenen deutschen Universitäten.

© Copyright 2001 Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 3, 2001.

Mit freundlicher Erlaubnis.