Seit wann gibt es Christentum?

Seit wann gibt es Christentum? Dieser Frage geht Wengst nach und spürt den Punkt auf, an dem das Christentum beginnt, sich als eine eigenständige Größe zu begreifen und sich in Abgrenzung zum Judentum zu definieren. Eine Schlüsselrolle fällt dabei dem Barnabasbrief zu.  

Seit wann gibt es Christentum?

 Hat man sich die Frage, seit wann es Christentum gibt, erst einmal gestellt, wundert man sich über die Selbstverständlichkeit, mit der im Blick auf das Neue Testament und seine Zeit von „christlich“, den „ersten Christen“, dem „Urchristentum“ oder „frühen Christentum“ die Rede ist. Gelegentlich kann man den Satz hören: „Die ersten Christen waren Juden.“ Aber das ist ein sehr vertrackter Satz. Denn Juden waren sie allemal. Aber waren sie auch „Christen“?

Womit das Christentum nicht begann

Das Christentum bezieht sich auf Jesus von Nazareth. Aber es begann nicht mit ihm. Jesus war Jude. Er ist als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist als Jude gestorben. Wenn er als Stifter des Christentums bezeichnet wird, dann ist er ein Stifter, der zeitlebens einer anderen Religion angehört hat als der, die er gestiftet haben soll. Sein Tod am Kreuz mit dem auf der Aufschrift angegebenen Grund seiner Hinrichtung: „König der Juden“ zeigt: Die römische Macht in Gestalt des Präfekten Pontius Pilatus hat ihn als jüdischen Aufrührer hinrichten lassen. Das ist Fakt, auch wenn die Römer sein Wirken falsch verstanden haben sollten. Die Evangelien stellen Jesus als Juden dar, der im jüdischen Kontext gelebt hat und nur gelegentlich mit nichtjüdischen Menschen in Berührung kam. Sie zeigen ihn teils im Streit, teils im Konsens mit anderen jüdischen Gruppen. Wer Jesus, wie er in den Evangelien erscheint, aus dem Judentum hinaus interpretiert – er habe das Judentum transzendiert, es überwunden oder mit ihm gebrochen –, kann das nur unter Ignorierung oder Missachtung und Missdeutung der jüdischen Quellen tun. Das hat sich inzwischen auch weithin herumgesprochen: Jesus war Jude.

Ostern und Pfingsten

Wenn also das Christentum nicht mit dem irdischen Jesus begann, beginnt es dann mit dem als auferweckt bezeugten und geglaubten? Also mit Ostern? Oder wenigstens – nach der Darstellung der Apostelgeschichte – mit Pfingsten? Aber war denn etwa Simon Petrus, als er durch eine wie auch immer zu erklärende Erscheinung zu der Überzeugung kam, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, der Meinung: Also bin ich ab jetzt kein Jude mehr, sondern ein Christ? Die Frage stellen heißt, sie verneinen. Er und die anderen waren jüdische Menschen, die Gott nicht nur dafür lobten, dass er Himmel und Erde gemacht, dass er Israel aus Ägypten herausgeführt, sondern auch dafür, dass er Jesus von den Toten auferweckt hatte, und die deshalb Jesus für den Messias hielten. Dass in dieser Gruppe „die Zwölf“ hervorgehoben wurden, weist auf ihr Selbstverständnis, in der – als nun angebrochen geglaubten – Endzeit Israel zu repräsentieren. In dieser Hinsicht bezeichnend ist auch die Ansiedlung in Jerusalem, obwohl doch viele, vor allem die führenden Kräfte, aus Galiläa stammten.

Bis zum Beginn des jüdisch-römischen Krieges gab es diese messiasgläubige Gruppe als eine jüdische Gruppe unter anderen in Jerusalem. Dass sie auch von anderen Juden als jüdische Gruppe wahrgenommen wurde, zeigt eine Nachricht bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus. Er beschreibt eine Situation, nachdem Festus, der römische Prokurator der Provinz Judäa, gestorben war und bevor sein Nachfolger Albinus sein Amt angetreten hatte (im Jahr 62, nach neueren Berechnungen zwei Jahre vorher). Es gab ein dreimonatiges Machtvakuum. Das nutzte ein junger, heißsporniger sadduzäischer Hohepriester. Er zerrte ihm missliebige Personen vor den Sanhedrin, ließ sie zum Tode verurteilen und steinigen. Unter den Getöteten nennt Josephus einen einzigen mit Namen: „Jakobus, den Bruder Jesu, des sogenannten Messias“. Er berichtet weiter, dass diejenigen, die es mit den Gesetzen am genauesten nahmen, womit er sonst mehrfach die Pharisäer bezeichnet, Protest gegen dieses Verhalten des Hohenpriesters bei König Agrippa II. und beim kommenden Statthalter erhoben. Das führte zur sofortigen Absetzung des Hohenpriesters. Josephus, der etwa 30 Jahre nach diesem Ereignis schreibt, stellt es als eine innerjüdische Auseinandersetzung dar; und er lässt auch erkennen, dass die messiasgläubige Gruppe die Sadduzäer zu scharfen Gegnern hatte, nicht aber die Pharisäer.

Stephanus

In der Kirche gilt Stephanus als der erste christliche Märtyrer. Aber war Stephanus „Christ“? Er gehörte zu den „Hellenisten“, also griechisch sprechenden Jüdinnen und Juden in Jerusalem, die an Jesus als Messias glaubten. Wie Lukas die Sache in der Apostelgeschichte 7 und 8 darstellt, handelt es sich um innerjüdische Auseinandersetzungen. Juden gehen nicht gegen „Christen“ vor, sondern gegen andere Juden, die darin ihre Besonderheit hatten, dass sie Jesus für den Messias hielten und daraus Konsequenzen zogen, die heftige Auseinandersetzungen herausforderten. Die Tötung des Stephanus wird als tumultuarische Lynchjustiz beschrieben.

Paulus

Auch Paulus war als Jude kein „Christenverfolger“ und als Verkündiger des Evangeliums von Jesus Christus kein „Christ“. Vor seiner Berufungserfahrung nahm er innersynagogale Strafmaßnahmen an anderen Juden vor. Seine Berufungserfahrung führte auch bei ihm nicht dazu, dass er meinte: Jetzt bin ich kein Jude mehr, sondern „Christ“. Paulus gebraucht dieses Wort nirgends. Natürlich hat er einen Wechsel erfahren, aber das war ein Wechsel von einem pharisäisch bestimmten Juden zu einem messiasgläubigen Juden. Sein Judesein hat Paulus jedenfalls in seinem eigenen Bewusstsein nie aufgegeben. Wenn andere Verkündiger ihr Judesein herausstellen, kann er es auch: „Hebräer sind sie? Ich auch. Israeliten sind sie? Ich auch? Nachkommenschaft Abrahams sind sie? Ich auch“ (2. Kor 11,22). „Auch ich bin ja ein Israelit, aus Abrahams Nachkommenschaft, dem Stamm Benjamin“ (Röm 11,1). Mit Simon Petrus fasst er sich zusammen: „Wir sind von Haus aus Juden und nicht Sünder aus den Völkern“ (Gal 2,15). Die Verbundenheit mit seinen nicht an Jesus als Messias glaubenden Landsleuten bringt er eindrücklich zum Ausdruck (Röm 9,1-3) und bezeichnet sie dabei als seine Geschwister – ein Ausdruck, den er sonst nur für die Menschen in den Gemeinden gebraucht.

Beginnt das Christentum damit, dass Menschen aus den Völkern dazukommen?

In Apostelgeschichte 11,19 berichtet Lukas, dass diejenigen, die sich nach der Aktion gegen Stephanus und der anschließenden Bedrängnis zerstreut hatten, bis nach Phönikien, Zypern und Antiochien kamen. Er schließt den Vers mit der Bemerkung ab: „wobei sie niemandem das Wort sagten außer den Juden“. In Vers 20 fährt er dann aber fort: „Unter ihnen aber waren einige Männer aus Zypern und der Kyrenaika; die kamen nach Antiochien und redeten auch zu den nichtjüdischen Griechischsprachigen, indem sie Jesus als den Herrn verkündigten.“

Wie ist die Situation, dass griechisch sprechende Juden einem griechisch sprechenden nichtjüdischen Publikum „Jesus als den Herrn“ verkündigen, näher vorzustellen? Lukas redet an dieser Stelle wenig anschaulich. Die aus Jerusalem Gekommenen werden sich nicht auf den Marktplatz von Antiochien gestellt und dort zu reden angefangen haben. Die Männer, die aus Zypern und der Kyrenaika stammten, waren ja Juden. Die sozusagen natürliche Anlaufstelle für Jüdinnen und Juden, wenn sie in eine ihnen fremde Stadt kamen, war die Synagoge. Sie bildete nicht einen abgeschlossenen kultischen Raum, der nur am Schabbat geöffnet gewesen wäre, sondern war das Verwaltungs- und Kommunikationszentrum der jüdischen Gemeinde am Ort. Zum synagogalen Gebäudekomplex gehörten auch Räume für die Beherbergung durchreisender Jüdinnen und Juden. Um sich also in einer fremden Stadt und über sie zu orientieren, um fürs Erste Quartier zu finden, war für Jüdinnen und Juden der nächste Weg ganz selbstverständlich der zur Synagoge.

Das zeigt auch die weitere Darstellung der Apostelgeschichte über Paulus. Beim Betreten einer neuen Stadt geht er immer zuerst in die Synagoge. Das ist kein lukanischer Schematismus, sondern versteht sich auf dem gekennzeichneten sozialgeschichtlichen Hintergrund von selbst. Auch die messiasgläubigen Männer aus Zypern und der Kyrenaika werden, nach Antiochien gekommen, zuerst zur Synagoge gegangen sein. Dort werden sie sich auch am Schabbat eingestellt haben; und wovon ihnen das Herz voll war, ging ihnen der Mund über. Sie verkündigten Jesus als schon gekommenen Messias und als von Gott zum Herrn Auferweckten; damit sei das Ende der Zeit schon hereingebrochen, was in Bälde ganz offenbar werde; und Gott erfülle diejenigen schon jetzt mit seinem für die Endzeit verheißenen Geist, die sich auf den Namen Jesu taufen ließen. Solche Verkündigung mag dann noch durch wundercharismatische Elemente unterstützt worden sein.

Ihre Hörerschaft bestand nicht nur aus Jüdinnen und Juden. In den antiken jüdischen Gemeinden der Mittelmeerwelt gab es eine nichtjüdische Sympathisantenschaft, die partiell - in unterschiedlichen Graden – jüdische Lebensweise übernahm und am jüdischen Leben teilnahm und sich nach Möglichkeit vor allem auch bei der Versammlung am Schabbat einstellte. In der Apostelgeschichte werden sie als „Gottesverehrer“ und „Gottesfürchtige“ bezeichnet. Sie sind keine Erfindung des Lukas; es hat sie tatsächlich gegeben, wie Inschriften beweisen.

Die „Gottesverehrer“ im Umfeld der Synagogen

Auf der einen Seite gab es in der antiken Welt eine negative Einstellung zum Judentum, die sich für die hellenistisch-römische Zeit in den Vorwurf zusammenfassen lässt, die Juden legten eine „gegen die gesamte zivilisierte Welt gerichtete Fremden- und Menschenfeindlichkeit“ an den Tag.1 Wie ein gebildeter, vornehmer Römer die Juden sah, kann man bei Tacitus nachlesen – ein seltsames Durcheinander von Informationen und Desinformationen. Ich nenne nur die grundsätzliche Einschätzung: Die von Mose eingeführten religiösen Bräuche stünden „mit den sonst auf der Welt üblichen im Widerspruch. Dort bei den Juden ist alles unheilig, was bei uns heilig ist; andererseits ist bei ihnen gestattet, was wir als Gräuel betrachten“ (hist. V 2-5). Als Beleg führt er an, dass im Allerheiligsten das Weihebild eines Esels aufgestellt sei (4,1). Ganz am Schluss bemerkt er: „Die Lebensart der Juden ist abgeschmackt und schäbig“ (5,5).

Bei Juvenal zeigt sich keine andere Haltung gegenüber dem Judentum. Aber in seiner 14. Satire wird zugleich die andere Seite sichtbar: die Attraktivität des Judentums für Teile der hellenistisch-römischen Gesellschaft. Dort heißt es in einem Zusammenhang, der den schlechten Einfluss lasterhafter Väter auf die dann noch schlimmer werdenden Söhne herausstellt:

Manche, denen ein den Sabbat ehrender Vater zuteil wurde, beten nichts an außer den Wolken und der Gottheit des Himmels, glauben, von menschlichem Fleisch unterscheide sich nicht das eines Schweines, dessen sich der Vater enthielt, und lassen bald auch ihre Vorhaut beschneiden. Gewohnt aber, die römischen Gesetze gering zu schätzen, lernen sie das jüdische Recht genau, beachten und fürchten es, ganz wie Mose es ihnen in geheimer Rolle überlieferte: niemandem die Wege zu zeigen außer dem Anhänger desselben Kults, allein die Beschnittenen hin zur gesuchten Quelle zu führen. Doch liegt die Schuld beim Vater, der an jedem siebten Tag müßig war und keinen Teil des Geschäftslebens anrührte.

Hier ist, von der anderen Seite her, sehr klar der Unterschied zwischen Gottesverehrer und Proselyt wahrgenommen und wie das Eine zum Anderen führen kann. Der Vater hält den Sabbat und isst kein Schweinefleisch; die Söhne lassen sich beschneiden und lernen die jüdischen Gebote.

Neben der Judenfeindschaft gab es also auch das Andere, dass nämlich Judentum für Teile der nichtjüdischen Gesellschaft attraktiv war. Es war es vor allem aufgrund von zwei Faktoren: des Monotheismus und der hochstehenden jüdischen Ethik. Beides zeigt sich auch im Text Juvenals. „Sie beten nichts an außer den Wolken und der Gottheit des Himmels.“ „Die Wolken“ sind entweder Polemik Juvenals oder ein Missverständnis aufgrund der jüdischen Umschreibung Gottes mit „Himmel“. Hinsichtlich der Ethik zeigt es die Bemerkung über das Studium des jüdischen Rechts. Juvenal lässt es fast als notwendig erscheinen, dass die Söhne Proselyten werden, wenn der Vater Gottesverehrer war. Das wird vorgekommen sein, war aber kaum die Regel. Es gab für Gottesverehrer, auch in der zweiten Generation, gute Gründe, nicht zum Judentum zu konvertieren.

Man kann mit Recht fragen: Wenn für diese Menschen Judentum attraktiv war, wieso sind sie dann nicht konvertiert? Diese Möglichkeit stand von jüdischer Seite immer offen. Der völlige Übertritt zum Judentum war näherliegend für Menschen aus der Unterschicht, die gesellschaftlich nicht so stark eingebunden waren und die durch den Übertritt von dem für antike Verhältnisse sehr entwickelten Sozialsystem jüdischer Gemeinden profitieren konnten. Für Bessergestellte gab es durchaus Barrieren, diesen Schritt zu vollziehen. Am Schluss des Zitates von Juvenal über den schuldigen Vater heißt es genauer übersetzt: „dem jeder siebte Tag ein träger war und der (der siebte Tag) keinen einzigen Teil des Lebens anrührt“. Man stelle sich eine Geschäftsfrau vor, die jeden siebten Tag ihren Laden schließt. Wie werden ihre Kunden reagieren? Man stelle sich einen Handwerker vor, der am Schabbat seine Arbeiter nach Hause schickt, der an der Jahresversammlung der Gilde im Tempelrestaurant nicht teilnimmt. Wird er nicht geschnitten werden? So war es ratsam, diesen letzten Schritt nicht zu tun, sondern im Status eines Sympathisanten zu verbleiben und sich auch gegenüber den Ansprüchen der nichtjüdischen Gesellschaft flexibel zu verhalten. Sie blieben also der jüdischen Gemeinde gegenüber wohlmeinende Sympathisanten, saßen gleichsam in der zweiten Reihe, passten sich in einigen Punkten an die jüdische Lebensweise an, was gewiss in unterschiedlicher Intensität geschehen konnte, nahmen am synagogalen Leben, nach Möglichkeit besonders an der Versammlung am Schabbat, teil, unterstützten die Gemeinde gelegentlich mit Geld und machten – im Konfliktfall oder wenn es sonst im Interesse der jüdischen Gemeinde lag – ihren Einfluss bei der Stadtverwaltung oder der römischen Provinzverwaltung geltend.

Einige dieser Aspekte finden sich bei der Beschreibung des Hauptmanns Cornelius in der Apostelgeschichte 10,2: Er war „fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Haus, erwies dem (jüdischen) Volk viele Wohltaten und betete ständig zu Gott“. Nach dem Lukasevangelium bitten jüdische Älteste Jesus, den todkranken Knecht eines Hauptmanns zu heilen; über ihn sagen sie: „Er ist es wert, dem du das gewähren sollst. Denn er liebt unser Volk und hat die Synagoge für uns bauen lassen“ (7,4f.).

Die „Gottesverehrer“ werden Adressaten der messianischen Verkündigung

Solche Leute also waren Teil des Publikums, als die Männer aus Zypern und der Kyrenaika in der Synagoge von Antiochien die messianische Verkündigung im Enthusiasmus endzeitlichen Geistes erklingen ließen. Sie hatten Erfolg. Mitglieder der Synagogengemeinde und Leute aus der nichtjüdischen Sympathisantenschaft ließen sich auf ihre Verkündigung ein. Das wird nicht ohne Auseinandersetzungen abgegangen sein. Lukas ist an dieser Stelle, da er die Entstehung der ersten Gruppierung aus Juden und Nichtjuden beschreibt, so unanschaulich, dass er nicht einmal den Ort der Verkündigung, die Synagoge, nennt; und so erzählt er hier auch nichts von Auseinandersetzungen – wahrscheinlich weil er am Beginn dieser Entwicklung ein von keinem Konflikt getrübtes Bild der Harmonie zeichnen will. An späteren Stellen, beim Auftreten des Paulus in Synagogen, beschreibt er immer wieder, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Ein Teil, der kleinere, schenkt der messianischen Verkündigung Glauben; der größere Teil tut es nicht. Über die Gründe der Nichtakzeptanz sagt Lukas nichts. Sie dürften vor allem darin bestanden haben, dass mit dem Kommen des Messias natürlich auch seine messianische Herrschaft und das Errichten des messianischen Reiches verbunden war; von einer Verwandlung der Welt im Ganzen war aber augenscheinlich nichts zu spüren. So kam es zum Streit in der synagogalen Gemeinschaft; der kleinere Teil bildete nebenher eine eigene Gruppe.

Wie hätte es zu Beginn in Antiochien anders sein sollen? In dieser Gruppe wehte ein neuer, Grenzen überschreitender und miteinander verbindender Geist. Die nichtjüdischen Mitglieder fanden sich nicht mehr nur in der zweiten Reihe vor als Sympathisanten, sondern waren gleichberechtigt in der ersten mit dabei. „Hier gibt es nicht Jude oder Grieche; hier gibt es nicht Sklave oder Freier; hier gibt es nicht männlich und weiblich!“ schreibt Paulus später im Galaterbrief (3,28) und nimmt damit eine ihm schon überkommene Formulierung auf. Es ist die Erfahrung der sich zuerst in Antiochien bildenden Gruppe.

Hier entsteht etwas Neues. Ein Grenzen überschreitender Geist erfasst Juden und Nichtjuden, Menschen unterschiedlicher Nationen und gegensätzlicher gesellschaftlicher Schichten, Männer und Frauen und verbindet sie zu einer neuen Einheit, in der sie sich von gleich zu gleich begegnen. Das Selbstverständnis der jüdischen Mitglieder war natürlich nach wie vor das von Jüdinnen und Juden, die ihren Messias gefunden haben. Aber was ist das Selbstverständnis der nichtjüdischen Mitglieder? Sie glauben an den Gott Israels und seinen Messias Jesus. Aber sie sind dadurch nicht jüdisch geworden, sondern Völkermenschen geblieben. Sie sind jedoch auch nicht mehr nur wohlgelittene und gern gesehene Gäste der jüdischen Gemeinde, sondern leben gleichberechtigt mit Jüdinnen und Juden in einer Gruppe zusammen. Die Gottesverehrerinnen und Gottesverehrer bildeten eine bestens präparierte Adressatenschaft für die messianische Verkündigung in der nichtjüdischen Welt. Was das Judentum für sie attraktiv machte, Monotheismus und Ethik, ist hier genauso gegeben. Was sie an der vollen Gleichberechtigung hinderte, fällt hier weg.

Die Gruppe aus Juden und Nichtjuden ist noch nicht der Beginn des Christentums

Die Konstituierung einer Gruppe aus Juden und Nichtjuden ist noch nicht der Beginn des Christentums, sondern nur eine Voraussetzung dafür. Dass hier nicht der Beginn des Christentums liegt, zeigt der weiterhin selbstverständlich gewahrte Zusammenhang mit der Synagoge. Dafür seien drei Beispiele genannt:

  1. Wie schon erwähnt, hat Paulus immer wieder Synagogen aufgesucht. Dementsprechend war er auch synagogalen Strafmaßnahmen unterworfen und hat sie erfahren, nach 2. Kor 11,24 fünfmal die Vierzig weniger einen. Das aber bedeutet, dass sein Wirken auch von den Repräsentanten der jüdischen Gemeinden als ein innersynagogales Problem angesehen wurde.
  2. Nach Apg 19,9f. kommt es durch das Wirken des Paulus zu innersynagogalen Auseinandersetzungen, in deren Folge er sich aus der Synagoge zurückzieht und im „Lehrsaal des Tyrannos“ wirkt. Dieser Rückzug ist nicht die Gründung eines neuen „Vereins“, sondern er bedeutet, dass Paulus es aufgibt, den neuen „Weg“ in der synagogalen Öffentlichkeit zu propagieren. Als Adressaten seines Wirkens im „Lehrsaal des Tyrannos“ erscheinen dieselben wie in der Synagoge, nämlich an erster Stelle Juden und an zweiter „Griechen“, womit Lukas in solchen Zusammenstellungen „Gottesfürchtige“ meint. Paulus betreibt also im „Lehrsaal des Tyrannos“ ein bet midrasch, ein jüdisches „Lehrhaus“.
  3. Nach Apg 18,2 trifft Paulus in Korinth das jüdische Ehepaar Priska und Aquila, das aus dem Pontus stammt, aber kurz vor Paulus von Italien her nach Korinth gekommen war. Als Grund dafür wird angegeben, dass Kaiser Claudius Juden aus Rom ausgewiesen habe. Darüber berichtet auch Sueton: „Die Juden, die sich von Chrestus ständig zu Unruhen anstiften ließen, vertrieb er aus Rom“ (Kaiserviten, Claudius 25,4). Diese Unruhen wurden wohl durch die Verkündigung von Jesus als Messias (christós; lateinisch zu „Chrestus“ geworden) in der Synagoge in Rom verursacht. Lukas erzählt nicht, dass Priska und Aquila erst durch Paulus zum Glauben an Jesus als Messias gekommen wären; sie waren es schon in Rom. Gut zwei Jahre später siedeln sie nach Ephesus über. Dort treffen sie einen alexandrinischen Juden namens Apollos, der ebenfalls messiasgläubig ist, aber eine andere Prägung aufweist. Wo treffen sie ihn? In der Synagoge. Trotz der in Korinth erfahrenen Auseinandersetzungen halten sie sich also in Ephesus wieder ganz selbstverständlich im Bereich der Synagoge auf.

Die messiasgläubigen Gruppen: Judentum zu billigem Eintrittspreis?

Aus der Sicht der jüdischen Mehrheit in den Synagogen der Diaspora musste das Entstehen der messiasgläubigen Gruppen in ihrem Kontext mit Unverständnis, aber auch mit Sorge betrachtet werden. Hören wir, wie ein Mitglied der jüdischen Gemeindeleitung von Ephesus – fiktiv, aber durchaus wahrscheinlich – redet!

Es raubt mir den Schlaf, was in unserer Gemeinde geschieht. Man muss schon Angst haben, dass das messianische Fieber wie eine ansteckenden Krankheit – Gott bewahre! – immer weiter um sich greift. Dieses Reden vom Messias, diese Aufgeregtheit, bleibt den römischen Spitzeln nicht verborgen; das wird die Provinzverwaltung misstrauisch machen und uns nur Ärger bringen. Und überhaupt: Ein von den Römern vor zwanzig Jahren aufgehängter Jesus soll der Messias sein! Einfach lächerlich. Und wenn er’s denn wäre: Wo ist das messianische Reich? Was hat sich denn verändert? Es ist einfach unsinnig und schädlich, was da in unsere Gemeinde hineingetragen wird. Besonders unsere Freunde aus der Völkerwelt, die Gottesverehrer, fallen am ehesten darauf herein. Und wenn man versucht, klare Verhältnisse zu schaffen, gehen sie zu uns auf Distanz und machen mit allen messianisch Angesteckten eigene Versammlungen in ihren Privathäusern. Dafür geben sie dann ihre Spenden aus, die sonst wir bekommen haben. Was ihnen die messianischen Verkündiger anbieten, ist Judentum zu billigem Eintrittspreis. Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. So etwas kann doch dem Heiligen, gesegnet er, nicht gefallen. Wenn sie ganz dazugehören wollen, dann sollen sie auch ganze Sache machen und zu uns konvertieren, wie es sich gehört, mit allen Konsequenzen. Und außerdem: Unsere Leute hören auf, richtige Juden zu sein, wenn sie mit denen in deren Häusern zusammen sind. Sie lassen dann fünfe gerade sein und achten nicht darauf, wo das Zeug herkommt, was es dort zu essen gibt.

Eine solche Sicht teilten auch messiasgläubige Juden im Land Israel, als sie erfuhren, wie es in Antiochien und anderswo zuging. Lukas erzählt in Apg 15,1: „Da kamen einige von Judäa herab (nach Antiochien) und lehrten die Geschwister: Wenn ihr euch nicht nach dem Ritus des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden.“ Diese Menschen vertraten das traditionelle jüdische Konzept im Blick auf das Verhältnis zwischen dem Volk Gottes und den Völkern auch hinsichtlich des von Jesus schon heraufgeführten und bald in Gänze erwarteten messianischen Heils. Vollständige Zugehörigkeit zum Gott Israels und Teilhabe an dem von ihm Israel gewährten Heil gibt es für Nichtjuden nur durch Integration in Israel. Sie müssen also – bei Männern durch Beschneidung und Tauchbad, bei Frauen nur durch das Tauchbad – Proselytinnen und Proselyten werden. Dadurch werden sie vollgültig in das Volk Israel integriert mit allen Rechten und Pflichten. Entsprechend lässt Lukas in seiner Darstellung des Apostelkonvents an dessen Beginn „einige von der Gruppe der Pharisäer, die zum Glauben (an Jesus) gekommen waren“, sagen: „Man muss sie (die zum messianischen Glauben gekommenen Nichtjuden) beschneiden und ihnen gebieten, die Tora des Mose zu halten“ (Apg 15,5). Auch das zeigt einmal mehr: Im Bewusstsein der Beteiligten ging es um innerjüdische Diskussionen.

Der Apostelkonvent in Jerusalem

Diese Auseinandersetzung führt zum sogenannten Apostelkonvent in Jerusalem, auf dem auf Jerusalemer Seite vor allem Jakobus, Simon Petrus und Johannes verhandeln, auf der Seite der antiochenischen Gemeinde Paulus und Barnabas. Paulus nennt im Galaterbrief zwei Ergebnisse: Ihm ist nichts auferlegt worden, und d. h. vom Kontext des Briefes her: Hinzukommende Nichtjuden müssen nicht beschnitten werden. Es wurde also anerkannt, dass durch seine Verkündigung die nichtjüdische Welt zum Gott Israels gerufen wird, ohne sich in das Volk Israel inkorporieren zu lassen. Die Jerusalemer Autoritäten akzeptierten es, dass die hinzukommenden Menschen aus den Völkern vollgültige Mitglieder der christusbezogenen Gemeinschaft waren, ohne Jüdinnen und Juden werden zu müssen. Dass es zu dieser Anerkennung kam, dazu bedurfte es wohl einer überzeugenden theologischen Argumentation. Paulus weist in Gal 2,3 lediglich auf den Griechen Titus hin, den er sozusagen als Demonstrationsobjekt mit nach Jerusalem genommen hatte. Der muss sich dort als geistbegabter Mensch erwiesen haben. Das war ja gemeinsame Grundüberzeugung aller Messiasgläubigen, dass Gott jetzt endzeitlich seinen Geist all denen verleiht, die sich auf die Christusverkündigung einlassen. Und dieser Geist ergriff auch Menschen aus den Völkern, wie es die Erzählung vom Hauptmann Cornelius anschaulich darstellt (Apg 10,45-47), wie es bei der Entstehung der Gemeinde in Antiochien erfahren worden war und wie es Paulus und Barnabas bei ihrem Wirken erlebten. Wenn aber so Gott selbst handelte, durch die Christusverkündigung mit seinem Geist Menschen aus den Völkern begabte und also für sich beschlagnahmte, sie „heiligte“, durfte man ihm dann sozusagen in den Arm fallen und diese Menschen für bedürftig halten, erst noch mittels der Beschneidung durch Integration in Israel zu ihm vollgültig in Beziehung zu treten? Diese Sicht konnte verbunden werden mit biblischen Texten vom endzeitlichen Kommen der Völker zum Zion. Sie sehen für die Völker das Lernen aus der Tora vor, nicht aber die Beschneidung (vgl. Jes 2,2-5; Mi 4,1-5). In Apg 11,17 lässt Lukas Simon Petrus gegenüber seinen kritischen Jerusalemer Kollegen sagen: „Wenn also Gott dieselbe Gabe ihnen, die zum Glauben an Jesus Christus als Herrn gekommen sind, gegeben hat wie auch uns, wer bin dann ich, dass ich Gott hindern dürfte?“ Das hat die Jerusalemer offensichtlich beruhigt.

Nach Gal 2,10 hat sich Paulus verpflichtet, in den neu entstandenen und weiter entstehenden messiasgläubigen Gruppen eine Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem zu sammeln. Dabei ging es nicht um bloße Caritas. Diese Kollekte ist ein materieller Ausdruck für das Hinzukommen der Völker zum Gott Israels. Was biblische Verheißungen für die Endzeit erhoffen, dass die Völker ihre Gaben nach Jerusalem bringen (Jes 60,3.5), das beginnt sich schon jetzt zu vollziehen und gewinnt in dieser Kollekte manifesten Ausdruck.

Mit den Beschlüssen des Apostelkonvents waren jedoch nicht alle Probleme gelöst, wie sich alsbald zeigte. Wie sollte das Zusammenleben in Gemeinden aus Juden und Nichtjuden geregelt werden, unter jüdischen oder nichtjüdischen Bedingungen? Wir haben schon gesehen: In dieser Anfangszeit stellten Jüdinnen und Juden in Antiochien und anderswo das Leben ihrer Identität im Zusammensein mit nichtjüdischen Menschen zurück. Als Simon Petrus nach Antiochien kam, hat er sich zunächst genauso verhalten. Auf eine Intervention des Jakobus hin zieht er sich aber mit allen anderen Juden zurück. Nur Paulus tut das nicht. Es kommt zu einem heftigen Streit, der nicht beigelegt wird. Hören wir ein fiktives, aber alles andere als unwahrscheinliches Gespräch, das Jakobus in Jerusalem mit einem – sagen wir – Jehuda geführt hat und das seine Intervention in Antiochien zur Folge hatte:

Jehuda: Jakob, Jakob, seit Sukkot laufen in Jerusalem Gerüchte um, unsere Leute in Antiochien predigten den Abfall von den Geboten, die uns Mose gegeben hat, und hielten sich auch selbst nicht daran. Hier in Jerusalem und im Land Israel würden wir uns ja an die Gebote halten, aber kaum wären wir aus dem Land, würden wir sie vergessen. Da sähe man ja, wo diese messianische Überspanntheit hinführe. Von Simon Petrus wird sogar behauptet, er habe in Antiochien Schweinefleisch gegessen.

Jakobus:Glaubst du das denn?

Jehuda: Ich weiß nicht. Natürlich ist das alles kräftig übertrieben. Aber leider ist da was dran. Ich habe mich bei denen von unseren Leuten erkundigt, die schon große Reisen gemacht haben. Danach ist es keineswegs so, dass unsere Schwestern und Brüder die Gebote nicht hielten, die Mose uns gegeben hat. Aber wenn sie in den Versammlungen mit unseren Geschwistern aus den Völkern in deren Häusern zusammen sind, dann scheinen sie ihr Judentum zu vergessen. Dann fragen sie nicht danach, was auf den Tisch kommt; dann ist ihnen alles gleich. Wir waren auf der Konferenz damals zu nachgiebig. Wir hätten von den Nichtjuden doch die Beschneidung verlangen sollen. Dann würden klare Verhältnisse herrschen; dann hätte man jüdisch zusammen gelebt, wie es sich gehört. So aber ist eine graue Zone entstanden; und jetzt sieht man, was dabei herauskommt. Wenn man den Völkermenschen den kleinen Finger reicht, nehmen sie die ganze Hand. Und mit unserem Ansehen bei unseren Landsleuten hier in Jerusalem ist es nicht gut bestellt.

Jakobus: Ich glaube nicht, dass du Recht hast. Es war doch überzeugend, was Paulus und Barnabas hier vorgetragen haben. Und erinnere dich an diesen Griechen Titus, mit welch geisterfüllter Kraft er Gott gelobt hat. Nein, hinter die Konferenz können wir nicht zurück. Die Frage ist doch: Wie leben Juden und Völkermenschen zusammen? Warum halten wir uns nicht einfach an die Schrift? Darüber hat doch schon Mose in seinem dritten Buch geschrieben. Dort nennt er, woran sich Fremde, die im Land Israel leben, halten müssen, damit wir mit ihnen zusammenleben können. Warum sollten sich daran nicht auch die halten, die jetzt durch den Messias Jesus aus den Völkern dazukommen? Dann können unsere Schwestern und Brüder auch jüdisch mit ihnen zusammen leben. Also: Sie sollen kein Fleisch essen, das aus den Tempeln der Götzen stammt, kein Blut und auch kein Fleisch von verendeten Tieren.

Jehuda: Jakob, du hast noch etwas vergessen. Anschließend werden doch auch noch Heiraten unter nahen Verwandten verboten und andere geschlechtliche Verfehlungen. Erst danach heißt es rückblickend: „So wahrt denn ihr meine Gesetze und meine Rechtssatzungen und tut nichts von all diesen Gräueln, der Einheimische und der Fremdling, der unter euch weilt.“ Daran sollten sie sich auch halten.

Jakobus: Ja, so soll also gelten – und das wollen wir nach Antiochien schreiben –, dass unseren Geschwistern aus den Völkern „keine weitere Last auferlegt werde als diese notwendigen Dinge, sich nämlich zu enthalten von Götzenopferfleisch, Blut, Erstickten und torawidrigen geschlechtlichen Beziehungen“.

Zusammenleben unter jüdischen oder nichtjüdischen Bedingungen?

Dieses Gespräch ist eine Fiktion. Aber um was es dabei ging, war keine Fiktion. Das Ergebnis dieses Gesprächs – man nennt es das „Aposteldekret“ - steht in Apg 15,28f. Das hat es gegeben; und es ist weithin praktiziert worden. Es ist gut denkbar, dass es den Streit zwischen Paulus und Petrus in Antiochien ausgelöst hat. Die in ihm aufgestellten Forderungen waren keine „Heilsbedingungen“, sondern ein pragmatisches Angebot, das Zusammenleben unter jüdischen – und nicht mehr wie bisher unter nichtjüdischen – Bedingungen zu organisieren. Diese Argumentation war so überzeugend, dass alle Jüdinnen und Juden in Antiochien die bisherige Praxis aufgaben. Bis auf Paulus. Er hat sich entschieden dagegen gewehrt, dass Menschen aus den Völkern Gebote einhalten sollten, die die Besonderheit Israels ausmachen; und er hat die Diskussion um ein pragmatisch zu regelndes Miteinander so ins Prinzipielle gewandt, dass kein Konsens möglich war. Dabei hat er sich jedoch keineswegs prinzipiell gegen das Gesetz, gegen die Tora, ausgesprochen. Nach Röm 8,3f. ist Ziel des Wirkens Gottes in der Sendung Jesu, „dass die Rechtsforderung der Tora unter uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist das Leben führen“. Und wie nach ihm Rabbi Akiva und vor ihm Jesus kann er die Tora im Liebesgebot zusammenfassen.

Fortan – bis mindestens in das zweite Jahrhundert hinein – gab es also hinsichtlich des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in den messiasgläubigen Gemeinschaften zwei Optionen, es entweder unter jüdischen oder nichtjüdischen Bedingungen zu gestalten. In der zweiten Option liegt die entscheidende Voraussetzung für eine sich später ausprägende eigene Identität im Gegenüber und im Gegensatz zum Judentum.

Beginnt das Christentum, als die Messiasgläubigen „Christen“ genannt werden?

In Apg 11,26 vermerkt Lukas: „In Antiochien bezeichnete man die Schüler erstmals als christianoí (Christinnen und Christen).“ Wann das geschah, bleibt unbestimmt. Dass es schon zu der Zeit war, von der Lukas im Kontext erzählt, als Barnabas den Paulus nach Antiochien holte, ist unwahrscheinlich. Deutlich ist, dass diese Bezeichnung von außen gegeben wurde; als Selbstbezeichnung begegnet hier „die Schüler“. Das charakterisiert die Menschen in den messiasgläubigen Gemeinschaften ihrem eigenen Selbstverständnis nach, dass sie Schülerinnen und Schüler Jesu sind, dass sie sozusagen bei Jesus in die Schule gehen.

Die griechische Wortbildung christianoí lässt sich von lateinischen Analogien her erklären. Dort begegnet die Verbindung aus dem Namen eines Mannes mit der Endung -iani außerordentlich häufig und bezeichnet immer die politischen Parteigänger eines Mannes. Die Bezeichnung „Christianer“ („Christen“) wird also von der römischen Provinzialbehörde Antiochiens gebildet worden sein. Im Hintergrund steht das römische Bestreben, alles, was sich vereinsmäßig versammelte, im Griff zu haben – aus der Sorge heraus, dass sich Unruhen und Aufstände entwickeln könnten. Nun beobachtete man Versammlungen von Juden und Gottesverehrern außerhalb der Synagoge in Privathäusern, die sich auf einen „Christus“ bezogen. So nannte man sie „Christianer“. Die Außendefinition ist vor der Innendefinition da.

Diese Fremdbezeichnung begegnet in der Apostelgeschichte nur noch einmal, ebenfalls im Munde eines Außenstehenden und nicht als Selbstbezeichnung (Apg 26,28). Das schließt es aus, dass sie in den Kontexten, in denen Lukas sich aufhielt, schon Selbstbezeichnung war. Sie begegnet darüber hinaus auch im ganzen übrigen Neuen Testament nur noch ein einziges Mal, nämlich im 1. Petr 4,16. Dort lässt sich erkennen, wie aus der Fremdbezeichnung eine Eigenbezeichnung wird. Die Angeschriebenen werden in Vers 15 gemahnt, dass sie sich bei Anklagen nicht als Mörder, Dieb, Verbrecher oder jemand, der unterschlägt oder veruntreut, erweisen sollen. Wer aber – so dann Vers 16 – „als Christ“ angeklagt wird, soll sich dessen nicht schämen, sondern dazu stehen. Aufgrund ihrer von der Allgemeinheit abweichenden Lebensweise, dass sie vieles am allgemeinen Leben nicht mitmachten, was der Mehrheitsgesellschaft selbstverständlich war, wurde den Messiasgläubigen alles erdenklich Böse zugetraut und unterstellt. Im Prozess soll sich aber nichts davon als wahr erweisen, außer dass sie „Christen“ sind. So wird im martyrologischen Kontext eine Fremdbezeichnung zur Eigenbezeichnung. Aber das konstituiert noch nicht den Beginn des Christentums.

Jüdisch leben oder christlich leben?

In Schriften außerhalb des Neuen Testaments aus dem ersten Drittel des 2. Jahrhunderts wird deutlich, wie sich eine eigene christliche Identität dadurch herausbildet, dass bestimmte Riten im ausschließenden Gegensatz zum Judentum herausbildet werden.

Fasten

In der ältesten erhaltenen Kirchenordnung, der „Apostellehre“, wird in 8,1 angeordnet, dass die Fastenpraxis nicht an denselben Tagen geübt werden soll, an denen „die Heuchler“ fasten: „Eure Fasttage sollen nicht mit den Heuchlern gemeinsam sein. Sie fasten nämlich am Montag und Donnerstag; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten.“ Montag und Donnerstag sind die jüdischen Fasttage. Wenn an diesen Tagen nicht gemeinsam mit „den Heuchlern“ gefastet werden darf, dann werden damit Juden pauschal als Heuchler bezeichnet.

Gebet

Gleich anschließend wird in dieser „Apostellehre“ auf eine bewusst unterscheidende Gebetspraxis gedrungen: „Betet auch nicht wie die Heuchler, sondern wie es der Herr in seinem Evangelium geboten hat, so betet!“ (8,2) Dann wird das Vaterunser zitiert und daran die Aufforderung angeschlossen: „Dreimal am Tag betet so!“ (8,3) Juden beten dreimal am Tag das Achtzehngebet. Weniger soll es nicht sein – wie ja auch die Fasttage nicht weniger sein sollten. Aber das Unterscheidende drückt sich nun in einem anderen Gebet aus. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass gegen das jüdische Achtzehngebet nun das ebenfalls durch und durch jüdische Vaterunser das unterscheidend Christliche markieren soll.

Sonntagsfeier

Der Ursprung der Sonntagsfeier liegt im Dunkeln. Als Tag der Auferstehung Jesu hat der erste Wochentag gewiss schon früh Bedeutung gehabt. Das ließ ihn aber keineswegs von selbst in Konkurrenz zum Schabbat treten. Selbst in der „Apostellehre“ wird er nicht ausdrücklich dem Schabbat entgegengesetzt. In 14,1 heißt es lediglich: „An jedem Herrentag versammelt euch, brecht das Brot und sagt Dank, indem ihr dazu eure Übertretungen bekennt, damit euer Opfer rein sei!“ Bei Ignatius von Antiochien allerdings werden im Brief an die Magnesier (9,1) Schabbatfeier und Leben nach dem Herrentag in Gegensatz zueinander gebracht. Das geschieht ebenfalls im Barnabasbrief (15,8f.)

Jeder der hier genannten Punkte mag als nicht sehr gewichtig erscheinen. Aber in ihrer Summe machen sie deutlich, dass es um Handlungen geht, die jüdische Identität sprengten. Als Glieder einer Gemeinschaft, in der das gilt, wären Jüdinnen und Juden gezwungen gewesen, ihre Frömmigkeit betont antijüdisch zu praktizieren. Das aber heißt: Eine solche Gemeinschaft, die ihre Identität gerade in Antithese zum Judentum gewinnt, kann eine nur noch nichtjüdische sein – gleichgültig, ob und wie viele geborene Jüdinnen und Juden es in ihr gibt.

Christliche Identität im Gegensatz zum Judentum

Ignatius von Antiochien, der gerade schon mit seiner Entgegensetzung des „Herrentages“ gegen den Schabbat erwähnt worden war, hat ganz allgemein „gemäß dem Christentum leben“ als Gegensatz zu „jüdisch leben“ verstanden (Magnesier 10,1.3). Das verbindet er schon mit einem Ablösungsmodell vom Judentum zum Christentum: „Das Christentum hat nicht an das Judentum geglaubt, sondern das Judentum an das Christentum, in das jede zum Glauben gekommene Zunge versammelt worden ist“ (ebd.).

Die Aufforderung, das zum Alten – nämlich zum Judentum – Gehörige abzutun, formuliert er ausgerechnet in Anlehnung an den Pessachbrauch vom Fortschaffen des Sauerteigs: „Schafft also den schlechten Sauerteig beiseite, den alt und bitter gewordenen, und wendet euch zu neuem Sauerteig, d. h. Jesus Christus“ (10,2; vgl. Philadelphier 6,1). Ignatius bietet an diesen Stellen das älteste uns überlieferte Vorkommen des Begriffs „Christentum“. Er taucht also da zuerst auf, als die messiasgläubige Gemeinschaft sich antijüdisch definiert und so zur Völkerkirche wird. Dementsprechend begegnet der Begriff „Christentum“ hier auch sofort als Gegenbildung zu „Judentum“.

Beim Verfasser des Barnabasbriefes wird an einer Stelle vielleicht das treibende Motiv der Abgrenzung erkennbar, wenn er nicht will, dass die Christen „wie solche“ erscheinen, die „nachträglich hinzugekommen sind“ (3,6). Erst nachträglich hinzugekommen zu sein, gilt offenbar als Makel.

Die Briefe des Ignatius und der Barnabasbrief lassen erkennen, dass es zu ihrer Zeit noch Messiasgläubige gab – auch messiasgläubige Nichtjuden –, die „jüdisch“ lebten. Das lehnen sie vehement ab. Was sie wünschen, ist noch nicht allgemeine Praxis, aber dahin geht die Tendenz. Es zeigen sich immer noch die Auswirkungen der im 1. Jahrhundert ungelösten Frage, wie sie im Streit in Antiochien zum Ausdruck kam. Aber Paulus, der für das gemeinsame Leben von messiasgläubigen Juden und Nichtjuden in den Gemeinden die Option nichtjüdischen Lebens vertreten hatte, war sich dabei der Bindung an das Judentum bewusst. Für ihn war die Frage: Judentum oder Christentum? außerhalb des Vorstellbaren. Das war jetzt anders. Weshalb? Ich vermute: schlicht aufgrund des Erfolgs des paulinischen Modells. Die Messiasgläubigen aus den Völkern nahmen in den Gemeinden an Zahl mehr und mehr zu und wurden dominant. Gelebte jüdische religiöse Praxis wurde immer weniger erfahren und so als fremd empfunden. Mir scheint, dass die Ausbildung eigener religiöser Riten in Abgrenzung zum Judentum für das Gewinnen einer eigenen Identität wichtiger war als die Christologie. Auch die spielte gewiss eine Rolle, vor allem in der Zeit nach 70, weniger vorher, wie das Beispiel der messiasgläubigen Gruppe in Jerusalem zeigt. In der Zeit nach 70, als das Judentum nach dem Verlust des Tempels sich unter pharisäisch-rabbinischer Führung neu konstituierte und um des Überlebens willen eine breite Integration suchte und sich keine gravierenden Abweichungen leisten konnte, wirkte die exklusive Bindung an den Messias Jesus trennend. So wurden die Messiasgläubigen mehr und mehr als Häretiker betrachtet und behandelt. Aber entscheidender war die vom Judentum abgrenzende Identitätsbildung im Vollzug bestimmter Riten.

Der Geburtsfehler des Christentums

Wenn es nun so wäre – und die beobachtbaren Phänomene sprechen dafür, dass es so ist –, dass „die Geburt des Christentums“ durch den ersten uns erhaltenen Gebrauch des Begriffs „Christentum“ bei Ignatius von Antiochien angezeigt würde, dann hätte das Christentum einen Geburtsfehler – nämlich den, antijüdisch zu sein. Und so hat es sich dann ja auch in der Tat über Jahrhunderte gebärdet. Von daher sieht es so aus, als handle es sich hier um einen Geburtsfehler, der unveränderlich ist, wie ja Geburtsfehler – wenn überhaupt – nur schwierig und selten zu beheben sind.

Dieser Geburtsfehler wäre dann in der Tat nicht zu beheben, wenn die Kirche in der Richtung des Barnabasbriefes fortgefahren wäre, nämlich die jüdische Bibel auch für die Zeit vor Christus radikal vom jüdischen Volk zu lösen oder wenn sie gar wie Markion diese Bibel und den in ihr bezeugten Gott ganz verworfen hätte. Das aber hat sie nicht getan, sondern sie hat diese jüdische Bibel als eigene kanonische Schriftgrundlage behalten. Und sie hat mit dem zweiten Teil ihres Kanons, dem Neuen Testament, eine Sammlung von Schriften, die – wenn nicht vielleicht alle, so doch die meisten – in der Zeit vor der Ablösung vom Judentum und also in seinem Kontext geschrieben sind; sie sind Teil der jüdischen Welt. Die Nur-Völkerkirche wird so von dem her, was sie sich selbst als Kanon vorgegeben weiß, permanent in der Frage gehalten.

Mit ihren Schriftgrundlagen wird die Kirche auf Israel als ihre Wurzel hingewiesen und bleibt darauf bezogen. Nach dem Neuen Testament ist die messiasgläubige Gemeinschaft eine „aus Juden und Menschen aus den Völkern“. Das war sie selbstverständlich auch für Paulus. Seine Option, das Zusammenleben unter nichtjüdischen Bedingungen zu gestalten, hat auf Dauer dazu geführt, dass sie es nicht geblieben ist. Gewinn und Verlust können durch ein Gedankenspiel deutlich gemacht werden: Was wäre gewesen, wenn sich auf Dauer die Option des Aposteldekrets durchgesetzt hätte? Dann wäre die Kirche, was ihr quantitatives Wachstum angeht, nicht so erfolgreich gewesen; und wahrscheinlich säßen wir heute nicht hier. Andererseits wäre in der Gestalt von Jüdinnen und Juden, die ihr Judentum mit der Mehrheit ihres Volkes lebten, jüdisches Leben in dieser Gemeinschaft präsent gewesen. Eine solche Gemeinschaft hätte nie antijüdisch werden, hätte ihre Identität nie im Gegensatz zum Judentum bestimmen können. Antijudaismus ist der Preis des Erfolgs. Wenn es also faktisch kein jüdisches Leben mehr in der Kirche gibt, wie kann dann ihre fundamentale Bezogenheit auf Israel gestaltet und zum Ausdruck gebracht werden? Wer sind wir als Kirche Jesu Christi angesichts Israels?

Die Kirche aus den Völkern hat dieses Problem jahrhundertelang machtförmig überspielt, indem sie sich selbst als „das wahre Israel“ behauptete. Das hatte schlimme Folgen für das weiterhin bestehende Judentum. Nach Auschwitz will die Kirche nicht mehr im antijüdischen Exzess leben. Aber das wird ihr meiner Einsicht nach dauerhaft nur gelingen, wenn sie bereit ist, ihren Defekt, dass sie faktisch nur Kirche aus den Völkern ist, wahrzunehmen und einzugestehen. Sie kann ihre Bezogenheit auf Israel als die Wurzel nicht anders gestalten, als dass sie zum Judentum außerhalb ihrer ein neues Verhältnis sucht und den leiblichen Geschwistern Jesu so begegnet, dass es ihnen nicht mehr zum Schaden gereicht.

Den Platz, den der Verfasser des Barnabasbriefes so emphatisch abwies, gilt es m. E. in aller Bescheidenheit und großer Dankbarkeit anzunehmen: nachträglich Hinzugekommene zu sein. Die Christinnen und Christen der Kirche aus den Völkern können es annehmen und bejahen, zu dem einen Gott, dem Gott Israels, Hinzugekommene zu sein, die sich von Paulus aufgefordert sein lassen: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ (Röm 15,10).

Anmerkung

1 RGG, 4. Aufl., 1,557.

Editorische Anmerkungen

Vortrag gehalten auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin.

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 3, 2003.

Englische Übersetzung