Segen und Segnen nach jüdischem Glaubensverständnis

Das Substantiv Segen heißt in der Hebräischen Bibel berakha. Baruch heißt also der Gesegnete. Die Worte baruch und berakha leiten sich beide von der hebräischen Wurzel Bet-Resch-Kaf ab, die Knie bedeutet. Kniebeuge und Verneigung sind Zeichen des Respekts. Nach hebräischem Verständnis segnet nicht nur Gott den Menschen, sondern auch der Mensch preist (segnet) Gott.

Segen und Segnen nach jüdischem Glaubensverständnis

Rabbiner John D. Rayner, London,

zum 80. Geburtstag gewidmet.

Das Substantiv Segen heißt in der Hebräischen Bibel berakha. Baruch heißt also der Gesegnete. Die Worte baruch und berakha leiten sich beide von der hebräischen Wurzel Bet-Resch-Kaf ab, die Knie bedeutet.1 Kniebeuge und Verneigung sind Zeichen des Respekts. Nach hebräischem Verständnis segnet nicht nur Gott den Menschen, sondern auch der Mensch preist (segnet) Gott, wie es schon die Psalmen zum Ausdruck bringen: So will ich Dich preisen mein Leben lang, bei Deinem Namen erheben meine Hände (Ps 63,5).2

Segen als Gottes Zusage

Das hebräische Wort baruch wird damit zum Attribut, das Gott als die Quelle allen Segens beschreibt.3 Wer einen Segensspruch spricht, drückt Erstaunen und Verwunderung darüber aus, wie gesegnet das Handeln Gottes an uns Menschen ist. Als eine der ersten Verheißungen sagt Gott zu Abraham: „[...] durch dich werden alle Geschlechter des Erdreichs gesegnet werden” (Gen 12,3). Segen und Fluch sprechen nicht nur einen Wunsch aus, sondern wollen bewirken, was sie zusagen. Die Wirkung aber funktioniert nicht selbsttätig wie im Zauber. Sie hängt von Gott ab. Während Zauberei in der Bibel strikt abgelehnt wird, spielt der Segen eine zentrale Rolle. Der Segen sagt dem Menschen von Gott erbetene Dinge zu. Dies ist in der Bibel primär ganz Handfestes wie Nachkommenschaft, Fruchtbarkeit, gute Ernte und allgemeiner Wohlstand. Aber er sagt auch Abstraktes zu wie Frieden und Glück. Übergeordnet spricht aus dem Segen die Teilhabe am göttlichen Heilshandeln. Er ist somit eine sprachliche Ausdrucksform und Konkretisierung der Beziehung zu Gott.

Segnen ist auch mehr als ein guter Wunsch oder die Kraft positiven Denkens. Als Sprachform des Glaubens lebt der Segen aus der Beziehung zu Gott, erhält aus dieser seine Kraft und Realität und findet in Gottes Willen seinen Rahmen und seine Grenzen. Der Segen sagt zu, was der Glaube von Gott annimmt. Vertrauen wider jede Vernunft zeichnet Ijob aus, der auch im Leid Gott nicht verflucht, sondern ihn noch preist: Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn (Ijob 1,21).

Der Segen hat schon in der Bibel einen wichtigen Stellenwert, ja sogar Vermächtnischarakter (Dtn 33). Wenn die Erzväter - besonders vor ihrem Tod - ihre Kinder segnen (vgl. der Segen Isaaks, Gen 27,1-40; der Segen Jakobs, Gen 49,1-27), wird der ausgesprochene Segen sehr gegenständlich verstanden. Er ist ein klares Machtwort. Ein einmal zugesprochener Segen kann nicht zurückgenommen werden, selbst wenn er auf einem Irrtum beruht, wie in Gen 27: Jakob erschleicht sich von Esau den Erstgeburtssegen und behält ihn, auch nachdem Isaak seinen Irrtum bemerkt.4 So erhält der jüngere Bruder Autorität und Verfügungsgewalt über den älteren.5

Der Priestersegen

Der klassische Segenstext ist der aaronitische Priestersegen (Num 6,24-26), der schon im Tempel gesprochen wurde und der auch heute noch von den Priestern (Kohanim) gesprochen wird:

„Der Ewige segne dich und behüte dich.

Der Ewige lasse sein Antlitz dir leuchten und sei dir gnädig.

Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Glückseligkeit.”6

Funde aus Ketef Hinnom, südwestlich der Jerusalemer Altstadt, belegen, daß dieser Segenstext schon im 7. Jh. v. d. Z. - beinahe im heutigen Wortlaut - bekannt war und, in Silberschmuck graviert, getragen wurde. Dies belegen Grabbeigaben in der Form von zwei kleinen Silberamuletten, die den Text des aaronitischen Segens fast in der uns bekannten biblisch überlieferten Form verwenden.7

Seit frühester Zeit endete der Tempelgottesdienst mit dem Priestersegen: Und die Priester und die Leviten standen auf und segneten das Volk und ihre Stimme wurde erhört, und ihr Gebet kam in Gottes heilige Wohnung im Himmel (2 Chr 30,27).

Diese Verwendung des Segens setzt sich im heutigen Synagogengottesdienst fort: im liberalen Gottesdienst vor allem am Gebetsende nach dem Kaddisch und Schlußlied, in orthodoxen Gemeinden vor der letzten Berakha „Sim Schalom” (Gewähre Frieden) im Siebengebet am Schabbatmorgen und beim Mussaf- und Mincha-Gottesdienst sowie beim Ne'ila-Gottesdienst am Versöhnungstag (Ta'anit 26 b). Orthodoxe Gemeinden rufen dazu manchmal die Nachkommen der Priester, die Kohanim, auf. Dieses Privileg fällt im konservativen und liberalen Judentum ebenso weg wie die Benennung der Leviten.

Den gleichen Wortlaut des aaronitischen Segens verwenden auch die Eltern als Segen über ihre Kinder: beim Kiddusch am Freitagabend, am Vorabend des Versöhnungstages und bei der Eheschließung unter der Chuppa (Hochzeitsbaldachin).

Vom Aufstehen bis zum Niederlegen: Hundert Segenssprüche

Die Mischna (um 200 n. d. Z.) beginnt mit einem Traktat über Segen und Segenshandlungen (Berachot). Damit wird die Bedeutung des Segnens gerade in der nachbiblischen jüdischen Tradition unterstrichen. lm frühen und auch im heutigen chassidischen Judentum spielt der Segen durch einen berühmten und verehrten Zaddik oder Rebbe eine Rolle. Segenssprüche (Berachot) sind eine besondere Form des Gebets und werden sehr häufig im Alltag gesprochen. Im Babylonischen Talmud, vor allem in Berachot 60 b, findet sich eine ganze Liste von Segenssprüchen. Die jüdische Tradition fordert jeden Juden und jede Jüdin auf, täglich einhundert Segenssprüche zu sagen. Durch das Rezitieren des Schemone Esre (Achtzehn-Gebet) dreimal am Tag werden wochentags täglich 57 Berachot gesprochen. Die erste Berakha des Schemone Esre lautet:

Gelobt seist Du, Ewiger, [...] der Du beglückende Wohltaten erweisest und Eigner des Alls bist, der Du der Frömmigkeit der Väter gedenkst und einen Erlöser bringst ihren Kindeskindern um Deines Namens willen in Liebe. König, Helfer, Retter und Schild! Gelobt seist Du, Ewiger, Schild Abrahams!8

Und es gibt im Laufe des Tages viele Gelegenheiten, die Zahl Hundert zu erreichen. So stehen bereits am Anfang des Morgengottesdienstes die Birkhot ha-schachar (Morgensegen). Mit diesen Segenssprüchen begannen Juden ihren Tag. Im 9. Jahrhundert bezog sie Rav Amram dann in den formellen Morgengottesdienst ein. Segenssprüche werden auch zu vielen täglich wiederkehrenden Anlässen und Begebenheiten gesprochen. Die jüdische religiöse Existenz ist davon bestimmt, den Alltag mit Segen und Segnen zu durchwirken. Dadurch entsteht eine regelrechte Kultur des Segnens, die über den gottesdienstlichen Rahmen hinausgeht.

Segenssprüche als Anerkennung Gottes

Grundsätzlich unterscheiden wir drei Arten von Segenssprüchen: den Segen vor einem materiellen Genuß (Birkhot ha-na'ah), vor einer Gebotserfüllung (Birkhot ha-mitzwot) sowie zu bestimmten Zeiten und Gegebenheiten (Birkhot hoda'ah). Segenssprüche vor dem Genuß materieller Dinge (z. B. Essen, Trinken, neue Kleidung) preisen Gott als den Schöpfer dessen, was wir zu uns nehmen oder in Gebrauch nehmen wollen. So preisen der Segensspruch über den Wein: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du die Frucht des Weinstocks erschaffen (hast), und über das Brot: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, der Du Brot aus der Erde hervorbringst, Gott als den Geber dieser Gaben. Der Segensspruch über neue Kleidung sagt von Gott, daß er es ist, der die Nackten bekleidet. Durch die Verwendung der Berakha erkennen wir Gott als den Schöpfer aller Dinge an, ohne dessen Erlaubnis wir uns seiner Schöpfung nicht bedienen dürfen. Die Berakha bittet Gott um Erlaubnis, eine Sache zu verwenden, deren Ursprung - wie alles Geschaffene - nicht in uns liegt, sondern in Gott.

Mit Segenssprüchen vor der Erfüllung eines Gebots preisen wir Gott als denjenigen, der uns durch seine Gebote geheiligt hat und der uns geboten hat, die Handlung zu vollziehen, zu der wir gerade ansetzen. Das Aussprechen dieser Berakha gehört wesentlich zur Erfüllung eines Gebotes dazu. Die jüdische Tradition bewertet jene Mitzwa (gute Tat) höher, die aus Pflichtbewußtsein erfüllt worden ist, und nicht bloß aus einem Zufall oder einer Laune heraus. Das Sprechen der Berakha richtet unser Augenmerk damit auf die Tatsache, daß wir mit unseren religiösen Pflichten Gott gegenüber in der Verantwortung stehen. Dabei ist wichtig, daß wir solche Segenssprüche über alle mitzwot sprechen, seien es Taten, die aus der Bibel hergeleitet sind oder durch rabbinische Auslegung später formuliert wurden. Die Interpretation der jüdischen Tradition durch die Rabbinen erfährt also eine ähnlich hohe Wertigkeit und Verpflichtung wie der biblische Text selbst.

Segenssprüche, die zu bestimmten Zeiten oder Anlässen gesprochen werden, z. B. beim Anblick eines Regenbogens (Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du des Bundes gedenkst, treu Deinen Bund hältst und Dein Wort erfüllst), im Angesicht eines Königs oder Staatsoberhauptes, beim Hören guter oder schlechter Nachrichten, oder beim Anblick besonderer Schönheit wird Gott als der letztendliche Ursprung alles Guten und Schlechten im gesamten Universum anerkannt. Berakhot werden also nicht nur über Gutes gesprochen, sondern auch über Schlechtes. In diesem Fall wird Gott als „gerechter Richter” gepriesen. Damit wird nachdrücklich betont, daß - jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit - auch Schlechtes aus gerechtem Grund geschieht.

Viele der heute gebräuchlichen Segenssprüche wurden durch Esra und die Große Versammlung vor ca. 2500 Jahren formuliert. Alle Berakhot benutzen die Wendung Baruch atta adonai elohenu melech ha-olam (Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt). Durch das familiäre „atta" (Du) wird unsere Nähe und unser inniges Verhältnis zu Gott ausgedrückt. lm zweiten Teil wechselt die Berakha zur dritten Person Singular. Wir können das beispielhaft bei den Berakhot ha-mitzwot sehen: „Gepriesen seist Du, Ewiger, [...] der uns durch seine Gebote heiligt und uns gebietet [...]”. So verbindet sich im Segensspruch die Aussage von großer Nähe zu Gott mit dem Ausdruck transzendenter Ferne und Unverfügbarkeit. Dieses Paradox von gleichzeitiger Nähe und unendlicher Ferne durchwirkt das jüdische Verhältnis zu Gott.

Der Segensspruch nach dem Essen: Birkhat ha-mason

Das Dankgebet nach dem Essen,9 eines der wichtigsten Gebete im Judentum, wird nie in der Synagoge gesprochen, sondern nur am häuslichen Altar, dem Eßtisch. Der Tischdank beruht auf Dtn 8,10: Wenn du nun gegessen und dich gesättigt haben wirst, so mußt du dem Ewigen, deinem Gott, danken für das vortreffliche Land, das er dir gegeben hat. Dieses Gebot wird durch den Tischdank erfüllt.10 Der Birkhat ha-mason (Segen über die Speise) wird nach jeder vollgültigen Mahlzeit, d. h. zu der Brot als Grundnahrungsmittel verzehrt wurde, gesprochen. Im Jiddischen wird auch von „benschen” gesprochen, ein Wort, das sich vom Lateinischen „benedicare”, „segnen”, ableitet. Wer von „benschen” spricht, bezieht dies meist auf den Tischsegen. Dieser Tischsegen wird zusätzlich zu den Segensworten vor dem Mahl gesprochen. Er besteht aus vier Segenssprüchen. Drei davon wurden zur Zeit Esras und der Großen Versammlung formuliert, der vierte kam erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels hinzu.

Birkhat ha-san (Segen über die Speise) dankt Gott, daß er der Welt Nahrung schenkt.

Birkhat ha-aretz (Segen über das Land) dankt Gott dafür, daß er uns aus Ägypten geführt, seinen Bund mit uns geschlossen und uns das Land Israel zum Erbteil gegeben hat.

Birkhat Jeruschalajim (Segen über Jerusalem) gedenkt des wiedererrichteten Jerusalem als Thron Gottes und des Kommens des messianischen Zeitalters.

Birkhat ha-tov weha-metiv (Segen über Gutsein und gutes Tun) betont die Güte Gottes als Ursprung alles Guten. Dieser Gedanke ist schon alt, wurde aber erst nach der Zerstörung des Tempels hier eingefügt.

Zu diesen vier Segenssprüchen kommen in der Vollform des Tischdanks Psalmen und Sprüche je nach Anlaß und Festcharakter hinzu.

Segen und Segnen als Akt wiederkehrender Verpflichtung

Die Allgegenwart von Segen und Segnen im Judentum ist ein zentrales Phänomen jüdisch-religiöser Praxis. Juden erfahren so, daß ihr Leben im Angesicht Gottes gesegnet ist, aber auch, daß ihr Handeln aus der Quelle göttlicher Schöpferkraft zu einem Segen für die Welt und für alle Menschen werden soll. „Tikkun ha-Olam” - das Heilwerden der Welt - kann nur gelingen, wenn wir Gottes Heil dadurch in der Welt wirksam werden lassen, daß wir Gottes Segen in die Welt bringen.11 Denn durch jeden Segensspruch wenden wir uns je neu dieser Welt und ihren Geschöpfen zu, setzen sie in Beziehung zu uns und gewinnen neue Perspektiven:

Gepriesen seist Du, Ewiger unser Gott, König der Welt,

der uns nicht geschaffen hat als ihm Fremde.

ANMERKUNGEN
  1. Carl A. Keller, Stichwort „segnen”, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Ernst Jenni/Claus Westermann (Hg.), München/Zürich 1984, 353.
  2. Vgl. Die Psalmen, Übersetzung von Leopold Zunz, Victor Goldschmidt Verlag, Basel 1997.
  3. Kent Harold Richards, Bless/Blessing, David Noel Freedman (cd.), Anchor Bible Dictionary, Vol. 1, New York 1992.
  4. Keller (Anm. I), 365.
  5. John D. Rayner, Esau's Kiss, in: An Understanding ofJudaism, Providence and Oxford 1997, 34.
  6. Nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn, in: Die Tora, hg. von Annette Böckler, Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2002.
  7. Das größere der beiden Silberröllchen mißt 97 x 27 mm und enthält 18 Textzeilen, das kleinere 39 x 11 mm.
  8. Vgl. Sidur Sefat Emet (dt. von Dr. Selig Pinhas Bamberger), Basel 1964, 40 ff.
  9. Annette Böckler/Walter Homolka, Tischdank, Berlin 2002.
  10. Jonathan A. Romain/\Valter Homolka, Progressives Judentum - Leben und Lehre. München 1999, 142. Vgl. FrRu 8(2001) 219-221.
  11. Raphael Hirsh (ed.), Tikkun Olam: Theory and Practice, in: The Reconstructionist - AJournal of Contemporary Jewish Thought & Practice, Vol. 68, No. 1, Wvncote, PA 2003.
  12. <

Editorische Anmerkungen

Dieser Beitrag erschien erstmals in einer kürzeren Form in UNA SANCTA, Kyrios-Verlag (3/2003), 170-174.

3/2004.