Schuld und Sühne. Die katholische Kirche und ihr schwieriger Umgang mit der Schoa

Ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung, bei dem es in erster Linie um Gedächtnis und Erinnerung geht.

Gerhard Bodendorfer

Schuld und Sühne

Die katholische Kirche und

ihr schwieriger Umgang mit der Schoa

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

meine folgenden Ausführungen sollen Gedanken eines christlichen (katholischen) Theologen sein. Sie sollen sowohl die systematisch-theologische als auch moraltheologische Ebene betreffen.

Ich bin Bibliker und Judaist und beschäftige mich vor allem mit der jüdischen Rezeption von biblischen Texten. Ich bedanke mich bei Prof. Werner Wolbert für die moraltheologischen und bei den Professoren Hans-Joachim Sander und Józef Niewiadomski für die dogmatischen Hinweise. Und ich werde Ihnen auch meine eigene Ansicht nicht verhehlen. Vor allem auf dem Hintergrund meiner Arbeit als Präsident des Koordinierungsausschusses für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, bei dem es nicht zuletzt um eine kritische Aufarbeitung christlichen Antijudaismus und um Gedächtniskultur geht. Die folgenden Gedanken verstehen sich als Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung, als Versuch, einem der schwierigsten Themen der Zeit eine Diskussionsgrundlage zu bieten, die sowohl einzelnen wie Institutionen, seien es staatliche wie kirchliche, Impulse geben soll. Dabei geht es in erster Linie um Gedächtnis und Erinnerung.

Gedächtniskultur soll daher auch mein erstes Stichwort sein:

Die grundsätzliche Frage ist: Warum ist Erinnerung an Ereignisse wie die Schoa notwendig, im wahrsten Sinne des Wortes, also die Not wendend? Psychologisch könnte man von der negativen Folge der Verdrängung sprechen. Verdrängte Ereignisse kommen in veränderter Form immer wieder auf den Menschen zu und lassen ihn letztlich kein befriedigend gelingendes Leben führen. Kulturell und theologisch spreche ich von der Notwendigkeit der Erinnerung in zweifacher Weise: Als Erinnerung für die Opfer und als Erinnerung für die Täter.

1. Die Opferperspektive

Erinnerung für die Opfer ist notwendig, um eine positive Bewältigung von Geschehenem möglich zu machen. In der jüdischen Tradition etwa gehört Erinnerung zu den markantesten Bestandteilen der Kultur. Das Gedächtnis speichert die Erinnerung an prägende Ereignisse der Vergangenheit, um sie zu besonderen Anlässen gegenwärtig zu setzen. Durch diese Vergegenwärtigung von Vergangenheit wird ein Kontinuum geschaffen, aus dem erst die Entstehung einer spezifischen Identität möglich wird. Identität, also das unverwechselbare Zeichen einer Gruppe, Gesellschaft, Kultur oder Religion gibt es nur dort, wo über die Zeit hinweg eine kollektive Erinnerung möglich wird, aus der alle leben und gegenüber der sich alle verpflichten.

Erinnerung und Gedächtnis geschehen zu besonderen Anlässen in einem rituellen Rahmen, am besten in Festen und Feiern, aber auch zu speziellen Gedenktagen.

Wenn nun ein so einschneidendes Ereignis wie die Schoa nicht in dieses kulturelle Gedächtnis vordringt, kann es kein Bestandteil der Identitätsbildung werden. Zugleich wirkt es aber gerade durch seine Verdrängung umso heftiger auf und gerade gegen diese nur scheinbar von ihr unberührte Identität ein. Daher ist es zurecht als notwendig erachtet worden, die Schoa ganz bewusst in das Ringen um Identitätsbildung einzubauen und zu einem „lebendigen" Bestandteil der jüdischen Tradition zu machen. Dies geschieht, indem man der Schoa einen eigenen Gedenktag, den sog. Jom ha-Schoa widmet, aber auch in individuell unterschiedlichen Versuchen verschiedener Gemeinden, die Schoa in die Liturgie von Festen wie dem Pesach zu integrieren. Ich erinnere an die von mir immer wieder vorgebrachte Forderung des Schoa-Theologen Irving Greenberg, an Pesach ein fünftes Kind einzuführen, das zu den berühmten Fragen wie „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?" schweigend hinzutritt und die Frage nach dem Warum? hinterlässt. Das Schweigen ist hier nicht Hilflosigkeit, sondern Medium der Erinnerung, das von den Juden in dieser Nacht gefordert ist in guten wie schlechten Zeiten. Es ist Ausdruck der Anerkennung der Menschen im Widerstand, in den Gettos, in den Lagern und Hoffnung auf die endgültige Erlösung, enthält daher auch eine Art messianische Perspektive.

2. Die Täterperspektive

Schwieriger noch als Erinnerung für Opfer scheint die Erinnerung für die Täter – und auch Mitläufer1 – zu sein. Denn mit ihr ist das Phänomen Schuld und Schuldbewältigung verbunden. Gerade die Täter müssen aber erkennen, dass sie um die Betrachtung dieses komplexen Bereiches nicht herumkommen, wenn sie ein neues und gelingendes Leben aufbauen wollen und Versöhnung mit den Opfern suchen.

Freilich, dieses Bestreben gilt nicht für alle. Viele Täter haben eine perfekte Strategie entwickelt, ihre Schuldverstrickung nicht nur zu verdrängen, sondern in eine Form des Opferdaseins umzuinterpretieren. Das ist psychologisch verständlich, jedoch äußerst kurzsichtig. In diesem Lager findet natürlich die politische Tendenz, die Opfer der Schoa mit den Kriegsgefangenen in Russland und den Deportierten aus Tschechien zu verknüpfen, großen Anklang. Diese Verknüpfung verschleiert aber das eigentliche Problem, sich nämlich mit der eigenen Beteiligung an Schuld und Verbrechen auseinander zu setzen.

Hier gilt es nun, besonders vorsichtig zu sein, um die richtige Wortwahl zu treffen und nicht verschiedene Tatbestände zu verwischen. Ich bleibe daher in diesem Punkt bei der konkreten Schuld von Beteiligten.

Die Gruppe dieser Personen wird naturgemäß immer kleiner. Das Beispiel des Spiegelgrundarztes Gross zeigt, dass es fast schon zu spät ist, um hier noch Vergangenheitsbewältigung in einer Weise zu schaffen, die Opfer wie Tätern ermöglicht, sich umfassend der Geschichte zu stellen.

Grundsätzlich aber gilt meines Erachtens folgende Vorgangsweise als sinnvoll, um einen Prozess in Gang zu setzen, der dem Begriff Vergangenheitsbewältigung gerecht wird.

1. Der Täter muss seine Schuld erkennen und eingestehen.

2. Das Eingestehen sollte in einem öffentlichen Raum als eine Art Bekenntnis geschehen.

3. Wenn es möglich ist, sich den Opfern noch zu stellen, ist dieser Akt des Zugehens zu fördern, wenngleich darauf geachtet werden muss, dass das Opfer die Letztentscheidung dafür trägt, ob es sich mit dem Täter konfrontieren will.

4. Dem Schuldeingeständnis sollte ein Akt der Umkehr folgen, der nachprüfbar ist. Der Begriff Wiedergutmachung ist missverständlich und irreführend. Leider fehlt im Deutschen ein geeigneter Ausdruck dafür, der eine bewusste und sichtbare Umkehr als Tat bezeichnen könnte. Jedenfalls sollte sie direkt den Opfern oder deren Nachkommen zugute kommen.

5. Versöhnung kann es geben, wenn Opfer und Täter übereinkommen und das Opfer dem Täter verzeiht. Auf diese Weise kann es auch zu einem späten Zugehen und Überwinden der Gegensätze kommen. Allerdings sind die vorherigen Schritte dazu unerlässlich.2

Dies entspricht dem biblischen Verständnis von Schuld und Umkehr. Vergehen werden durch Sühneleistungen sozusagen repariert. Sie müssen aber dem Verbrechen angemessen sein. Kapitalverbrechen haben in dieser Logik die Todesstrafe gefordert. Von ihnen konnte man sich auch als Reicher nicht „loskaufen".

Man kann biblisches Vorgehen nicht eins zu eins in die moderne Zeit übertragen. Dies betrifft etwa die Frage der Todesstrafe, zumal sie auch im Denken der jüdischen und christlichen Tradition mehr und mehr hinterfragt wurde.

Dennoch kann und soll man sich aus dem biblischen Weltbild wichtige Impulse holen. Man kann zeigen, dass die Bibel den Umgang mit Strafe immer am Vergehen orientierte und letztlich einen Ausgleich zwischen Tat und Sühne herbeiführen wollte. Der Schuldige bekam auf diese Weise die Möglichkeit, ein integriertes Mitglied der Gesellschaft zu bleiben, wenn er die Schuld beglichen und zurückgezahlt hatte. Kleinere und möglicherweise sogar unbewusste Vergehen konnten rituell durch einen Reinigungsritus wie den des Versöhnungstages gesühnt werden. Zwischenmenschliche Vergehen sühnte nur der Ausgleich mit dem Opfer. Dieser Ausgleich ist m.E. auch heute unverzichtbar. Beim Kapitalverbrechen ist zu fragen, ob die Strafe, also der Gefängnisaufenthalt, nur dazu dient, den Verbrecher von der Gesellschaft fern zu halten oder auch eine Funktion bekommt, die den Nachkommen der Opfer ein Gefühl der Gerechtigkeit vermittelt und dem Täter die Möglichkeit eröffnet, sich kritisch mit seiner eigenen Tat auseinander zu setzen. Letztlich muss daraus auch die Chance erwachsen, ihn geläutert wieder erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Ein eigenes Kapitel, auf das ich hier allerdings nicht eingehe, wäre die intensive Auseinandersetzung mit den psychischen Störungen und die notwendigen Maßnahmen, im Strafvollzug verstärkt Psychotherapie einzusetzen und nicht einzusparen.

3. Die Nachfolgegeneration der Täter

Besonders aufmerksam muss man sich der Opferperspektive in Bezug auf die Nachfolgegenerationen nähern. Die Bibel hält hierzu eine bedeutsame Weisheit parat. In Ex 34,6f. heißt es: „Der Herr ging an ihm (Mose) vorüber und rief: JHWH ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation."

Vier Generationen, so meinten die Verfasser des Bibeltextes, trägt eine Gemeinschaft an den Verfehlungen. Im Blick ist eine Großfamilie, die gemeinsam lebt und gemeinsam an den Folgen trägt. Von einer Kollektivschuld kann nicht unmittelbar die Rede sein, wohl aber von der Erfahrung, dass Kinder und Kindeskinder betroffen sind, an den Folgen zu leiden haben und dadurch auch mit zur Verantwortung gezogen werden. Ihr Name, ihr guter Ruf ist befleckt, ihre Zukunftsaussichten beeinträchtigt.

Ganz anders sieht die Sache dann aus, wenn die vier Generationen als unabhängig voneinander gedacht werden. Wenn wir streng von Verantwortung des Einzelnen für seine und nur seine Tat sprechen, erscheinen uns die Auswirkungen auf vier Generationen als problematisch, ja kaum zumutbar. Tatsächlich würde dies bedeuten, dass noch unsere Kinder an den Folgen der Schoa zu tragen haben. Bei dem Tempo der Aufarbeitung dürfte man da auch nicht falsch liegen. Wie kann man aber ohne der Annahme einer Kollektivschuld überhaupt persönlich nicht Schuldige in den Kreislauf von Schuldübernahme und Wiedergutmachung hineinziehen?

Streng genommen geht es wohl nur unter der Voraussetzung, dass man zugesteht, dass die Dynamik des Verbrechens über die Verantwortung einzelner hinausgeht. Ich rede nicht von einer Kollektivschuld, aber ich postuliere die These, dass ein System wie der NS-Staat nicht auf der Basis einzelner weniger „Superbösewichte" existierte, sondern eine tragende Grundlage in der Bevölkerung fand. Deutschland und Österreich bildeten in dieser Zeit eine Gemeinschaft, die sich einer Ideologie unterwarf, die nicht nur und einzig auf Unterdrückung und Zwang basierte. Vielmehr können für einen großen Teil der Bevölkerung Überzeugungen wie Antisemitismus oder zumindest starke Distanz zum Judentum als allgemeiner Konsens gelten. Die Nachfolgestaaten haben sich nach dem Zusammenbruch des Regimes sehr schnell als demokratische Gemeinschaften konstituiert, denen kein Hang zum Faschismus nachgesagt werden kann. Anders als Österreich hat dabei Deutschland seine Rolle als verantwortliche Tätergemeinschaft übernommen und durch Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachungsleistungen auch die Aufarbeitung von Schuld offensiv betrieben.

In Österreich ist dieser Vorgang aufgrund der in der Moskauer Deklaration festgeschriebenen Überzeugung, selbst das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein, bis vor kurzem ausgeblieben. Immerhin hat es – und hier gilt es, Österreich in seinen Anstrengungen ehrlich zu beurteilen – zwischen 1946 und 1987 Zahlungen von Wiedergutmachung in nicht geringer Höhe (etwa 7 Milliarden ATS) gegeben.3 Wirkliche Aufarbeitung ist aber erst in den letzten Jahren in Gang gekommen. Die Diskussion um Raubkunst, um Entschädigung von Zwangsarbeitern und der Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus kommt um Jahre zu spät und belastet daher eine Generation, die sich aus tiefster Seele unschuldig fühlt. Sie trägt aber an den Versäumnissen der Vergangenheit. Ich spreche in diesem Zusammenhang noch einmal nicht von kollektiver Schuld über die Generationen, wohl aber von gemeinsamer Verantwortung. Ich zitiere hierzu die Erklärung des Bundeskanzlers Schüssel am 27. April zur Feier der Wiedererrichtung der Republik Österreich im Ministerrat gelten:

„... Mit dem Eintritt in ein neues Jahrhundert müssen wir besonders darauf achten, dass Inhalt und Auftrag, die in diesen historischen Daten liegen, nicht in ein Meer der Geschichte eingehen. Die Erinnerung muss vielmehr lebendig in unser Bewusstsein heraufreichen. Auch für kommende Generationen haben wir die Verpflichtung, sie als Teil unseres österreichischen Selbstverständnisses wach zu halten. Mir ist deshalb ein gemeinsames Gedenken, ein ungeteiltes, weil unteilbares Gedenken ein tiefes Anliegen. Unteilbar ist auch der Leitgedanke, den ich in diesem Gedenken voranstellen möchte – dieser Leitgedanke ist die Verantwortung. Für die Gemeinschaft, besonders aber für die Politiker heißt das: Verantwortung für das Erbe unserer Vergangenheit übernehmen. Verantwortung aber auch dafür, dass in unserer Gegenwart bei jeder Handlung die Zukunft mitbedacht wird. Es heißt, die Verantwortung für die Folgen aus Schuld und Mitschuld anzunehmen, welche die Gemeinschaft, zu der wir gehören, in den Jahren der dunklen Vergangenheit auf sich geladen hat. Aber auch die Verantwortung dafür, Gleichgültigkeit und Lauheit zu überwinden, wenn Schwache, Benachteiligte oder Hilfsbedürftige unsere Solidarität, unsere Mitmenschlichkeit brauchen; und es heißt, Verantwortung für unseren Staat zu tragen, aber auch für das gemeinsame Europa des Friedens, dem wir uns als souveränes Mitglied verpflichten müssen."

Die Katholische Kirche

Lassen Sie mich nun zur katholischen Kirche und damit zu einem neuen Punkt kommen, der aber eng mit dem bisherigen verzahnt ist. So wie der Staat als eine Gemeinschaft gelten kann, tut es auch die Kirche. Sie werden in der Folge erkennen, dass der Zugang zum Problem in der Kirche intensive Parallelen zu dem der Republik hat. Dieser Vergleich ist durchaus bewusst. Die Reflexion über die Kirche und ihren Umgang mit Schuld kann daher auch nicht religiösen Menschen in der Folge bei der Analyse der Geschichtsbewältigung Impulse geben.

Die Kirche versteht sich als überzeitliche Gemeinschaft und hat immer wieder besonderen Wert auf die Kontinuität gelegt. Dies gilt in Glaubens- wie Rechtsfragen. Die Kirche gilt als Trägerin der wahrhaften Auslegung des Glaubens, die diesen unverfälscht über die Jahrhunderte bewahrt. Dies geschieht durch systematische Durchdringung des Glaubens und durch Festlegung von Wegmarken, den sog. Dogmen. Wenn sich die Kirche allenthalben als Kontinuum darstellt, ist natürlich naheliegend, dass sie es auch dort tun muss, wo es um das Eingeständnis von Fehlern und Versäumnissen im Laufe der Kirchengeschichte geht. Allerdings stellten sich diesem Unterfangen bislang nicht zu unterschätzende Hindernisse entgegen. In Bezug auf die Schoa kam es erst 1998 zu einer offiziellen Stellungnahme des Vatikan.

1. „Wir gedenken“

Unter dem Titel „Wir gedenken. Eine Reflexion über die Schoa" stellte sich die katholische Kirche der brennenden Frage nach der Mitverantwortung für die Gräuel der Massenvernichtung am europäischen Judentum. Das Dokument fand international Zustimmung und Kritik. Ich habe meine kritische Stellungnahme in dieser Zeitschrift und in „Bibel und Liturgie" abgegeben 4. Ich betone allerdings ausdrücklich, dass es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass die Kirche sich mit der Schoa auseinander setzte und dabei auch den Antijudaismus in der Kirchengeschichte als vorbereitenden Faktor eingestand. Dennoch enttäuschte das vorhandene Dokument die vielleicht zu hochgesteckten Erwartungen. Ich möchte hier nur sehr stichwortartig die Probleme anreißen:

1. Es unterscheidet zu statisch zwischen Antijudaismus und Antisemitismus und schiebt damit die Verantwortung für die Vernichtung des Judentums zu sehr dem sog. Neuheidentum zu.5

2. Es widersteht leider nicht der Versuchung, die Rolle wichtiger Kirchenvertreter während dieser Zeit apologetisch zu verteidigen anstatt sich kritisch mit ihrer Widersprüchlichkeit auseinander zu setzen.6

3. Ein Problem entsteht aus dem Kirchenbild, das von der Vorstellung geprägt ist, dass die Kirche als Institution unfehlbar, weil mit dem mystischen Leib Christi identisch, ist.7

Die Kirche kann als mystischer Leib Christi nicht sündigen. Einzelne „Söhne und Töchter" dieser Kirche können es, unbeschadet ihrer Funktion. Eine Öffentlichkeit, die in diesem theologischen Gedankengut nicht beheimatet ist bzw. eine nichtchristliche Leserschaft, erhält den Eindruck, dass die Kirche als Institution nicht zu einer Schulderklärung bereit ist, wenn sie von den „Söhnen und Töchtern", nicht aber von „der Kirche“ als Sündern spricht.

Dieses Kirchenbild ist allerdings geeignet, die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Teile der Kirche bei gleichzeitiger Betonung ihrer Einheit auszudrücken. Der Papst hat in seiner Verkündigungsbulle Incarnationis mysterium am 20. November 1998 verlauten lassen: „Man muss jedoch eingestehen, dass die Geschichte auch viele Ereignisse verzeichnet, die ein Antizeugnis gegenüber dem Christentum darstellen. Wegen jenes Bande, das uns im mystischen Leib Christi miteinander vereint, tragen wir alle die Last der Irrtümer und der Schuld derer, die uns vorangegangen sind, auch wenn wir keine persönliche Verantwortung dafür haben und nicht den Richterspruch Gottes, der allein die Herzen kennt, ersetzen wollen. Aber auch wir haben als Söhne und Töchter der Kirche gesündigt, und es wurde der Braut Christi verwehrt, in ihrer ganzen Schönheit zu erstrahlen ..."

Ein erneuertes Kirchenbild, das keine Trennung von Kirche als Abstraktum und sog. „Söhnen und Töchtern" notwendig macht, schuf das Zweite Vatikanische Konzil in seinen Teilen Gaudium et Spes und Lumen Gentium. In diesen Abschnitten führte die Kirche die Vorstellung vom Volk Gottes und der stets der Erneuerung bedürftigen Kirche (ecclesia semper reformanda) ein. Ein Volk, das beständig auf dem Weg ist, konnte natürlich auch sündigen und bedurfte der dauernden Reform und Reinigung (ecclesia semper purificanda). Dieses Volk sieht sich auch in einer Kontinuität, die bis in die Anfänge der Geschichte des Christentums zurückreichen. Der Begriff des Volkes sollte, dies ist jedoch eine hier nur am Rande zu behandelnde Frage, zudem die Beziehung zu Israel reflektieren, das Gottes erwähltes Volk schon vor den Christen war und nach und mit ihnen ist.

Das Problem der sog. Kollektivschuld der Kirche kann im Hinblick auf den Volksbegriff gelöst werden. Dieses Volk wird von Gott nämlich im genitivus subjectivus und objectivus markiert. Was heißt das? Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die aus Menschen besteht, die je für sich einen Eigenstand vor Gott haben und deshalb von seinem Namen her auch anzusprechen sind. Insofern ist Kirche nicht nur eine kollektive Größe. Jeder einzelne Mensch ist ein von Gott beim Namen Gerufener, eine einzigartige Person. Die Kirche ist daher eine Größe, in der man nicht die Vielen und das Eine gegeneinander ausspielen kann. Beim Volksbegriff geht es auch nicht um einen ethnischen Faktor und gerade nicht darum, dass dieses Volk ein Volk gegen andere Völker ist, sondern vielmehr um den Gedanken, dass das genannte Volk mit Gott und durch Gott bezeichnet wird. Es konstituiert sich also gerade nicht ethnisch und in Abhebung zu anderen, sondern im Bezug auf den einen Gott. Dieses Volk ist in seiner Tradition geprägt von Menschen, die als Christen gewirkt und gearbeitet haben, von Männern und Frauen, die Kirche geprägt und gestaltet haben, von Überlieferungen und Lehrmeinungen, die in der Kirche transportiert und weitergegeben wurden. Aus ihnen entsteht die vorhandene christliche Identität. Diese Geschichte ist aber zu einem nicht kleinen Teil geprägt von Schuld und Vergehen, von Gewalt, die sich über die Jahrhunderte auf dieses Volk auswirkte. Die Ursachen dieser Gewalt lagen nicht nur in den Taten Einzelner begründet, sondern – was viel schwerer wiegt – in den Überzeugungen und Lehrmeinungen der Kirche als Institution, in den hochverehrten Schriften der sog. Kirchenlehrer usw.

Die einzelnen Menschen, die nun dieses Volk heute ausmachen, haben daher ein Recht darauf, dass die Schuld der Menschen, in deren Tradition sie stehen und von deren Überlieferung ihre kirchliche Existenz geprägt wird, sich nicht auch auf ihr Gottesverhältnis als Gewalt weiter auswirkt. Die Gewalt, von der wir also weiter bestimmt sind, muss unterbrochen werden.

2. Das offizielle Schuldbekenntnis von 2000

Darum ist das offizielle Schuldbekenntnis des Papstes vom 12. März dieses Jahres so bedeutungsvoll. In ihm heißt es (ich zitiere den Abschnitt zum Judentum):

„Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns vertrauensvoll zu Gott unserem Vater rufen, der barmherzig und langmütig ist, reich an Erbarmen, Liebe und Treue. Er möge die Reue seines Volkes annehmen, das in Demut seine Schuld bekennt, und ihm seine Barmherzigkeit schenken."


IV.) Das Schuldbekenntnis im Verhältnis zu Israel äußert Kardinal Edward Idris Cassidy: „Lass die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden. Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Seligpreisungen begangen haben, und so ihr Herz reinigen."

Darauf Papst Johannes Paul II.: „Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn."

Vor dem Kruzifix wird ein Licht entzündet.

Dieses Schuldbekenntnis ist positiv. Es zeigt den richtigen Weg auf. Die Kirche erkennt die Schuldverstrickung über die Jahrhunderte an und bekennt diese. Damit tritt sie aus der Spirale der Gewalt, an der sie selber gedreht hat, offiziell heraus. Denn ohne eine Anerkennung der Schuld lastet sie nicht nur weiter, sondern hat mehr noch weiterhin bösartige Auswirkungen. Und diese Anerkennung kann und darf nicht nur still und je für sich geschehen, sondern bedarf wie auch bei der Schuld eines einzelnen eines realen, für andere fassbaren öffentlichen Aktes. Ohne dass im wörtlichen Sinn Schuld benannt wird, ist ihre Gewalt für die, die in der Tätertradition stehen, nicht zu stoppen. Man muss sich aus der Tätertradition befreien und den bleibenden Wert der Opfertradition anerkennen – und dies eben auch sagen. Das ist mit diesem Schuldbekenntnis zumindest als erstem Schritt geschehen. Und genau das hat die Kirche nötig.

Ohne die anderen, die in der Tradition der Opfer stehen – konkret hier die Jüdinnen und Juden – gäbe es dieses Schuldbekenntnis nicht. Dann aber wären die Menschen, die heute das Volk Gottes sind, weiter von der Schuld der früheren Christinnen und Christen geknechtet. Erst mit diesem Akt der Anerkennung der Opfertradition und ihrem konstitutiven Wert, eine dem Namen Gottes angemessenen Darstellung des Glaubens zu entwickeln, besteht die Chance, dass die sich durch die Geschichte fortsetzende Gewalt der früheren Schuld gestoppt wird. Wenn daher die Kirche ihrer eigenen Geschichte gedenkt und ihre eigene Schuld bekennt, verpflichtet sie sich gleichzeitig zur lebendigen Auseinandersetzung mit dem Judentum in seiner Geschichte, zur Anerkennung seiner vielgestaltigen Wege in den religiösen und kulturellen Entwicklungen und zur intensiven Beschäftigung mit ihm heute.

Ohne dieses Schuldbekenntnis wäre auch theologisch gesehen die heilsgeschichtliche Bedeutung von Jesu Tod und Auferstehung Christi nur defizitär darstellbar. Man hätte dann ein Heiliges Jahr, das in keiner Weise gegen einen Triumphalismus der 2000 Jahre bewahrt werden kann. So jedoch zeigt sich, dass die Heilsbedeutung Christi ein Akt der Ohnmacht ist und deshalb das Potenzial hat, jenseits des real-kirchlich verfassten Volkes Gottes eine Bedeutung zu haben.

Dieses Schuldbekenntnis darf man allerdings nicht als Akt der Verzeihung in die Vergangenheit interpretieren. Denn das wäre so etwas wie Ablasshandel. Es geht dabei zuerst und in erster Linie um die Umkehr hier und heute. Dieser Umkehr müsste nun entsprechend dem von mir angerissenen Modell ein nachvollziehbarer Akt der Erneuerung folgen. Das heißt, die Kirche müsste jetzt alles dazu tun, die Fehler der Vergangenheit nicht nur nicht mehr zu begehen, sondern an ihre Stelle ein geläutertes, wirklich erneuertes Verhältnis zum Judentum zu stellen. Dazu bedarf es des Willens der Kirchenleitung, aber auch der Unterstützung von Organisationen wie den christlich-jüdischen Komitees, die diesem Verständnis an der Basis zum Durchbruch verhelfen.

Und es braucht die theologische Besinnung: In einer Presseerklärung habe ich noch vor Ostern geschrieben, dass Johannes Paul II. immer wieder auf die Notwendigkeit christlich-jüdischer Verständigung hingewiesen hat, für ihn persönlich wie für die gesamte Kirche sei dies sein Herzensanliegen. Bei seinem letzten Besuch in Wien zählte der Papst sie gar zu den „Grundpflichten der Christen". Es ist eine noch offene Herausforderung, das Richtung weisende Gebet des Papstes zu konkretisieren und in Theologie und Verkündigung heute umzusetzen. Ich verwies dabei auf die in der Vergebungsbitte für Israel gebrauchten Anreden „Volk des Bundes und der Seligpreisungen." Noch immer werden vielerorts gerade diese Attribute ausschließlich auf das Christentum bezogen und gegen das Judentum gedeutet: Der „Neue Bund" hätte den „Alten" abgelöst, die Seligpreisungen stellten eine Überwindung des Judentums dar. Hier braucht es den Mut, aus dieser Neubewertung auch die theologischen Konsequenzen zu ziehen und in der Praxis der Verkündigung umzusetzen. Auch nach dem Willen des Papstes solle ja das Schuldbekenntnis nicht leere Formel bleiben, sondern Zeichen auf dem Weg zur Umkehr hin „zu echter Brüderlichkeit" mit dem Judentum. Es sei ein Akt der Reinigung der Kirche, die stets den Weg der Buße und Erneuerung zu gehen habe, wie es in Lumen Gentium 8 heißt.

Die Vergebungsbitte darf nicht als Versuch missverstanden werden, in einem religiösen Akt bei Gott um Verzeihung und das Auslöschen von Sünde für Menschen zu bitten, die längst verstorben sind. Der Papst bekennt vielmehr vor Gott Schuld sowie er in anderen Zusammenhängen vor Gott den Glauben bekennt. Der Papst kann mit diesem Schuldbekenntnis auch nicht die Schuld eines konkreten Vorgängers oder einer Institution wie der Inquisition tilgen oder diese gar reinwaschen. Aber er kann eben den über die Zeit wirkenden Zusammenhang von Gewalt unterbrechen. Ob er ihm ein Ende setzt, wird die Zukunft weisen.

Kritische Stimmen haben auf den Umstand verwiesen, dass der Papst die Schoa in dem Bekenntnis nicht erwähnt. Das Dokument „Erinnern und Versöhnen", das von der vatikanischen Theologenkommission zu den Verfehlungen der Kirche in der Vergangenheit herausgegeben wurde, enthielt im Dezember 1999 mehrere Rückverweise auf das Schoa-Dokument von 1998. Dieses war bereits beschrieben worden.

Allerdings ist zum Abschluss dieser Betrachtungen über das Verhältnis der Kirche zur Schoa auch noch auf den vielbeachteten Besuch des Papstes in Yad Va-Schem in Jerusalem zu verweisen. Am 23. März 2000 sprach der Papst vor einer bewegten israelischen Öffentlichkeit an dieser Schoa-Gedächtnisstätte auch über die tiefempfundene Trauer der katholischen Kirche über den Hass, die Verfolgung und die Ausbrüche des Antisemitismus der Christen gegenüber Juden. Und er versicherte, dass die Kirche den Rassismus in jeder Form ablehne. („As Bishop of Rome and Successor of the Apostle Peter, I assure the Jewish people that the Catholic Church, motivated by the Gospel law of truth and love and by no political considerations, is deeply saddened by the hatred, acts of persecution and displays of anti-Semitism directed against the Jews by Christians at any time and in any place. The Church rejects racism in any form as a denial of the image of the Creator inherent in every human being cf. Gen 1:26").

Vielleicht erscheinen uns solche Worte heute als nur zu selbstverständlich. Aber sie sind es nicht. Die Katholische Kirche hat bis zu diesem Papst gebraucht, sich glaubhaft der Folgen des Antijudaismus zu besinnen, die eigene Schuld zu bekennen und eine zukunftsträchtige Erneuerung in ihrem Verhältnis gegenüber dem Judentum einzuleiten.

3. Keine Dämonisierungen

Lassen Sie mich damit diesen Punkt abschließen. Es gibt dazu viel zu diskutieren und nachzufragen. Auch die jüdischen Reaktionen wären gerade dort von Interesse, wo sie sich gegen jegliche Kollektivschuld wehren und den Papst verdächtigen, mit dem Schuldbekenntnis eine solche implizit vorauszusetzen.8

Erlauben Sie mir jedoch noch ein paar kurze Stichworte zum Problem der Dämonisierung des Bösen.

Die Kirche hat die Vorstellung von einem absoluten Bösen im Hinblick auf die Schoa stets abgelehnt und dies zurecht. Weder Hitler noch irgendwelche andere Einzelpersonen können und dürfen dämonisiert werden. Die Schoa war, furchtbar und grausam bis zum Letzten, doch eine mit politischem Kalkül durchgedachte und durchgeführte Aktion von vernunftbegabten menschlichen Wesen, die sich des öfteren sogar darüber ausgelassen haben, welche Bedeutung es habe, angesichts dieser Taten „anständig" zu bleiben (vgl. Himmler). Dämonisierungen und Mythisierungen verstellen den Blick auf die Zusammenhänge, auf die systematische Vernichtungsmaschinerie und die dahinter liegenden ideologischen Grundlagen. Wer sich gegen den Antisemitismus dauerhaft einsetzen will, kann und darf die Schoa nicht als geradezu „außerweltliches" Geschehen abkapseln. Vielmehr gilt es, sie und ihre Betreiber als letzte und keineswegs unlogische Konsequenz einer Weltsicht zu verstehen, die analysiert und verstanden werden muss, um sie dauerhaft zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob Hitler die Vernichtung des Judentums von Anfang an geplant hatte oder sie erst im Zuge der Verluste im Osten Zug um Zug umsetzte. Die Grundidee einer „Ausmerzung" des Jüdischen aus dem „Volkskörper" entsprang einer Ideologie, die sich einer neuen selbstgesetzten Ordnung verschrieb.

In eine ähnliche Gefahr schlittert eine historische Betrachtung der Ereignisse, in der die einzelnen Täter und Opfer ganz hinter der „Mordmaschinerie eines anonymen Apparates"9 verschwinden. Während die Opfer vor allem nach dem „Warum" fragen, stellt diese Perspektive das „Wie" in den Vordergrund und immunisiert die Gesellschaft, indem sie die Verantwortung auf einen Apparat abschiebt.

Die Nachfolgegenerationen der Täter müssen sich aber auch dem „Warum“ stellen.

Der polnische Autor Zygmunt Baumann beschreibt in seinem hervorragenden Buch „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust (Hamburg 1992)" den Genozid als Ergebnis der Moderne. Ihr liegt die Vision des Gärtners zugrunde. Die schöne Ordnung des Gartens wird durch das Unkraut gestört. Dieses ist daher zu vernichten (106f.). „Sie mussten sterben, weil sie nicht in das Bild der perfekten Gesellschaft passten. Der Massenmord war kein Werk der Zerstörung, sondern ein schöpferisches Werk“ (107). Erst die Moderne gibt dem Menschen den Mut, den Zivilisationsprozess völlig in die eigenen Hände zu nehmen. Das religiöse Weltbild des antiken und mittelalterlichen Menschen hatte dies nicht zugelassen.

In der Folge der Aufklärung begreift der Mensch sich als ordnender und gestaltender Faktor der Zivilisation. Er schafft die perfekte Welt, den vollkommenen Garten. Die Gefahren dieser menschlichen Hybris, die durch Ideologisierung in die Sackgasse von politischen Extremen und letztlich zur Aufrichtung einer Vorstellung von Volk, Nation und Ethnie mit dem Endergebnis „Auschwitz" führte, sind kritisch aufzuzeigen. Es gilt, skeptisch gegenüber allen Ansätzen einer Dominanz der „Zivilisation" ohne Rückbezug zu den religiösen Werten des Juden- und Christentums zu sein.

Gerade weil ich der Überzeugung bin, dass die jüdisch-christliche Überlieferung der Menschheit die wahre Menschenwürde erst vor Augen geführt hat und diese Tradition dauerhaft als Maßstab menschlichen Handelns bewahrt werden sollte, berührt mich das weitgehende Schweigen der Kirche während der Schoa. Umso tragischer erlebe ich die vielen Aussagen und Handlungen von Kirchenvertretern, die das Judentum über zwei Jahrtausende zum Teil auf eine Weise dämonisiert haben, wie sie im Nationalsozialismus perfektioniert wurde. Ent-menschlichung, rassistische Untertöne und klare Ausgrenzung haben bereits hier ihre Wurzeln.

Zygmunt Bauman verweist auch auf das allseits bekannte Experiment des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram, dem es gelang, im Versuch nachzuweisen, dass Menschen unter der Akzeptanz einer herrschenden Autorität bereit sind, anderen extreme Schmerzen zuzufügen. Dabei stellte sich heraus, dass die Bereitschaft sofort sank, als die sog. Autoritäten, also die den Versuch durchführenden Wissenschaftler, untereinander stritten und damit die Autoritätsfrage unklar wurde. Traten mehrere Autoritäten in Streit, nahm die Bereitschaft eben rapide ab, den Aufforderungen einer Folge zu leisten. Hätte dies nicht gerade in der Zeit des Nationalsozialismus ein Weg der Kirche sein müssen, ihre Autorität in die Waagschale zu werfen, um damit die Menschen zu verunsichern? Sie hat es, wie wir wissen, aus verschiedenen Gründen nur unzureichend getan.

Umso wichtiger ist es, dass die Kirche als Gemeinschaft diesen Teil ihrer Geschichte bewältigt und zu neuen Ufern voranschreitet.

Anmerkungen

1 Diese komplexe Gruppe kann hier nicht extra behandelt werden.


2 Katharina von Kellenbach hat jüngst dazu bei einer Schoa-Konferenz in Oxford (Remembering for the Future 2000) in einem sehr eindrücklichen Beitrag die Notwendigkeit des Gerichts vor der Versöhnung betont. In ihrem Paper heißt es abschließend: „For perpetrators of state crimes, the dominant issue is not forgiveness but insight into the error of their ideologies and the evil of their actions. Without moral judgment and the realization that racism, antisemitism, oppression, ethnic cleansing and genocide are wrong, there is no need for forgiveness. Politically motivated perpetrators act convinced of their righteousness, irrespective of the gruesome and brutal nature of their deeds. Contrary to Christian citicism of judgment as hasty, haughty and hypocritical, moral judgment requires sustained empathy, love and support for the perpetrators. Moral judgment does not mean to write off the perpetrator but to treat them as moral agents and to insist on their human freedom to choose good and evil. Moral judgment must become the starting point of healing and transformation for perpetrators, their families, churches and cultures."


3 Ich verweise hier auf das Buch von Helga Embacher/ Margit Reiter, Gratwanderungen. Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten der Vergangenheit, Wien 1998, vor allem 68-75.


4„Ent-Schuldigung" statt Schuldbekenntnis. Eine Stellungnahme zum vatikanischen Dokument „Wir gedenken: eine Reflexion über die Schoa, Bibel und Liturgie 71 (1998) 146-151.


5 Ich kann an dieser Stelle nicht auf die lebhafte Diskussion um die Zusammenhänge zwischen dem sog. Rassenantisemitismus und christlichen Formen des Antijudaismus eingehen. Mit ihr stellt sich auch die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität zwischen christlichem und modernem Antisemitismus. Ich schließe mich hier der Meinung und dem Ansatz des Schweizer Antisemitismusexperten Urs Altermatt an, der meint: „Der Unterschied zwischen dem traditionellen und dem modernen Antisemitismus darf nicht überbewertet werden ... Trotz der fortschreitenden Säkularisierung der westlichen Gesellschaften lebte der christliche Antijudaismus in neuem Kleid weiter ... Zwischen dem christlichen Antijudaismus und dem «Rassen»-Antisemitismus bestand zweifellos eine Kontinuitätsbrücke, trotzdem dürfen wir nicht von einer Identität sprechen" (Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918-1945, Frauenfeld, Stuttgart, Wien 1999, 53f.). Die hier vorliegende These kann man als „partielle Kontinuitätsthese" bezeichnen.


6 Die Rolle des Papstes Pius XII. wird bis heute sehr kontrovers diskutiert. Vgl. als kritische Beurteilung dazu die Monografie von John Cornwell, Pius XII.: der Papst, der geschwiegen hat. Aus dem Engl. übers. von Klaus Kochmann, München 1999. Dagegen finden sich beispielsweise durchaus qualifizierte Internetseiten, die für die Verteidigung des Papstes eintreten: z.B. ftp.acns.nwu.edu/~abutz/di/vatican/piusxii.html, sowie www.catholicleague.org


7 Die Vorstellung der Kirche als mystischem Leib geht auf paulinische und dann vor allem scholastische Theologie und Ekklesiologie zurück. Sie wurde nicht zuletzt in der Enzyklika Mystici Corporis von 1947 erläutert. Demnach besteht Identität zwischen dieser Kirche Christi und der realen römisch-katholischen Kirche. Vgl. dazu z.B. Josef Finkenzeller, Kirche IV: Katholische Kirche, TRE 18 (1989) 227-252.


8 In einer Stellungnahme haben die Rabbinerkonferenzen Amerikas der ‘Central Conference of American Rabbis’ (Reform) und der ‘Rabbinical Assembly’ (konservativ) am 14.03.2000 das Schuldbekenntnis des Papstes gelobt:


„‘Die Central Conference of American Rabbis und die Rabbinical Assembly, sie repräsentieren 3000 Rabbiner, möchten die wachsenden Verbindungen zwischen den jüdischen und den katholischen Gemeinschaften erwähnen und anerkennen. Wir loben die mutigen Schritte von Papst Johannes Paul II in seinem Bemühen, den historischen Bruch zu heilen, der unsere Gemeinschaften getrennt hat. Der Papst hat die unwiderrufliche Natur von Gottes Bund mit dem jüdischen Volk bestätigt. Er hat Antisemitismus als ‘Sünde gegen Gott’ verdammt. Er hat diplomatische Beziehungen mit dem Staat Israel aufgenommen und das Recht des jüdischen Staates anerkannt, innerhalb sicherer Grenzen zu leben. Er hat die Christenheit aufgerufen, sich der ‘teshuva’ für die Schrecken des Holocaust zu verpflichten. Er hat sich für die Exzesse der Kreuzfahrer und der Inquisition entschuldigt. Er hat sich christlicher Missionierung gegenüber den Juden entgegen gestellt, im Gegenteil, er hat die Vertiefung jüdischer Frömmigkeit gefordert. In diesem Zusammenhang begrüßen wir den historischen Vergebungsgottesdienst von Papst Johannes Paul II., den er der weltweiten Gemeinschaft der Katholiken am vergangenen Sonntag dargestellt hat und spenden ihm dafür Beifall.


Wir greifen die Worte des Papstes auf und rufen unsere rabbinischen Versammlungen auf, in vertieften Dialog und Gemeinschaft mit unseren römisch katholischen Nachbarn einzutreten. In diesem historischen Augenblick der ersten päpstlichen Pilgerreise in den souveränen Staat Israel möge die begeisternde Führerschaft von Papst Johannes Paul II. uns zu größerer Versöhnung, Freundschaft und Partnerschaft im ‘tikkun olam’ begleiten"


Unterschrieben von Rabbi Charles Kroloff , President Central Conference of American Rabbis, Rabbi Seymour Essrog, President The Rabbinical Assembly, Rabbi Paul Menitoff,, Executive Vice President Central Conference of American Rabbis und Rabbi Joel Myers, Executive Vice President The Rabbinical Assembly.


Landesrabbiner Joel Berger schrieb hingegen in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung vom 16.3.2000:


„Kein Zweifel kann sich über die Person dieses Papstes und seinen wohlgemeinten, ehrlichen Absichten erheben. Außer Johannes XXIII. haben wir Juden noch nie jemanden auf dem Stuhl Petri wahrgenommen, der aufrichtiger bereit gewesen wäre, die Juden als Individuen oder das Judentum als Glaubensgemeinschaft zu respektieren.


Das Szenario des päpstlichen Sündenbekenntnisses Mea Culpa mit sieben Kardinälen und sieben Lichtern war sehr beeindruckend inszeniert. Einem Juden, der mehrere Jahrzehnte seines Lebens in einem sehr katholisch geprägten Land verbracht hat und diesen Papst in diesem Land zwei Mal sehr persönlich erleben und ihm begegnen durfte, möge man einige unchristliche Gedanken und Fragen gestatten:


Das Sündenbekenntnis für Kirchenspaltung, Inquisition, Kreuzzüge gegen Jerusalem, Zwangsmissionierung und Judenhass - an einem einzigen Sonntag im ‘Heiligen’ Jahr! Wie kann dies von den Millionen Gläubigen begriffen, verkraftet und im Alltag realisiert werden? Wird am Ende des Heiligen Jahres bei den Gläubigen nicht nur ein publizitätsträchtiger, jedoch folgenloser Akt in Erinnerung bleiben?


Juden, die nur die Maßstäbe der Tora gelten lassen, müssen hier einwenden - selbst wenn uns nur ein Mea Culpa gebührt -: Der Papst ‘ad personam’ hat sich uns gegenüber bisher nicht versündigt, daher kann er nicht im Namen einer Institution um Vergebung bitten. Für Juden gilt: ‘Ein jeder (trage nur) für seine Sünde (Verantwortung)’ oder: ‘Ein jeder sterbe um seiner Sünden willen ...’ (5. Buch Moses 24,16 und 2. Diwre Hajamamim, Chron 25,4)


Eine andere Frage ist, ob die gesamte Institution wie die katholische Kirche zweitausend Jahre lang uns gegenüber nur gesündigt hat? Wenn wir Juden dies bestätigen würden, dann müssten wir auch zugeben, dass es eine ‘Kollektivschuld’ gibt, worunter wir eben wegen jener Kirche zweitausend Jahre lang gelitten haben, und diese Kollektivschuld eben im Sinne der Tora stets abgelehnt haben.


Selbst der Papst und seine Kardinäle bekennen, dass (nur) einige Söhne und Töchter der Kirche in der Vergangenheit ‘zweifelhafte Mittel’ angewandt haben, um ‘gerechte’ Ziele zu erreichen. Diese Formulierung aber ist zu verschwommen und zu allgemein, um sich damit zufrieden geben zu können. Wenn das Evangelium nach Johannes über die ‘Synagoge des Satans’ spricht und die Juden in toto als ‘Teufelsbrut’ verteufelt, oder der Kirchenvater Augustinus die Juden als halsstarrige, gierige, stinkende Bande bezeichnet (Contra Judaeorum), dann müsste dies in der päpstlichen Mea Culpa gewichtiger verurteilt werden, weil hier nicht nur ‘einige Söhne zweifelhafte Mittel angewendet haben.’


Gerade von diesem, von uns geschätzten Papst hätte ich erwartet, dass er sich mit einem Mea Culpa von Pius XII. und seiner Tatenlosigkeit während der Schoa distanziert.


Zum Schluss habe ich den Fall Jerusalem, der Heiligen Stadt der Juden aller Welt aufgespart. Diese Stadt Jerusalem, die niemals Hauptstadt eines Landes, als des jüdischen Landes war und auch in der Zukunft sein wird. Vor kurzem traf dieser von uns so hoch geschätzte Papst eine ‘Vereinbarung’ mit dem Chef der Palästinenser über den ‘internationalen Status’ Jerusalems. Jetzt, inmitten der entstandenen Phase der bilateralen Verhandlungen zwischen den Israelis und den Palästinensern! Dies empfinde ich als eine Sünde von Papst Karol Wojtyla gegen das jüdische Volk! Dazu benötigen wir sein Mea Culpa, wofür ihm in der Tat vergeben werden müsste."


9 Altermatt, Katholizismus 17f.

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Gerhard Bodendorfer. Vortrag anlässlich eines Symposions zur

Vergangenheitsbewältigung in Wien am 13. Mai 2000.

© Copyright 2001 Koordinierungsausschuss

für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit