Schon Manches geschehen, aber noch ein weiter Weg

Zur Erinnerung an den 9. November 1938 und die Reichskristallnacht. Reflexionen zum Dokument der deutschen und österreichischen Bischofskonferenzen ?Die Last der Geschichte annehmen" zum Gedenkjahr 1988 von Bischof Maximilian Aichern, Linz  

Schon Manches geschehen, aber noch ein weiter Weg

Aichern, Maximilian

Zur Erinnerung an den 9. November 1938 und die Reichskristallnacht. Reflexionen zum Dokument der deutschen und österreichischen Bischofskonferenzen “Die Last der Geschichte annehmen' zum Gedenkjahr 1988

Im November des “Bedenkjahres' 1988 wurde in den österreichischen und deutschen Diözesen ein Kanzelwort zur Reichskristallnacht von 1938 verlesen: “Die Last der Geschichte annehmen.' In dieser Erklärung der deutschen und österreichischen Bischöfe wird klar ein Versagen und eine Mitschuld der Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht. Neben der Erinnerung an die Ereignisse vor damals 50, heute 65 Jahren war ein besonderes Anliegen der Bischofserklärung die Vertiefung der christlich-jüdischen Beziehungen durch besseres Verständnis und konkrete Zusammenarbeit.

Seither ist Manches in dieser Hinsicht geschehen. Es gibt – allerdings eher im kleinen Kreis – viele Begegnungen und gemeinsame Aktionen zwischen den christlichen Kirchen und den Juden. Vorurteile konnten abgebaut werden und gemeinsame Unternehmungen sind nicht mehr selten. Es ist aber noch viel zu tun.

Über viele Jahrhunderte haben Irrtümer, Missverständnisse und Vorurteile über Glaube und Religion das Verhältnis zwischen Christen und Juden auf beiden Seiten schwer belastet. Die Judenverfolgung im “Dritten Reich' hat uns die Auswirkungen davon schmerzlich und blutig bewusst gemacht. Das Il. Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret “Nostra Aetate' einen Neuanfang im christlich-jüdischen Gespräch gesetzt. Päpste und Bischöfe haben in Erklärungen und im praktischen Verhalten gezeigt, dass die Juden unsere älteren Brüder sind und dass uns vieles verbindet.

Es ist derselbe Gott, zu dem Juden und Christen beten. Die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens finden wir in den christlichen Liturgien und im Gebet, besonders in den täglich gebeteten Psalmen, in den Büchern der Bibel, im Bemühen um die Verwirklichung des Dekalogs und in vielem mehr. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben wir den Schatz der jüdischen Tradition in unseren Kirchen neu und dankbar erkannt. Das Bemühen um Aufarbeitung der Vergangenheit, um Versöhnung und Dialog mit der “Wurzel unserer Kirchen' hat eine neue Dimension bekommen. Wir wissen uns vereint in der Aufgabe, der heutigen Welt die Gegenwart des Göttlichen zu verkünden und vorzuleben, sowie für die Würde des Menschen einzutreten.

Nach wie vor gilt aber, was die Bischöfe vor 15 Jahren schrieben: “Zu einer Aussöhnung mit den Juden aller Welt zu gelangen, ist eine Aufgabe, die noch lange nicht bewältigt ist. Versöhnung geschieht durch Erinnerung und durch einen langen Prozess des Aufeinander-Zugehens.' Die Reflexion der Bischofserklärung von 1988 kann ein Anstoß und eine Ermutigung zur Intensivierung der gemeinsamen Bemühungen sein. Noch mehr Christen und Juden sollte bewusst werden, dass es hier nicht um eine Randfrage, sondern um einen wesentlichen Teil unseres Glaubens und unserer Gottesbeziehung geht.

Ich möchte allen danken, die sich hier einsetzen, ihnen Mut zur Weiterarbeit machen und der Hoffnung Ausdruck geben, dass wir uns immer mehr als Brüder und Schwestern des einen Gottes erleben und so besser unserem Auftrag für die Welt nachkommen.

Editorische Anmerkungen

Maximilian Aichern ist Bischof von Linz

Quelle: Koordinierungsausschuss für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit