Religiöse Vielfalt und das Millennium

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen messianischer Erwartung, Millennium-Denken und den drei großen monotheistischen Religionen ? Judentum, Christentum und Islam? Welche Rolle spielen dabei das Erbe von Toleranz und Intoleranz innerhalb dieser Religionen?

Religiöse Vielfalt und das Millennium

David Hartman

Das Millennium1 ist ein starkes Symbol der Hoffnung, es wird etwas abgeschlossen und etwas beginnt neu. Der Übergang in ein neues Jahrhundert weckt das Gefühl für neue Möglichkeiten einer Veränderung.

Viele religiöse Menschen auf der ganzen Welt glauben, dass wir uns auf messianische Zeiten hinbewegen, auf die Errichtung von Gottes Reich auf Erden, und dass sich ihre partikularen religiösen Traditionen endgültig durchsetzen werden. Für sie gehören solche Hoffnungen und Überzeugungen zum Kern ihres Glaubens an Gott.

Man kann das Millennium aber auch als eine spirituelle Chance für Menschen unterschiedlichen Glaubens ansehen: die Bedeutung radikaler Vielfalt kennen zu lernen, zu verstehen und wertzuschätzen.

Wir gehen in eine Welt, in der „der Andere“, der von uns Unterschiedene, in einem Maße in unser Leben eintritt, wie es in der Geschichte nie zuvor erfahren wurde. Es gibt keinen Präzedenzfall für die neue Erfahrung der „Globalisierung“ und der Erfahrung, überall auf der Welt einer großen Vielfalt kultureller Traditionen ausgesetzt zu sein. Universalität ist nicht länger ein abstraktes Konzept oder Gebetsanliegen; sie ist Teil unserer konkreten Realität im Alltag.

Die Frage, die wir stellen müssen, ist: Wie werden die großen Religionen des Westens sich auf diese neue Realität einstellen?

Erbe der Intoleranz

Christentum, Islam und Judentum haben Gründungsgeschichten (founding stories), die im Kern eine Koexistenz mit anderen ausschließen. Die Vergangenheit hat uns ein Erbe der Intoleranz, die eine Tradition der anderen entgegen setzt, hinterlassen.

Das Christentum begann damit, sich selbst das „neue Israel“ zu nennen. Es beanspruchte, das „alte Israel“, das verworfene erwählte Volk des „Alten Testamentes“, überwunden zu haben. Gott würde jetzt durch die Worte von Paulus und nicht mehr durch das Gesetz des Mose zur Menschheit sprechen. Augustin sah die Juden, besonders ihr Exil und ihre Demütigung in der Geschichte, als lebendigen Erweis der Wahrheit der christlichen Geschichte (story) an. Juden sollten aus dem Gottesstaat nicht ausgeschlossen werden, weil ihr verachtungswürdiger Zustand Zeugnis für die christliche Wahrheit ablege.

Während der ganzen Geschichte haben wir alle dazu tendiert, die Existenz anderer Glaubensgemeinschaften in unseren eigenen Denkkategorien dadurch zu rechtfertigen, dass wir behaupteten, die anderen Glaubenstraditionen seien, ohne es zu wissen, göttliche Instrumente zu unserem eigenen endgültigen Triumph.

Im Mittelalter sahen jüdische Denker Christentum und Islam als Vehikel zur Verbreitung der Bibel, der notwendigen kulturellen Sprache, um das Wort Gottes und die Tora in der Welt auszusäen. Indem sie die fundamentalen Kategorien der biblischen Religion universalisierten, bereiteten sie im Ergebnis die Welt darauf vor, schließlich die jüdische Sicht (story) zu übernehmen.

Jede Glaubensgemeinschaft nahm so die andere aus der Perspektive ihrer eigenen begrenzten Geschichte wahr. Der „Andere“ hatte keine Bedeutung aus eigenem Recht. Religiöse Wahrheit war eine „Mangelware“, die nicht mit anderen Traditionen geteilt werden konnte. Das einzige Thema interreligiöser Diskussion war zu entscheiden, wer wirklich die göttliche Wahrheit vermittelte. Wessen Religion erzählt die wirkliche Geschichte (story)? Wer ist der wahre Prophet Gottes: Mose, Jesus oder Mohammed?

Das Stadtbild Jerusalems ist eine sprechende Illustration dieses Null-Summen-Konzepts religiöser Wahrheit. Die Altstadt ist ein vollgestopfter, erstickender Ort. Der Felsendom ist an der Stelle des ursprünglichen Tempels gebaut; die Grabeskirche ist gleich nebenan. Jedes Gebäude scheint darauf aus, seine Rivalen zu erdrücken. Es ist als ob keine Religion die Gegenwart der anderen ertragen kann. Die Lebendigkeit des „Anderen“ untergräbt ihr eigenes Wertgefühl, ihren raison d’etre.

Man kann die religiöse Geschichte der westlichen Kultur als eine erniedrigende und hässliche Geschichte der Unsicherheit, Eifersucht und Rivalität lesen. Die Anwesenheit von Juden, die ihre eigene Tradition lebten – ihren Schabbat feierten, ihre Riten, Geschichten, ihre kollektiven Träume – wurde von den anderen Glaubensgemeinschaften als Bedrohung erlebt. „Was macht ihr da? Ihr seid nicht mehr die von Gott erwählte Gemeinschaft!“ und umgekehrt sagte das Judentum zu den Christen. „Glaubt ihr wirklich, dass sich die wahre Religion in den Oblaten, die ihr schluckt, oder in Chormusik ausdrückt? Oder in den Kathedralen und ‚Götzenbildern’, die ihr schafft, um Gott zu dienen?“ Und der Islam sagte zu Israel: „Ihr seid nicht wirklich die erwählten Kinder Abrahams! Wir sind es! Ihr habt die Schrift mit Vorsatz gefälscht, um nachzuweisen, dass Isaak und nicht Ismael Abrahams geistlicher Nachfolger ist!“

Diese ideologische Rivalität ergoss sich in einen endlosen Kampf um die Kontrolle des Heiligen Landes und besonders der Heiligen Stadt. Und die Kontrolle über Jerusalem war das Zeichen dafür, von Gott auserwählt zu sein, seinen Willen auf der Erde zu verbreiten. So hat die Geschichte gezeigt, dass Jerusalem weniger eine Stadt des Friedens als eine Stadt des Krieges war, voller Streit, Hass und „heiliger Kriege“. Das verheißene Land wurde zum Land der Intoleranz.

Lernen, die Geschichte anders zu erzählen

Der entscheidende Punkt des Millenniums ist, ob wir uns von diesen überkommenen Überzeugungen und Gewohnheiten frei machen können; sie alle implizierten, dass es nur eine wahre Geschichte über Gott und die Offenbarung gibt und dass Gläubige an den endgültigen Triumph ihrer besonderen religiösen Tradition glauben müssen.

Das Christentum muss sein traditionelles Verständnis vom Judentum und den Juden überdenken. Der Islam, der die „Völker des Buchs“ in einen zweitranigen Status verwies, muss seine Beziehung zum Judentum überprüfen.

Und auch Juden müssen die Implikationen ihrer Vorstellung von Erwählung und Bund neu bewerten. Auch unter uns sind viele religiöse Führer und Lehrer Opfer eines begrenzen Konzepts von Gott und religiösem Leben. Frauen der konservativen und der Reformbewegung, die an der Westmauer beten wollen, sind nicht willkommen. Egalitäre Gebetsgruppen werden als subversive Elemente angesehen, die darauf aus sind, die Heiligkeit Jerusalems zu zerstören. Juden, die von den vier Ecken der Welt kommen – „die heimgeholten Exilierten“ – werden von selbstgerechten und selbsternannten Wächtern des Glaubens „Gangster und Huren“ genannt. Wie der Teufel, der die Schrift zitiert, haben Fanatiker wenig Probleme damit, Aggression und Intoleranz unter dem Mantel religiöser Frömmigkeit und Heiligkeit zu verbergen.

Ich weiß, dass wir Juden noch kein Konzept einer echten Annahme des „Anderen“ entwickelt haben. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, hart daran zu arbeiten, um eine religiöse Vision, die in diese Richtung weist, zu schaffen. Wir haben noch keine religiösen Gemeinschaften aufgebaut, in denen die Akzeptanz des „Anderen“ und die Freude über die religiöse Vielfalt Hand in Hand gehen mit echter Frömmigkeit und religiöser Hingabe. Der Geist, der die Erziehungsarbeit und Forschung im Shalom Hartman Institut leitet, sucht nach Wegen auf denen wir die Stärke unserer Tradition vermitteln können, ohne „den Anderen“ zu entwerten.

Das ist heute die Aufgabe jedes religiösen Denkers. Jeder von uns muss versuchen, Wege zu finden, die Geschichte (story)anders zu erzählen, jedoch ohne sie ihres spirituellen Gehalts und ihrer Lebendigkeit zu entleeren. Ein Außenstehender könnte einwenden: „Wenn du deine Geschichte (story) nicht so magst, wie sie ist, warum gibst du sie nicht ganz auf?

Niemand von uns will seine eigenen, besonderen Geschichten oder Traditionen aufgeben – wegen unserer tiefen religiösen Bindungen und wegen unseres Glaubens, dass in ihnen etwas Zwingendes und höchst Bedeutsames ist. Wofür wir kämpfen müssen, ist zu entdecken, ob die bedeutsamen und einnehmenden Aspekte unserer Traditionen notwendig zur Folge haben, die Geschichten und Traditionen, die nicht unsere sind, zu entwerten.

Ich gebe mich keiner Täuschung hin und glaube nicht, dass das eine einfache Aufgabe wäre. Nach den vergangenen und heutigen Erfahrungen scheint es so, dass heroisches und leidenschaftliches Engagement aus absolutistischen Ansprüchen und Überzeugungen wächst. Obwohl religiöser Pluralismus und intellektuelle Offenheit Anstand und Höflichkeit stützen, scheint es doch, dass sie Hand in Hand mit lauwarmen religiösen Bindungen einhergehen.

Trotzdem müssen wir danach streben, religiöse Formen der Bindung und der Leidenschaft zu entwickeln, die es nicht erfordern zu glauben, dass nur eine Tradition die Wahrheit widerspiegelt. Die Lebendigkeit einer religiösen Bindung ist nicht notwendigerweise eine Funktion ihrer Exklusivität oder Einzigartigkeit. Die Anwesenheit anderer religiöser Traditionen muss nicht die völlige Hingabe und Bindung an eine besondere Tradition bedrohen. Bejahung schließt nicht die Entwertung des „Anderen“ ein.

Jahrtausenderwartungen

Wie ich oft geschrieben habe, erschrecken mich absolute Wahrheiten und übertriebene Erwartungen. Wenn immer Menschen behaupten, sie hätten die Schlüssel zum Reich Gottes, geschehen schreckliche Dinge; Nichtgläubige irren sich nicht bloß, sie sind vorsätzliche Leugner der Wahrheit und deshalb Feinde Gottes oder der Revolution. Nur wenige andere Konzepte können in der Geschichte mit der „Liebe Gottes“ in der Rechtfertigung so vieler Akte von Gewalt und Grausamkeit mithalten. Der moderne Marxismus hat diesen schrecklichen Rekord im Namen einer säkularen Version von geschichtlicher Erlösung und dem Schaffen eines „neuen Menschen“ zu übertreffen versucht. Das Vertrauen in unsere Fähigkeit, etwas absolut Neues zu schaffen, eine gerechte Gesellschaft, ist für sehr viel Gewalt und Unmenschlichkeit verantwortlich gewesen.

Ich bete darum, dass Menschen ihren Glauben an Gott bezeugen, indem sie ihre Hoffnung auf Gott und auf die Botschaft des Propheten Micha richten: „Recht zu tun, Liebe zu üben und demütig wandeln mit deinem Gott“ (6,8). Als religiöser Mensch hoffe ich auf eine Zeit, in der die religiösen Impulse die Menschen dahin bringen werden, mit dem „Anderen“ in Würde zu leben, wenn die religiöse Leidenschaft in dem Gebot „Liebe den Fremden!“ unterwiesen ist.

Die entscheidende Regel ist nicht „Liebe deinen Nächsten!“ – das dürfte nicht so schwer sein, weil Nachbarn eher so sind wie du – sondern „Liebe den Fremden!“, denjenigen, der sich von dir unterscheidet, der ein anderes Lied singt als du, dessen Rituale und Weltsicht sich von deinen unterscheiden. Kann man diese Fremden schätzen, so wie sie sind? Musst du sie deinen eigenen vertrauten und bequemen Mustern anpassen?

Die Erwartungen auf das neue Jahrtausend sollten sich nicht auf eine einzelne heraus gehobene spirituelle Erfahrung konzentrieren, sondern auf eine nachhaltige, reflektierte Lernerfahrung. Wir müssen lernen, Gottes versöhnende Liebe in unserem täglichen, undramatischen Entschluss, das Leben etwas gerechter und mitfühlender zu machen, zu erfahren. Eine solche Verpflichtung ist keine geringe Errungenschaft in der modernen Welt. Sie macht es erforderlich, den weitverbreiteten Glauben aufzugeben, die totale Erlösung und Veränderung der menschlichen Bedingungen seien die selbstverständlichen und authentischen religiösen Bestrebungen. Das tägliche Leben, eher als das Ende der Geschichte, muss Hauptziel unserer religiösen Verpflichtungen und Anliegen werden.

Diejenigen, die ins Heilige Land kommen, um Augenzeuge einer Explosion von spirituellen Energien, eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu werden, werden enttäuscht werden. Die große Erfahrung, die die Millenniumspilger zu finden und in ihre Heimat zurückzubringen hoffen dürfen, ist, dass eine starke Glaubenserfahrung andere Leute nicht ausschließen muss, indem man nur einen Weg, eine Wahrheit als legitim erklärt.

Wir müssen lernen das Millennium zu begehen, indem wir „Amen“ zu der Tatsache sagen, dass Gott eine Symphonie verschiedener Stimmen und Melodien geschaffen hat.

Editorische Anmerkungen

1 Von der Website des Shalom Hartman Institutes, www.hartmaninstitute.com.
Übersetzung: Wolfgang Raupach-Rudnick.
David Hartman verwendet den aus der angelsächsischen Theologie stammenden Begriff „story“. Er meint den sinndeutenden und identitätsstiftenden Referenzrahmen einer Religion; vgl. Dietrich Ritschl, zur Logik der Theologie, 1984. Wo Hartman diesen Begriff im Unterschied zu Geschichte (history) oder Erzählung (story) gebraucht, ist der englische Begriff in Klammern hinzugefügt.

Quelle: BEGEGNUNGEN. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 2, 2003