Reflexionen zur theologischen Natur des Dialogs

Impulsvortrag beim G20 Interfaith Forum 2021 am 13. September 2021 in Bologna.

„Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern.“[1] In diesem Satz verdichtet sich die vom Gedanken der gleichen Menschenwürde getragene Wertschätzung, mit der die Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil Andersgläubigen begegnet. Die Erklärung Nostra aetate gilt mit gutem Recht als katholische „Magna Charta“ des interreligiösen Dialogs. Das von den Konzilsvätern nach intensiven Beratungen im Oktober 1965 verabschiedete Dokument wurde bald derart wirkungsvoll, dass ein nur unwesentlich älteres – ausführlicheres – Lehrschreiben leicht in Vergessenheit geraten konnte: die Antrittsenzyklika von Papst Paul VI., Ecclesiam suam.

Der Terminus „Dialog“ ist in früheren Dokumenten des römischen Lehramts weitgehend unbekannt – und wird interessanterweise auch in Nostra aetate nicht ausdrücklich verwendet. In Ecclesiam suam jedoch erhebt ihn Paul VI. zum Schlüsselbegriff: „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen [...]. Die Kirche macht sich selbst [...] zum Dialog.“[2] Dialog wird hier nicht als pragmatische Notwendigkeit gedacht, die man zähneknirschend akzeptieren muss. Vielmehr wird klar: Aus genuin theologischen Gründen gehört der Dialog zum Wesen der Kirche. Man kann diese im August 1964 veröffentlichte Enzyklika daher ohne Übertreibung als die Dialog-Enzyklika schlechthin bezeichnen. Wenn man sich der theologischen Natur des Dialogs, wie ihn die katholische Kirche versteht, annähern möchte, führt kaum ein Weg an diesem Text vorbei.

Ausgangspunkt ist für Paul VI. die Überzeugung, dass der „transzendente Ursprung des Dialogs [...] im Plane Gottes selbst“ liegt (ES 72). Denn wenn man Religion ihrer Natur nach als „Beziehung zwischen Gott und dem Menschen“ begreift, lässt sich die gesamte Geschichte der Kirche als Dynamik des Dialogs verstehen: „Die Heilsgeschichte erzählt diesen langen und vielgestaltigen Dialog, der von Gott ausgeht.“ Weil Gott den Menschen liebt, offenbart er sich ihm und tritt mit ihm in einen Dialog ein. Gott hat uns zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,10), jeden und jede von uns, ohne Vorbedingung. Daraus ergibt sich das innere Bedürfnis, in einen Dialog mit den anderen einzutreten: „an uns liegt es nun, die Initiative zu ergreifen, um den Dialog selbst auf die Menschen auszudehnen, ohne zu warten, bis wir gerufen werden“ (ES 74). Die Gewissheit, dass Christinnen und Christen ebenso wie alle anderen Menschen Kinder des einen Vaters sind, der es gut mit uns meint, befähigt, veranlasst und verpflichtet uns zum Dialog.

Aber: Dialog mit wem und zu welchem Zweck? Geht es darum, mit quasi zufälligen Gesprächspartnern beliebige Höflichkeiten auszutauschen oder verbirgt sich mehr hinter dem Dialog-Auftrag? Ausgehend vom Gespräch zwischen Gott und seinen Geschöpfen, entwirft Paul VI. in Ecclesiam suam das Bild einer Kirche, die sich durch vielfältige Formen des Dialogs auszeichnet. Um einen gemeinsamen Mittelpunkt bewegen sich drei konzentrische Dialogkreise.

Da ist zunächst ein weiter, „unermesslicher Kreis“: „die Menschheit als solche, die Welt“ (ES 101). Es geht hier um einen selbstlosen, sachlichen und ehrlichen Dialog, den die Kirche mit allen Menschen führt, um der Sache des Friedens zu dienen (vgl. ES 110). Ideologische Haltungen, die die „Gottlosigkeit“ zum Programm erheben, sind dabei zwar ein ernsthaftes Hindernis, dürfen aber nicht von vornherein zum Ausschluss von Dialogpartnern führen. Denn das Ziel, auf einen wahren Frieden unter den Völkern hinzuarbeiten, ist höher zu gewichten.

Der zweite Dialogkreis umfasst „all jene, die den einen höchsten Gott anbeten, den auch Wir verehren“ (ES 111). Besonders hervorgehoben werden dabei Juden und Muslime, ohne dass die „Anhänger der großen afro-asiatischen Religionen“ unerwähnt bleiben. Der interreligiöse Dialog, wie ihn Paul VI. in Ecclesiam suam umreißt, zielt darauf ab, dass die Gläubigen der unterschiedlichen Religionen sich gemeinsam für Religionsfreiheit, menschliche Brüderlichkeit sowie soziale, kulturelle und staatliche Belange engagieren. Grundlage ist eine Haltung der gegenseitigen Achtung und Anerkennung. Der dritte Kreis beschreibt sodann den ökumenischen Dialog mit den „getrennten christlichen Brüdern“ (ES 113). Er vollzieht sich in Respekt vor den Traditionen der anderen Konfessionen, aber auch mit der Hoffnung, die Trennung eines Tages überwinden zu können.

Der Dialog soll jedoch nicht nur das Verhältnis der Kirche zu den jeweils anderen bestimmen, sondern auch für ihr Innenleben prägend sein: ein Dialog „in der Fülle des Glaubens und werktätiger Liebe“, zwischen den Mitgliedern „einer Gemeinschaft [...] , deren Wesenselement die Liebe ist“ (ES 117–118). Hier zeigt sich, dass Paul VI. die Kirche ganz und gar als dialogische Gemeinschaft denkt, womit für ihn keineswegs die Aufhebung unterschiedlicher Berufungen und Begabungen einhergeht.

Diese vielfachen Dimensionen des Dialogs fanden – ein gutes Jahr nach Veröffentlichung der Enzyklika – Eingang in die Texte des Konzils. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wird der Gedanke von den unterschiedlichen Dialogkreisen nun in umgekehrter Richtung entfaltet.[3] Erforderlich ist zunächst die Fähigkeit zum innerkirchlichen Dialog, der „gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht“ verlangt. Sodann folgen der ökumenische und der interreligiöse Dialog sowie schließlich der Dialog mit allen Menschen weltweit. Auch hier wird wieder eine starke theologische Begründung gegeben: „Da Gott der Vater Ursprung und Ziel aller ist, sind wir alle dazu berufen, Brüder zu sein.“

Wenn wir etwas genauer auf den Dialog mit Juden und Muslimen blicken, finden wir in den Texten des Konzils eine wichtige theologische Grundlegung der besonderen Verbundenheit mit den monotheistischen Geschwistern. Wie alle Menschen sind sie Kinder des einen Gottes. Doch das Konzil stellt darüber hinaus fest, dass sie auch den gleichen Gott verehren. Gott hat den Bund, den er mit dem jüdischen Volk geschlossen hat, nie aufgelöst, seine Gnadengaben sind unwiderruflich (vgl. NA 4). Und hinsichtlich der Muslime wird in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche betont, dass sie „sich zum Glauben Abrahams bekennen“ und „mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird“.[4] Das entscheidende Wort im lateinischen Text lautet: nobiscum („mit uns“).

Es geht beim Dialog nicht um Relativismus oder Synkretismus; markante Unterschiede werden in den Konzilstexten keineswegs verschwiegen. Auch geht es nicht darum, dass die Kirche ihren Auftrag, die Botschaft Jesu Christi zu verkünden, zugunsten einer oberflächlichen Harmonie an die zweite Stelle setzt, ganz im Gegenteil. Einerseits gilt: Ein aufrichtiger Dialog muss ohne Hintergedanken und taktische Erwägungen geführt werden. Maßgeblich ist die Hochachtung vor dem anderen. Andererseits dürfen Dialog und Verkündigung aber auch nicht als Widerspruch aufgefasst werden. Wie Papst Johannes Paul II., dessen Name wegen der Friedensgebete von Assisi eng mit dem Anliegen der interreligiösen Begegnung verbunden ist, festgestellt hat, besitzt der Dialog – jenseits von Eigeninteressen – eine „Würde eigener Art“. Zugleich hat Johannes Paul II. darauf hingewiesen, dass die anderen Religionsgemeinschaften in geistlicher Hinsicht durchaus als „positive Herausforderung“ zu begreifen sind; denn sie regen „sowohl dazu an, die Zeichen der Gegenwart Christi und des Wirkens des Geistes zu entdecken und anzuerkennen, als auch dazu, die eigene Identität zu vertiefen und die Gesamtheit der Offenbarung zu bezeugen“.[5]

In dem vielfachen Dialog, den Christinnen und Christen führen, erweist sich ganz konkret, was die Kirche ist: „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Der Dialog ist aufgrund der Inkarnation Wesensvollzug der Kirche; Jesus Christus ist Dialog zwischen Gott und Mensch. Der im Äußeren wie im Inneren dialogische Charakter der Kirche entspricht ihrer Sendung. Eine nicht-dialogische Kirche liefe letztlich Gefahr, zum eitlen Selbstzweck zu werden.

Lange Zeit hat sich die Kirche, von Einzelstimmen abgesehen, schwer damit getan, in religiöser Vielfalt mehr als ein bedauerliches Faktum zu erkennen. Doch seit dem II. Vaticanum stellt die wertschätzende Sicht auf die Gläubigen anderer Religionen – einschließlich der Verteidigung ihrer Religionsfreiheit – einen konstitutiven Bestandteil der kirchlichen Lehre dar.

Das bei Paul VI. und in den Konzilstexten angelegte Motiv der „brüderlichen“ Verbundenheit aller Menschen wurde in unseren Tagen von Papst Franziskus aufgriffen und weiterentwickelt. Es zieht sich wie ein roter Faden durch sein Pontifikat. Zentrale Begriffe lauten nun „Haltung der Offenheit“, „universale Geschwisterlichkeit“ und „soziale Freundschaft“.[6] Aus der im Glauben begründeten Zusage, dass jeder und jede ein geliebtes Kind Gottes Kind ist, ergibt sich die anthropologische Grundannahme, dass alle Menschen miteinander geschwisterlich verbunden sind. Durch die Beziehung zum Schöpfer, der uns die Sorge für unser gemeinsames Haus, die Erde, übertragen hat, stehen wir alle miteinander in Beziehung. Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist ebenso wie die Geschichte der Menschen untereinander eine Beziehungsgeschichte.

Die theologischen Orientierungen, die Papst Franziskus für den interreligiösen Dialog gegeben hat, sind vielfältig. Lassen Sie mich hier einen Gedanken herausgreifen, der gerade in einer von Krisen gekennzeichneten Zeit bedeutsam erscheint: Die tiefe Verbundenheit mit Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen erwächst nicht zuletzt aus der Fähigkeit zu Empathie und „Compassion“. Als Papst Franziskus kurz nach seinem Amtsantritt die Insel Lampedusa besuchte, verknüpfte er Gottes Frage an Kain angesichts des Brudermords (Gen 4,9) mit der Gleichgültigkeit Europas angesichts des Sterbens schutzsuchender Menschen: „Wo ist dein Bruder?“ Und er fügt eine weitere Frage hinzu: „Wer hat geweint über den Tod dieser Brüder und Schwestern?“ Wer die Gotteskindschaft aller Menschen ernst nimmt, der muss im Angesicht menschlichen Leids Trennendes überwinden und Gemeinsames suchen.[7] So ist es auch kein Zufall, dass die Deutung der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter gewissermaßen den geistlichen Kristallisationspunkt der Enzyklika Fratelli tutti bildet: „Für die Liebe ist es unerheblich, ob der verletzte Bruder von hier oder von dort kommt.“ (FT 62) Oder wie Papst Franziskus und Großimam Ahmad al-Tayyeb es 2019 gemeinsam in Abu Dhabi formuliert haben: „Der Glaube lässt den Gläubigen im anderen einen Bruder sehen, den man unterstützt und liebt.“[8]

Dies war auch die Haltung, mit der Papst Franziskus im März dieses Jahres den Irak besucht hat. In dem von Krieg und Gewalt gezeichneten Land formulierte er ein Gebet, das an das gemeinsame Leid und an die gemeinsame Verantwortung der „Kinder Abrahams“ erinnert. Und er würdigte das Engagement all jener mutigen Irakerinnen und Iraker, die Tag für Tag einen Dialog des Lebens führen; sie haben „still und von der Welt unbeachtet, Wege der Geschwisterlichkeit begonnen“.[9] Wer an Gott glaubt, ist dazu berufen, die Geschwisterlichkeit unter den Menschen erfahrbar werden zu lassen. Hierin liegt eine starke, theologisch begründete Motivation, immer wieder den Dialog zu suchen – auch und gerade unter widrigen Umständen. Ohne Dialog ist viel verloren; doch mit dem Dialog können wir einiges gewinnen: mehr Frieden und mehr Verständnis unter den Religionen.

[1] Zweites Vatikanische Konzil, Nostra aetate (NA), Nr. 5.
[2] Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam (ES), Nr. 67.
[3] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes (GS), Nr. 92.
[4] Zweites Vatikanisches Konzil, Lumen gentium (LG) 16: „Musulmanos, qui fidem Abrahae se tenere profitentes, nobiscum Deum adorant unicum, misericordem, homines die novissimo iudicaturum.“
[5] Papst Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (RM), Nr. 56.
[6] Siehe etwa Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (EG), Nr. 250; Enzyklika Laudato si’ (LS), Nr. 228; Enzyklika Fratelli tutti (FT), Nr. 95.
[7] Vgl. auch LS 91–92.
[8] Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt, Vorwort.
[9] Ansprache von Papst Franziskus bei der interreligiösen Begegnung in der Ebene von Ur (www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2021/march/documents/papa-francesco_20210306_iraq-incontro-interreligioso.html).

Editorische Anmerkungen

Bischof Dr. Bertram Meier (Augsburg) ist Vorsitzender der Unterkommission für den Interreligiösen Dialog der Deutschen Bischofskonferenz.

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.