"Wende dich mir zu … denn ich bin einsam …" (Psalm 25,16)
Howard Cooper
Im Denken des großen französisch-jüdischen Philosophen und Essayisten Emmanuel Levinas (1906-1995) ist die Heiligkeit des "Anderen", jedes einzelnen Menschen, "heiliger als ein Land, sogar wenn das Land ein heiliges Land ist. Im Vergleich zu einer Person, die gekränkt worden ist, ist dieses Land - heilig und verheißen - nur Nacktheit und Wüste, ein Haufen von Holz und Steinen".
Heutzutage ist es ein gefährliches Unternehmen, über die Bibel zu schreiben oder zu sprechen. In dieser Zeit, in diesen Tagen (und Jahren), in denen Israel um nichts Geringeres als seine Seele kämpft, käme es mir vor, als würden wir das Kinderspiel ‚Blinde Kuh" spielen, wenn ich nicht die historische Situation erwähnte, in der wir uns befinden, währenddem wir diese außergewöhnlichen Texte studieren. Wir warten darauf, dass uns ein Bein gestellt wird und wir fallen: in die riesige Spalte, in den Abgrund zwischen den heiligen Worten und Hoffnungen der Texte und dem tragischen Scheitern, die Ideale dieser Texte im Hier und Heute zu verkörpern.
Wir begegnen einander als Christen und Juden, die diese Texte respektieren, die danach streben zu verstehen, was Heiligkeit bedeutet, und die vielleicht auch ein Gebet gemeinsam haben: die Worte, mit denen der Psalmist den Psalm 25 in einer plötzlichen dringenden Bitte beendet: "Oh Gott, erlöse Israel aus all seinen Nöten!" (25,22) Mi-kol zarotaw: "aus all seinen Nöten, all seiner Bedrängnis". Und von der buchstäblichen Bedeutung der hebräischen Wurzel her, z-r-r: aus all seiner "Enge". Am Ende eines Psalmes, der persönlich ist, intim, mit dem Einzelnen im Mittelpunkt, der Beziehung des Einzelnen und seiner oder ihrer Distanz zum Göttlichen, kommt diese plötzliche Verschiebung zum Kollektiven: Erlöse Israel, Oh Gott, aus all seinen Nöten, seiner Bedrängnis, der Enge seiner Sichtweise" Als ob der Dichter plötzlich merkt, dass seine eigenen persönlichen Kämpfe, um Gott zu verstehen und mit Gott in Beziehung zu sein, sein eigener persönlicher, psychologischer Geisteszustand - ich bin einsam und gebeugt (25,16) - nicht nur ein persönliches Dilemma, sondern ein kollektiver existenzieller Zustand sind, eine historische und transhistorische Erfahrung. Nicht nur der Einzelne kann Trennung von Gott erfahren, sondern die Nation, die Gemeinde Israels.
So scheint es mir etwas unehrlich zu sein, nicht über unsere eigene historische Situation hier und jetzt in unseren Tagen zu sprechen. Diese Situation muss und wird einen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie wir diese 15 Gedichte, die uns dieses Jahr aufgegeben wurden, lesen und über sie denken. Aber wenn wir einmal anerkannt haben, dass wir unsere Texte immer in bestimmten, historischen Zusammenhängen lesen werden, und dass unser Dichter sich auch dieser Spannung zwischen dem einzelnen Suchenden und dem kollektiven Kontext bewusst ist, dann wollen wir uns für eine Weile auf das Persönliche, das Individuelle konzentrieren, das sogar "heiliger" ist "als ein Land". Denn diese 15 Psalmen haben sehr mit dem Einzelnen zu tun; das "Ich" des Psalmisten ist in der ganzen Reihe ein dominierendes Fürwort, eine intime Stimme.
Und meistens spricht das "Ich" des Dichters das "Du" Gottes an. Manchmal ist es das "Er" Gottes - und manchmal findet innerhalb eines Psalmes eine Verschiebung statt vom intimen "Du" zum distanzierteren "Er". Es lohnt sich, darauf zu achten und über diese Bewegung nachzudenken: die Zeiten, wenn die Sprache des Dichters ein Gefühl der Distanz zwischen sich selbst und dem Göttlichen schafft. Stehen diese Verschiebungen für die eigene Erfahrung des Psalmisten, die er erlebt? Oder sind sie schriftstellerische Momente, in denen der Dichter sich daran erinnert, dass er Leser und Leserinnen, Hörer und Hörerinnen haben wird, und wenn er aufhört zu schreiben, als würde er mit Gott sprechen, und beginnt, über Ihn zu sprechen? Oder sind diese Momente beides?
Einerseits geht es bei diesen Fragen um den Stil: Was ist die Absicht der Sprache, die dein Dichter wählt. Aber es geht auch um Fragen, die mit der inneren Welt des Dichters zu tun haben, die Art und Weise, wie er oder sie die universellen Themen der Nähe und Distanz, der Intimität und der Trennung erfährt, und wie diese Erfahrungen bewusst und unbewusst in Sprache widerspiegelt werden. Ich hoffe, im Folgenden mehr darüber zu sagen.
Nur eine Bemerkung, um diesen Anfangsteil zu beenden. Nur die Psalmen 21, 24 und 29 sind nicht aus dieser persönlichen Perspektive geschrieben. Dort befindet sich kein "Ich". Und obwohl Psalm 20 Gott als "Du" anspricht, befindet sich dort nur ein einziges "Ich" nah bei der Mitte des Gedichtes, das sich dann gegen Ende (in einer ungewöhnlichen stilistischen Merkwürdigkeit) in ein kollektives "Wir" verwandelt. Aber ich möchte mich auf dieses "Ich" des Dichters konzentrieren und mit Ihnen hinhören auf einige der inneren Kämpfe unseres Autors, um mit diesem immer gegenwärtigen, immer distanzierten, nicht greifbaren göttlichen Wesen in Beziehung zu sein.
Wie eine Biene, die Blütenstaub sammelt, werden wir uns auf einige Verse niederlassen und uns beim Herumgehen von unserer Nase leiten lassen, so wie der Wind (die ruach, der Geist) uns führt. Und wir werden sehen, was wir sammeln und was wir aus dem Gesammelten machen können. Wer weiß, vielleicht kann es süßer sein als Honig, als Honig aus Waben (Psalm 19,11).
Erfarhung von Nähe
Beginnen wir am Anfang. Psalm 16, Vers 1. Wie beginnt er? Scha"m"reni el, ki chasiti vach: "Bewahre/bewache mich, Gott, denn ich habe…"
Was habe ich? Sofort kommt bei mir eine Frage auf. Wie können wir chasiti vach übersetzen? Bedeutet es - wie die meisten Übersetzungen sagen - "weil ich in Dir Zuflucht genommen habe"? Dies wäre eine Aussage des Dichters über Nähe zu Gott, über die Sicherheit, die von daher kommt, dass eine Beziehung, eine Unmittelbarkeit und Intimität besteht, aus der die Bitte hervorgehen kann. Als ob der Dichter zu Gott sagen würde:
‚Sorge weiterhin für mich - denn das ist die Beziehung, die wir schon haben… In der Vergangenheit habe ich bei Dir Zuflucht gesucht, ein Gefühl, beschützt zu sein, in Sicherheit zu sein, und jetzt kann ich bitten in dem Vertrauen, dass Du meine Bitte erfüllen kannst und wirst, denn so stehen die Dinge zwischen uns…" Sollen wir also übersetzen: "Ich habe in Dir Zuflucht genommen" - mit dieser Bedeutung von Vertrautheit zwischen dem, der spricht undschreibt und seinem Gott, einem tiefen Gefühl der Verbundenheit? Ja, ich denke, wir können das. Aber ich denke nicht, dass das alles ist, was in diesem Satz steckt. Ich denke, etwas ist in seinem Inneren verborgen.
Lasst uns diesen Satzteil chasiti vach ein wenig anders übersetzen. Nicht: "Bewahre mich, Gott, weil ich in Dir Zuflucht gefunden habe", sondern: "Bitte bewahre mich… weil ich in Dir Zuflucht gesucht habe." Oder sogar - indem die Nuance der hebräischen Verbform lebendig bleibt - "bewahre mich… weil ich in Dir Zuflucht suche." Dies macht die Bitte mehr zu einem Flehen, zu einem nervösen, besorgten Wunsch. Die Suche nach Zuflucht ist eine fortdauernde Bewegung auf Gott hin - ohne Gewissheit über das, was geschehen wird. Ein Wunsch ohne automatische Erwartung, dass er erfüllt wird. Wir wissen: wenn wir suchen, finden wir nicht immer.
Suche nach Nähe
So stelle ich die Frage: Ist dies das Gedicht eines Menschen, der sich sicher fühlt - oder unsicher? Oder, um die Frage noch umfassender zu stellen: Ist es ein Gedicht von jemandem, der sich sicher fühlen möchte, die sich auf den Weg macht, um ihre Nähe zu Gott kundzutun - die aber nicht anders kann, als bei der Entfaltung des Gedichtes ihre Unsicherheit zu verraten. In anderen Worten, offenbart der Sprachgebrauch des Dichters seine unbewussten Ängste? Oder, um noch einen Schritt weiterzugehen, ist diese Psalmeröffnung das Beispiel eines Dichters, der durch den bewussten Gebrauch der sprachlichen Zweideutigkeiten - weil er ein Wort gewählt hat, das in zwei Richtungen weist - in seinen Lesern und Hörern genau diese Art von Fragen hervorrufen möchte? Um zu vermitteln, dass diese Themen - der Nähe zu Gott, des Wunsches nach Nähe zu Gott, des Verlangens danach, sich sicher zu fühlen und von einer Macht, die größer ist als wir selbst, umsorgt zu sein - dass diese Wünsche und Hoffnungen von ihrem Ausgang her offen sind. Sie sind nicht gelöst, bevor wir beginnen. Ganz gleich wie stark wir auf dieses Gefühl der Sicherheit in unserem Leben hoffen, wir müssen der Ungewissheit, dem Zweifel, dem Nicht-Wissen ins Gesicht schauen. Wenn wir dabei sind, Zuflucht zu suchen, bedeutet das, dass wir noch auf den Ausgang, die Antwort warten. Wird es eine Antwort geben? Wir warten - gespannt? ruhig? resigniert? - auf das, was als nächstes passieren wird. "Ich suche noch immer Zuflucht in Dir… aber ich bin noch nicht da." Ist der Psalmist dabei, auf die existenzielle Unsicherheit, die unausweichlich in den Stoff religiösen Seins gewoben ist, hinzuweisen, uns dafür zu öffnen?
Jetzt denken Sie vielleicht, dass ich zuviel in die Zweideutigkeit dieses Satzes hineinlese. Aber ich glaube, wir können im ganzen Psalm 16 unter der Oberfläche die Zweifel und Unsicherheiten des Dichters hören. An der Oberfläche gibt es Vertrauen: das Vertrauen, Gott nahe und von Gott beschützt zu sein. Aber die andere Seite ist nie weit weg. Schauen Sie zum Beispiel den Vers 8 an. Schiviti Adonai le"negdi tamid - "Ich habe den Ewigen immer vor mir gestellt…", ki mi"mini bal-emot. Wie können wir die zweite Vershälfte übersetzen, verstehen? Was ist die Kraft dieses kleinen Wortes ki? Heißt es: "Weil Gott mir zur Rechten ist, werde ich nicht bewegt" - ein Ausdruck von Sicherheit und Gewißheit? Oder heißt es, was im Hebräischen genauso gut sein könnte: "Wenn Gott mir zur Rechten ist, werde ich nicht bewegt" - ein Ausdruck der Verwundbarkeit, eine besorgte Anerkennung durch den Psalmisten, daß er, auch wenn er immer versucht hat, mit seinem Gott in enger Beziehung zu sein - er hat Gott immer vor sich gestellt - trotzdem wie ein Kind in einem leeren Haus ist, das auf die Rückkehr eines seiner Eltern wartet. Keine Sicherheit ist möglich, bis das Kind den Schlüssel in der Tür und die Schritte im Flur hört. "Nur wenn ich Gott so nahe spüren kann wie meine rechte Hand, nur dann werde ich mich sicher fühlen…"
Was ich hier aufzeigen möchte, ist die Doppelseitigkeit dieser Verse und dieser Sprache, eine Doppelseitigkeit, die wir, glaube ich, nicht nur in diesem Psalm hören können, sondern in mehreren Psalmen dieses Teiles. Auf einer Ebene geht es hier offenkundig um die Zweideutigkeit, das Fließende der Sprache - aller Sprache. Aber ich glaube, es geht hier auch noch um etwas anderes.
Denn unsere Wahl von Worten, ob sie geschrieben oder in unserem alltäglichen Sprechen sind, hat zwangsläufig eine psychologische Dimension. Sodass, sobald wir ausdrücklich von Nähe sprechen - von der Erfahrung von Nähe oder vom Wunsch nach Nähe - wir eventuell implizit (unbewusst sozusagen) von einer Sorge sprechen: sie hat zu tun mit Distanz, Trennung, dem Wunsch, uns nicht abgeschnitten, isoliert, verlassen zu fühlen. Zum Beispiel, wenn ich zu einem anderen Menschen sage: "Ich fühle mich dir sehr nahe", oder "Ich möchte mich dir nahe fühlen", ist dieser bewusst ausgesprochene Wunsch oder dieses Verlangen, unweigerlich mit einer Reihe von unausgesprochenen Gefühlen ganz anderer Art verbunden, wie etwa: "Ich möchte mich nicht einsam fühlen, ich möchte das Gefühl haben, erwünscht zu sein, ich möchte mich nicht von menschlicher Wärme und menschlichem Kontakt abgeschnitten fühlen; die Angst vor diesen schmerzlichen Gefühlen führt dazu, daß ich in der Nähe zu dir Zuflucht suche…"
Aus psychoanalytischer Perspektive gehören Fragen, die mit Nähe und Trennung zu tun haben, zum Kern unseres Menschseins. Vom Moment unserer Geburt an - das heißt, von dem Moment an, in dem wir uns vom Umschlossensein im Mutterschoß trennen, in dem wir vom Eins-Sein getrennt werden - nehmen wir teil an einem intensiven Drama. Ein Drama, in dem unsere Erfahrungen von Gehaltensein, Gefüttert- und Getröstet- und Unsterstütztsein (zusammen mit den unvermeidlichen Störungen in diesen grundlegenden Bestandteilen unseres Wohlbefindens) mit der Zeit die Schablone dafür schaffen, wer wir sind und wie wir die Welt erfahren. Unsere lebenslangen Kämpfe mit Fragen der Nähe und Distanz, der Intimität und Trennung, des Kontaktes und des Mangels an Kontakten - ob diese mit unseren Beziehungen mit anderen oder mit Gott zu tun haben - nehmen ihre komplexe Form an von der Weise, wie wir diese grundlegenden Themen in den frühen Monaten und Jahren unseres Lebens erfahren haben.
Kehren wir also zurück zu unserem Psalm, zu den letzten zwei Versen, nach den Zweideutigkeiten, den Doppelseitigkeiten der Verse, von denen ich gesprochen habe. Wir finden das Thema des Verlassenseins, die Möglichkeit, verlassen zu sein, das in die Gedanken des Psalmisten einbricht. Vers 10: Du wirst meine Seele nicht im Scheol, in der Unterwelt, verlassen. Du wirst deinem Gerechten nicht die Erfahrung geben, das dunkle Loch zu sehen.
Vertrauen und Zwiefel
Wir können diese Bilder so verstehen, dass sie von einer Angst vor dem sprechen, was nach dem Tod geschehen wird. Oder wie Bilder, die eher Metaphern sind und mit Erfahrungen im Leben zu tun haben: in einem Zustand der Isolation oder Depression oder psychischer Trostlosigkeit zu sein, von einem Gefühl des Wohlbefindens abgeschnitten zu sein. Wie auch immer, die Angst vor Trennung von Gottes schützender Umarmung bricht hier in aller Deutlichkeit durch, eine Angst, von der ich angedeutet habe, dass sie von Anfang des Psalms an implizit da ist. Die Nähe und Fürsorge Gottes, Gott als sichere Zuflucht, sind vielleicht das, was zutiefst erwünscht wird - aber unsere Tage sind von Zweifeln überschattet, ob unsere Hoffnung nach Sicherheit und Nähe sich verwirklichen wird. Hoffnung, die im letzten Vers des Psalmes, Vers 11, wiederkehrt. Wo wir wieder nicht ganz wissen, wie er zu lesen ist. Ist er eine Aussage von vertrauendem Wissen - "Du läßt mich den Pfad des Lebens kennen"?
Oder ist er der Ausdruck eines besorgten, noch unerfüllten Verlangens: "Du wirst mich den Pfad des Lebens kennen lassen (nicht wahr?)…" Fühlt sich der Dichter Gott nahe, oder möchte er sich Gott nahe fühlen? Was er weiß oder zu wissen scheint, ist dass die "Fülle der Freude in Deiner Gegenwart ist - panecha, buchstäblich: Deinem Gesicht". Wie das zufriedene Baby, das dem lächelnden Gesicht seiner Mutter zuschaut. Wie das zufriedene Baby, das sicher gehalten wird - "in Deiner Rechten, angenehme Dinge, die fortdauern - nezach - wie auf ewig" - in der umschließenden, wachenden Gegenwart seiner Mutter versunken. So beendet unser Psalmist das Gedicht mit einem Bild der Verzückung. Der Psalm geht vom Wunsch, Gott möge an der "Rechten" des Dichters sein (Vers 8) zum Wunsch, der Dichter möge sich in Gottes "rechter Hand" kuscheln (Vers 11): ein Bild von erhoffter Erfüllung, aber paradoxerweise in einem Bild der Regression, was psychologisch wunderbar angemessen ist.
Ich hoffe, diese Themen der Nähe und Trennung, der Intimität und der Distanz und die psychologische Resonanz, die sie in uns erzeugen, sagen Ihnen etwas und sind Ihnen eine Hilfe beim Nachdenken über die Psalmen, die wir diese Woche studieren. Offensichtlich habe ich hier und jetzt nicht die Zeit, um zu illustrieren, inwieweit ich glaube, dass diese Themen darin gegenwärtig sind, aber vielleicht habe ich in diesem letzten Teil die Zeit, mit Ihnen dem einen hebräischen Verb, von dem ich vorhin sprach, nachzugehen.
- chasa: Zuflucht suchen/finden - ist in diesen 15 Psalmen auch anderswo präsent (es kommt viermal vor). Und ich hoffe, ich kann seine Bedeutungsschattierungen und Zweideutigkeiten als Prisma benützen, durch das wir sehen können, wie diese größeren Themen arbeiten.
Wir finden es das nächste Mal in Psalm 17, Vers 7. Es ist schwierig, das Hebräische zu entwirren, aber es heißt in etwa so: Zeige mir wie wunderbar Deine Liebe/Dein Erbarmen sein kann,
Du, der Du mit Deiner Rechten rettest
diejenigen, die Zuflucht suchen (chosim) vor Ihren Angreifern…
Und sofort darauf folgt ein schönes, sehnsuchtsvolles Doppelbild von Schutz:
Bewahre mich wie Deinen Augapfel,
Verberge mich im Schatten Deiner Flügel… (Vers 8)
Der mütterlich-väterliche Blick Gottes und seine Umarmung halten und umfangen und tragen diejenigen, die Zuflucht suchen (chosim) von ihren Angreifern (mi"mitkom"mim, buchstäblich: "diejenigen, die sich erheben"). Und obwohl wir dies natürlich als einen Wunsch nach Schutz gegen äußere Angreifer verstehen können, ist es auch möglich, den Satz - der in dieser Form in der Bibel nur hier vorkommt - im Sinne einer Verwundbarkeit durch interne verfolgerische Kräfte zu verstehen: all die Gedanken, Ängste, Besorgnisse, Frustrationen, aggressiven Instinkte, die wir in uns haben, die "sich erheben", um unseren Geistesfrieden zu stören seit den ersten Tagen unseres Lebens bis zu diesem Moment. Wer sucht nicht "Zuflucht" vor diesen Angriffen auf unser Wohlbefinden, unser Selbstbewußtsein und unsere Fähigkeit zu Nähe? Und ob wir uns an Gott wenden oder an einen anderen Menschen - oder an beide - wir suchen die Nähe, um eine Auswahl von verfolgerischen Erfahrungen unter Kontrolle zu halten: was der nächste Vers "meine Feinde des/im Selbst" nennt (oivai b"nefesch), "die mich umgeben/die Runde machen in mir (yakifu alai)" (V. 9). Und wieder benützt der Dichter einen Ausdruck, der auf eine Weise widerhallt, die wir in Bezug entweder auf äußere oder auf innere feindliche Mächte hören können. Ein Zeichen der Größe der Kunst dieses Dichters ist seine Fähigkeit, diese Spannung zu halten, diese Hinweise in zwei Richtungen gleichzeitig durch seine sprachliche Auswahl. Wir könnten fast sagen, er sei inspiriert.
Das nächste Mal finden wir unser Verb chasa am Anfang von Psalm 18 wieder. Wenn wir hier wirklich das Dankeslied Davids nach seiner Errettung vor Saul haben - wie die Überschrift glauben läßt (Vers 1) - dann ruft das Überleben einer lebensbedrohenden Erfahrung von echter Gefahr im Psalmisten ein sicheres Gefühl hervor, in seinem Gott "Zuflucht gefunden" zu haben. Dieses Gefühl wird kraftvoll zum Ausdruck gebracht:
Der Ewige ist meine Klippenflanke, meine Burg, mein Retter; mein Gott, mein Fels - Ich finde Zuflucht in/mit ihm (ech"e"se bo) - mein Schild, mein Horn der Rettung, mein hoher Turm… (18,3).
Achten Sie darauf, wie der Dichter sich selbst ins Epizentrum des Verses stellt - "ich finde Zuflucht" - mit den Bildern und Metaphern der Kraft, des Schutzes, der Sicherheit, die das Ich des Dichters völlig umgeben. Von seiner Struktur her widerspiegelt der Vers die Erfahrung: Gott ist auf allen Seiten. So ist es, wenn man "Zuflucht findet": sicher gehalten zu sein, umgeben, wie ein Fötus, als sei man im Schoße Gottes. So nahe wie es nur möglich ist, nahe zu sein.
Später in diesem Psalm, in Vers 31, finden wir eine Weiterentwicklung dieser Idee. Nicht nur Gott selbst gibt diese Erfahrung, sondern seine "Wege" und "Worte":
Gott - ganz/vollkommen ist sein Weg;
das Wort des Ewigen ist geprüft-und-wahr;
er ist ein Schild für alle, die in ihm Zuflucht suchen/nehmen (l"chol ha-chosim bo)…
Das Suchen erreicht sein Ziel
Dies ist ein Suchen, das sein Ziel erreicht. Ein Suchen, das in einem Finden endet. Passenderweise wurde dieser Vers aus dem Psalm herausgehoben und wird in der Liturgie gebraucht gerade bevor die Tora im Synagogengottesdienst gelesen wird. Denn im jüdischen Denken verkörpert die Tora ein Bündel von Themen: der "Weg" Gottes, das "Wort" Gottes, der schützende "Schild" Gottes. Zuflucht ist möglich. Wir sind nicht alleine. "Tagein tagaus gibt Gott Tora."
Ein letzter Text. Ein Text, der uns an unseren Anfang zurückbringt. Denn unser Verb chasa erscheint in diesen Psalmen zum letzten Mal in Psalm 25. Der ganze Psalm kann als ein Psalm über Distanz verstanden werden - die Distanz, die der Psalmist Gott gegenüber fühlt. Es ist natürlich der Wunsch des Psalmisten, sich nicht getrennt zu fühlen, denn eines der Dinge, die aus dem Gefühl getrennt zu sein hervorgehen, ist ein Gefühl der Scham: Mein Gott, ich habe auf Dich vertraut - lass mich nicht beschämt sein… niemand, der auf Dich wartet, wird sich schämen" (Verse 2-3) Es ist, als ob Nähe der natürliche Zustand sei, und Trennung wird als ein Mangel, ein Fehler in uns selbst erfahren. Als sei sie unsere Schuld. Aber andererseits könnte es sein, dass es zu riskant, zu beängstigend ist, dem, der uns "warten" läßt, die Schuld zu geben. Es ist leichter, uns selbst die Schuld zu geben. Aber dann zeigt sich der verleugnete Zorn, der in ein Gefühl der Scham umgewandelt wurde: "Mein Gott, ich habe auf Dich vertraut! - laß mich nicht beschämt sein…"
Aber sollte derjenige, der die Distanz wahrt, nicht ein Gefühl von Scham haben? Oder ist das ein zu häretischer Gedanke? Daß Gott sich schämen könnte oder sollte, weil er uns all diese Zeit warten läßt?
Es ist jedoch charakteristisch, dass das, was der Psalmist wiederholt - und es ist ein Hauptthema in diesem Psalm - sein eigenes Warten ist: Auf Dich warte ich tagein tagaus. (Vers 5) Aber die Folgen all dieses Wartens sind beunruhigend, schmerzhaft. Das Warten führt zu einem schrecklichen Gefühl der Einsamkeit, der Isolation:
Wende Dich mir zu, sei mir gnädig, denn ich bin allein und geplagt; die Nöte meines Herzens werden größer. Führe mich heraus aus meiner eingeengten Not… (Verse 16-17)
Wir hören in diesen Worten das bewegende Flehen einer Seele, die leidet. Wir erkennen sein Gefühl der Isolation - nicht zum ersten Mal in diesen Psalmen ("Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" 22,2). Aber der Psalmist weigert sich, der Hoffnungslosigkeit nachzugeben:
Behüte meine Seele, errette mich,
laß mich nicht beschämt sein, denn ich habe in dir Zuflucht gesucht (ki-chasiti vach)… (Vers 20).
Und dann sofort nach dem letzten Erscheinen unseres Schlüsselwortes chasa:
Integrität und Redlichkeit mögen mich erhalten/ bewahren, denn/während ich auf Dich warte… (V. 21)
So sehen wir hier klarer als je zuvor, wie das Verb chasa, Zuflucht suchen, mit Warten, Warten und Hoffen verschmolzen ist. Dies bestätigt unseren anfänglichen Verdacht, dass chasa in entgegengesetzte Richtungen weisen kann: Zuflucht suchen ist nicht dasselbe wie Zuflucht finden und kann dies auch nicht garantieren. Der Wunsch nach Nähe zu Gott ist ein Wunsch mit immer ungewissem Ergebnis.
Aber hier springt etwas anderes aus unserem Text hervor. In der Abwesenheit Gottes, während wir suchen und während wir warten, müssen wir unsere besten menschlichen Qualitäten und Fähigkeiten voll gebrauchen. Wir bringen aus unserem Inneren so viel Integrität und Redlichkeit auf wie möglich, und wir hoffen, daß diese Qualitäten uns erhalten, uns bewahren werden, während wir auf dieses stets gegenwärtige, stets ungreifbare göttliche Wesen warten (V. 21).
Und dies ist der Moment im Psalm, in dem der Dichter seinen großen fantasievollen Sprung vom Persönlichen zum Kollektiven macht: Erlöse Israel, Oh Gott, aus all seinen Nöten (V. 22). Als ob er sagen möchte: "Dieses Warten und Hoffen, diese Suche nach Zuflucht in Dir - diese isolierte, schmerzliche, schamerfüllte Situation, in der ich mich befinde - dieses Warten und Hoffen ist nicht nur meine eigene persönliche Erfahrung. Sie kann es nicht sein. Das zu denken wäre unerträglich. Dies ist sicher die Situation von uns allen: sie ist unsere gemeinsame menschliche, kollektive Erfahrung… Sind wir nicht alle Israel, die wir durch das Tal des Todesschattens gehen (23,4), die wir warten auf Erlösung aus all unseren Nöten?
Und in einer verstümmelten Welt, in der Hoffnung und Geschichte sich nicht mehr reimen, sitzt und wartet der Psalmist - unser Zeitgenosse - während die letzten Worte seines Gedichtes in der Luft hängen, am Rande des Abgrunds.