Nur ein wenig Anstand

Mimi Schwartz (USA) beschreibt, was sie bei einem Besuch im Schwarzwalddorf, aus dem ihr Vater geflohen war, und in Israel über die Geschehnisse in der “Reichskristallnacht' erfuhr.

Nur ein wenig Anstand

Mimi Schwartz

Während in der Nacht vom 8. zum 9. November 1938 im nazistischen Deutschland die Synagogen brannten, wurde im deutschen Dorf meines Vaters eine Thora-Rolle gerettet. Nicht von Juden, sondern von Christen. Ich sah diese Thora fast fünfzig Jahre später in den Räumen einer Gedenkstätte in Israel, die von Juden gebaut worden war, die nach jener Nacht, der so genannten „Reichskristallnacht“ aus Deutschland geflohen waren und auf einem anderen Kontinent einen neuen Anfang gemacht hatten. Ich kann noch immer den alten Mann mit der Kibbuzkappe hören, wie er sagte: “Ja, die Nazi-Ganoven kamen von außerhalb, von Sulz, um die Synagoge zu zerstören, aber die Christen entschieden sich dazu, für die Juden zu retten, was immer möglich war. Und so haben wir diese Thora noch immer!“

Er war stolz darauf, und ich war glücklich. Selbst eine so kleine Geschichte der Güte war beruhigend für mich, die mit den Hollywood-Filmen der 1950ziger Jahre aufgewachsen war, in denen Deutsche in schwarzen Stiefeln Juden töteten. Gab es damals andere Deutsche, die Thoras retteten? Ich dachte an das Vertrauen der Anne Frank, die noch vor dem Ende schrieb: „Ich glaube immer noch, trotz allem, dass die Menschen im tiefsten Herzen gut sind.“ Ich wollte das auch glauben, aber hatte es nie gewagt: Zu viele waren in illusorischem Optimismus gestorben. Dennoch, diese gerettete Thora mit ihren verkohlten Rändern – sie hatte sogar einen Messerstich abbekommen – gab mir zu denken: Vielleicht, nur vielleicht. . . .

Ein paar Monate später entdeckte ich, dass in jener Nacht eine zweite Thora aus dem Dorf gerettet worden war. Diese ist jetzt in Burlington, Vermont, USA, und die Witwe des Mannes, der sie nach dort brachte, erzählte mir, dass „ein Nichtjude, der sie auf der Straße hatte liegen sehen, bei sich dachte: Das ist einfach nicht recht! Ein heiliges Buch!“ Er nahm die Thora an sich, begrub sie in seinem Garten und brachte sie in einer Nacht zum Ehemann dieser Frau, der beim Packen war, um nach Amerika zu entfliehen.

Ich wünschte mir, dass alle – das ganze Dorf – die Thoras der Synagoge gerettet hätten. Aber die meisten Menschen taten, was ihnen von einem auf der Straße schreienden Mann befohlen worden war, blieben in den Häusern und zogen die Vorhänge zu. Das ist es, was ich von den Juden hörte, die aus dem Dorf geflohen waren und auch von den Christen, ihren ehemaligen Nachbarn, die in diesem kleinen Ort blieben. Sie erinnerten sich, wie „alle vor Hitlers Auftreten so gut miteinander ausgekommen waren“ und dass es Menschen gegeben hat, die versuchten, während der Nazi-Zeit gute Sitten zu wahren. Wie jene zwei christlichen Tischler, die am Tag nach der Kristallnacht die eingeworfenen Fensterscheiben der Juden ersetzten. Wie der Schuhmacher, der trotz des Verbots weiterhin jüdische Schuhe reparierte. Wie die Frau des Besitzers des Lebensmittelladens, die nächtlich ihrer alten jüdischen Nachbarin Suppe brachte. Wie der Landwirt, der 1940 in einer öffentlichen Versammlung aufstand und sagte, dass Juden, die in seinem Betrieb zu arbeiten hätten, am jüdischen Sabbat nicht zu arbeiten brauchten, ganz gleich, ob es dazu Nazi-Bestimmungen gäbe oder nicht.

Diese kleinen Handlungen des Anstands waren den Schrecken des Holocaust nicht gewachsen – nicht einmal erwähnenswert, wenn doch neunundachtzig Menschen, ein Drittel der Juden dieses kleinen Schwarzwalddorfes nach Riga, Teresienstadt und Auschwitz deportiert wurden. Aber ich wollte [die Erzählungen darüber] anhören. Gerade weil das Ausmaß der Rettungen und des zivilen Anstands so klein und machbar waren, fühlte ich mich veranlasst, ganz nüchtern zu fragen: „Was hätte ich getan? Und was würde ich jetzt tun, wenn meine Nachbarn bedroht würden?“ Ich bin kein Raul Wallenberg oder Oskar Schindler, nicht mutig genug, Tausende zu retten. Ich bezweifle, dass ich mutig genug bin, das Leben meiner Familie zu riskieren. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich in der Nacht jemandem Suppe bringe oder Fenster repariere – oder sogar unter dem Deckmantel der Nacht eine Thora rette (oder einen Koran oder ein Neues Testament!), wenn es für Menschen geschähe, die ich kannte, mit denen ich in Frieden gelebt und eine Geschichte geteilt hatte.

Besonders, wenn ich wüsste, dass andere solche Dinge auch tun. Nicht nur ein paar andere, aber viele andere, wie in Billings, Montana, USA, vor ein paar Jahren. Als eine Hass-Gruppe eine Bierflasche auf ein Haus mit einer Hanukkah Menorah im Fenster warf, und das splitternde Glas ein fünf-jähriges Kind im Haus traf, klebten die Bewohner aller Glaubensrichtungen Fotokopien von Menorahs an ihre Fensterscheiben. Die Hass-Gruppen begingen weitere Gewalttaten, und die Bewohner „reagierten, indem sie mehr Menorahs in die Scheiben klebten,“ bis nach einer Massen-Kundgebung gegen Hass-Gruppen, „die Gewalttaten endeten – und die Skinheads – verschwanden.“ Ich las dies in der Zeitung Salt Lake Tribune, es war Teil eines Artikels, der über eine lokale Konferenz über Hass-Verbrechen berichtete. Aber was würde geschehen, wenn diese Geschichte, und andere wie diese, auch in den abendlichen Nachrichten oder auf Seite eins der New York Times, der USA Today erscheinen würde? Würden wir, die zwar Ängstlichen aber Anständigen, nicht mehr inspiriert werden?

Ich habe gerade eine E-Mail von zwei deutschen Freunden erhalten, die ich im Dorf meines Vaters getroffen hatte. Sie waren nach Kriegsende in Stuttgart geboren worden und wussten wenig über die Juden, bis sie vor etwa zehn Jahren ein Landhaus in der Nähe des alten jüdischen Friedhofs des Dorfs meines Vaters kauften. Sie sahen sich jüdischen Gräbern gegenüber, die sich im Alter über drei Jahrhunderte erstrecken und wollten mehr wissen (es gibt jetzt keine Juden mehr im Dorf), darum schlossen sie sich einer Organisation von über hundert Christen dieser Gegend an, die Veranstaltungen fördern, damit die Menschen nicht vergessen, was in der Nazizeit geschah. (Sie fördern auch Programme, die einen Beitrag zur Integration von Muslimen im Dorf anbieten.) Ihre E-Mail erzählte, wie sie gerade eine Neo-Nazi-Kundgebung verhindert hatten, die in einer in der Nähe liegenden Stadt geplant war. Erschöpft, aber stolz auf ihre erfolgreiche Gegendemonstration, schrieben sie: „Wir waren überrascht, wie viel Unterstützung wir von den Menschen erhielten . . . mit Hilfe vieler örtlicher Vereinigungen, Schulen und Gewerkschaften. Sie können einen Blick auf unsere kleine Homepage werfen und ... Sie werden hier alle Zeitungsartikel und Fotos finden.“

Wenn Anne Franks Vertrauen eine Chance haben soll, brauchen wir Armeen von Menschen, die es, wie die in Billings und in meines Vaters Dorf, ablehnen, die schweigende Mehrheit in bequemem Schweigen zu belassen. Ihre Handlungen des Anstands, seien sie groß oder klein, müssen erzählt und immer wieder erzählt werden, wo politischer Extremismus – im Irak, in Darfur, dem Gaza-Streifen, wo auch immer – die Integrität von Nachbarn angreift, die versuchen, gut miteinander auszukommen.

 

Editorische Anmerkungen

Mimi Schwartz ist emeritierte Professorin des Richard Stockton College in New Jersey, USA. Sie war MacDowell Fellow, Geraldine R. Dodge Fellow, und Fellow der Fakultät der Princeton University. Diese Geschichte wurde ihrem jüngsten Buch entnommen, Good Neighbors, Bad Times - Echoes of My Father"s German Village, University of Nebraska Press, March 2008. (Gute Nachbarn, schlechte Zeiten – Echos aus dem deutschen Dorf meines Vaters). Ihre Web URL ist mimischwartz.net

Aus dem Englischen übertragen von Fritz Voll