Genau wie Sie, so ringe auch ich mit den Worten „Niemals wieder!“. Was sind die Gebote und die Verantwortlichkeiten, die sich aus Erinnerungen und aus dem Gedenken ergeben müssen? Ich bin ein Kind Deutschlands. Teile meiner Familie kamen schon vor den Kreuzzügen an den Rhein nach Bad Kreuznach. Andere flohen vor der Verfolgung in Toledo in Spanien und kamen nach Anrath bei Krefeld. Unser Familienhaus in Anrath steht heute unter Denkmalschutz. Tausend Jahre engster Verbundenheit mit dem, was später zu Deutschland wurde. Wie für viele Juden, war Deutschland das Land meiner Vorfahren. Deutsch war die Sprache und die Kultur, die ihrem Leben Ausdruck und Bedeutung gab. Ich kannte schon mit fünf Jahren den „Struwwelpeter“ auswendig (und ich bin, ehrlich gesagt, heute nicht sicher, wie ich dieses gemeinsame Erbe von uns beurteilen soll!). Ich habe meinen Kindern deutsche Gute-Nacht-Lieder vorgesungen, und mache dasselbe jetzt bei meinen Enkelkindern. Obwohl ich soweit von Deutschland entfernt, in den USA, geboren wurde, bin ich aufgewachsen als ob das Zuhause meiner Familie noch immer in Krefeld wäre. – Die Erinnerungen an Deutschland prägen mein Erbe und prägen mich. Ich stehe hier heute vor Ihnen als Kind Deutschlands.
Und dennoch kann das so wiederum auch nicht stimmen. Keinesfalls. Meine Mutter wurde als Kind von der Schule geworfen, auf die sie ging. Mein Großvater wurde inhaftiert. Die meisten unserer Verwandten ermordet, erschossen, vergast. Das Haus unserer Familie wurde in der Pogromnacht zerstört. Meine Familie musste fliehen, verarmt, verängstigt. Leben und Träume in Trümmern. Als meine Großmutter nach dem Krieg wieder nach Krefeld kam, sagte sie: „Die Nazis haben mir alles genommen, außer meinen deutschen Akzent. Und ich wünschte, den hätten sie mir auch genommen.“ – Das gehört auch zu meinen Erinnerungen: die Shoa, der Völkermord, christliche Mitschuld und Mittäterschaft an der Erniedrigung und Ermordung so vieler: Juden, Sinti und Roma, Homosexueller, Linker. Ich stehe heute hier auch als Opfer, als jemand dessen Erbe durch die Nazi-Brutalität geprägt wurde. Ja, auch das gehört zu meinen Erinnerungen und zum Gedenken, das mich prägt.
Als ich 1968 als junger Teenager durch Deutschland getrampt bin, wurde mir auf erschreckende Weise deutlich, dass die deutsch-jüdische Kultur meiner Familie nicht nur jüdisch war, sondern einfach deutsch. Das heißt, ebenso die Kultur der Nazis. Jahrzehnte später, in einem Gespräch mit dem damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer, erinnerte er mich daran, dass unser gemeinsames Erbe durch mehr als nur durch gemeinsame Gute-Nacht-Lieder geprägt ist. Die gesellschaftlichen Umbrüche 1968, in Deutschland wie in den USA, waren ein Aufbäumen gegen die Welt, die wir geerbt hatten. Wir, jüdische Kinder von Opfern ebenso wie Kinder von Nazis, haben so viel gemeinsam, meinte Joschka Fischer, dass wir nur gemeinsam den Schrecken der Vergangenheit Sinn abringen könnten; dass wir nur gemeinsam unsere Erinnerungen nutzen können, um eine gerechtere, bessere und verantwortungsvollere Welt zu schaffen. Als mir das klar geworden war, öffnete sich der Weg zur Versöhnung. Die gemeinsamen, die „guten Wege“ zu suchen, die darkhei noam, wie es in Sprüche 3,17 heißt, Wege des Friedens. Und auf diesen Wegen nachzusinnen, was es heißt: „Niemals wieder!“
Wie und woran, also, sollen wir gedenken? Und wie heilig soll das Gedenken sein? Der brillante jüdische Historiker Josef Yerushalmi schrieb in seinem Buch „Zakhor“, dass die Bibel kaum etwas mehr fürchtet, als den Verlust der Erinnerung. Die größte Mitzvah, das wichtigste Gebot der Tora ist es daher, zu erinnern und zu gedenken. Was aber, wenn die Erinnerungen unserer Welt überwältigen? Gibt es bei Erinnerung auch eine Gefahr? Und anders herum: Kann es auch so etwas wie ein heiliges Vergessen geben, wie Yerurshalmi fragt? Was wir erinnern und wie wir an Dinge gedenken, ist von entscheidender Bedeutung.
Daher also: Was heißt es, „Niemals wieder!“ zu sagen?
Für viele meiner jüdischen Geschwister bedeutet „Niemals wieder!“, dass wir Juden uns selber verteidigen müssen gegen die Übergriffe in einer brutalen Welt. Weil die Welt uns jedenfalls nicht verteidigen wird. Weil aus der Perspektive zu vieler auf dieser Welt der einzig gute Jude immer noch der leidende Jude ist, ein machtloser Jude. Weil Christen und Muslime niemals einen starken Juden akzeptieren werden, auch kein starkes Israel, das seine Feinde besiegen kann. Weil sie keine Welt akzeptieren werden, in der jüdische Lobby und jüdische Macht gebraucht werden können, um Stimmen im amerikanischen Kongress oder amerikanische Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen. – Auch ich vertraue auf jüdische Stärke und Macht. Ich vertraue darauf, dass wir als jüdisches Volk in der Lage sein müssen, uns selber gegen die zu verteidigen, die uns anderenfalls zerstören würden. Als ich während des Abnutzungskriegs 1969 in einem Kibbuz in Israel lebte, habe ich die Grenze verteidigt gegen die, die mich, meine Familie und meine jüdischen Geschwister anderenfalls getötet hätten. – Ich habe keine Angst vor jüdischer Macht und Stärke, die gerecht und ethisch ist. Als Jüdinnen und Juden im 21. Jahrhundert müssen wir die Gelegenheit nutzen, die Gott uns am Berg Sinai gegeben hat, nämlich eine starke und heilige Nation zu werden. Um uns dabei selber auch verteidigen zu können, um niemals wieder so verletzbar zu sein, wie es meine Familie damals in Deutschland gewesen ist. Ich halte dies für eine notwendige Konsequenz aus dem „Niemals wieder!“, sowohl für Sie, als auch für mich, für Deutsche und für Juden, um unserer Erinnerungen willen. Wie Gott Abraham in Genesis 18 versprochen hat: „Deine Nachkommen werden ein großes Volk in einem eigenen Land sein.“ Das ist auch mein Erbe. – Und dennoch gibt es hier ein Problem: Das Judentum entstand in der Diaspora, der Zerstreuung, in einer Situation völliger Machtlosigkeit. Es ist verhältnismäßig leicht, ethische Standards einzufordern, wenn man selber unterworfen und unterdrückt ist, wenn man am Boden liegt mit einem Stiefel auf der Kehle und einem Gewehrkolben auf der Schläfe. Ethik mit Macht ist eine schwerere Sache. In dem Moment, wo Juden zu eigener Macht kommen, kann das Gedenken an die Shoa nicht mehr herhalten zur Rechtfertigung eigenen Verhaltens, nicht mehr herhalten zur moralisch-ethischen Selbstverteidigung. Nicht alle Kritik am Staat Israel, so werden wir sagen müssen, ist ein Produkt von Antisemitismus. Die Tora betont immer wieder die Verpflichtung Israels auf Recht und Gerechtigkeit. Das heißt doch aber: Das Gedenken an die Shoa verlangt, dass sich mein jüdisches Volk selber verteidigt. Das Gedenken an die Shoa kann aber nicht als Erklärung oder Entschuldigung für Ungerechtigkeit herhalten.
Es gibt noch eine andere Schlussfolgerung, die sich aus dem „Niemals wieder!“ ziehen lässt. Für mich bedeutet „Niemals wieder!“ auch, dass ich überall dort zur Verantwortung rufe, wo Böses geschieht, wo Völkermord droht, wo Diskriminierung und fanatischer Hass zum Kennzeichen einer Nation, eines Volkes, einer Religion werden. Meine Erfahrungen als Nachkomme von Überlebenden des Genozids am jüdischen Volk, meine Erfahrungen als Nachfahre meiner ermordeten Familienmitglieder muss für mich als Lichtstrahl dienen, der das Böse hell erleuchtet, der mir hilft, die bösen Antriebe in der Welt zu bekämpfen, die so viel Leid verursachen.
Ich lese einige Verse des Propheten Jesaja, Kapitel 42,
„Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.“ (V. 6f)
Machen wir uns klar, was für eine Herausforderung an Gott es war, dass Abraham in Genesis 18 für Sodom und Gomorra eintrat und Gott entgegenhielt:
„Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ (V. 25)
Wenn von uns erwartet wird, dass wir selbst Gott zur steten Gerechtigkeit herausfordern sollen, um wie viel mehr wird von uns zu erwarten sein, dass wir gegen die Ungerechtigkeit von Regierungen vorzugehen haben, gegen Menschen, die mit ihren Worten Hass sähen, die Gewalt gegen Schwache zulassen oder sogar dazu anstacheln; Gewalt gegen Fremde, gegen die oder den „anderen“. In der Tora gibt es eine Vielzahl von Geboten, von Mitzvoth, aber nur ein einziges Gebot wird immer und immer wieder wiederholt, mehr als dreißig Mal: „Du sollst für die Witwe, den Waisen und den Fremdling sorgen, der in deiner Mitte wohnt, denn ihr seid selber Fremdlinge gewesen in Ägypten!“ Warum muss dieses Gebot so oft wiederholt werden? Vielleicht hängt das mit dem pathologischen Umstand zusammen, dass ein Kind, das missbraucht wurde, selber zum Täter werden kann. Dass das Opfer zum Täter werden kann. Hierin liegt in der Tat eine Gefahr auch für den Staat Israel, dass die Seele und die Erinnerung des jüdischen Volkes so schrecklich gekennzeichnet ist von den Misshandlungen.
Was Sie, hohe Synode, als Thema auf Ihre Tagesordnung gesetzt haben und weshalb ich heute hier bei Ihnen bin, ist eine außergewöhnliche Herausforderung: Ein Ringen um das Gedenken, ein Kampf um das „Niemals wieder!“ Was sollen wir tun, wenn wir im eigenen Überlebenskampf und in Selbstverteidigung des Staates Israel, der jüdischen Heimstätte, die 1947/48 wie der Phönix aus der Asche der Shoa entstanden ist, die Fähigkeit erhalten haben, ein anderes Volk zu unterwerfen, jahrzehntelanges Leid und Diskriminierung für die Palästinenser zu verursachen? Was sollen wir tun? Mit Sicherheit will ich die Juden 1940 in Deutschland in keiner Weise mit den Palästinensern 2016 gleichsetzen. Denn Palästinenser, die zur Hamas oder zum Islamischen Jihad gehören, die die Zerstörung Israels wollen, ermorden und terrorisieren Juden. Und selbstverständlich gab es auch schon Hass auf Juden, der schon vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und auch schon vor der Staatsgründung Israels 1948 bei den arabischen Staaten verbreitet war. Und dennoch: Was sollen wir tun, frage ich, wenn das legitime Recht Israels, eine freie Nation in seinem eigenen Land zu sein, wenn dieses gleiche Recht nicht den Palästinensern zugestanden wird, nämlich ebenfalls eine freie Nation in eigenem Land zu sein? Ich habe von zwei verschiedenen Shoa-Erinnerungen gesprochen: Einerseits begründet das „Niemals wieder!“ das Recht auf Selbstverteidigung. Andererseits begründet es aber eben auch die Verpflichtung, wachsam bei Vorurteilen und bei Ungerechtigkeiten gegenüber einem unterdrückten Volk zu sein.
Die Resolution, die Sie für diese Synode entworfen haben, ist eine passende Antwort auf dieses Dilemma. Sie stehen fest, wie sie das als Evangelische Kirche im Rheinland und als Gesellschaft in Deutschland insgesamt seit Jahrzehnten schon tun, in der Solidarität für den Staat Israel und seine Bedeutung als eine Heimstätte des jüdischen Volkes. Sie unterstützen Israel als eine Gelegenheit für das jüdische Volk, Geschichte zu schreiben, die Traditionen, Texte und Erfahrungen des jüdischen Volkes zu nutzen, um eine demokratische Nation zu prägen, die jüdische Flüchtlinge aus aller Welt aufnimmt, die sich aber für das Recht all ihrer Bürgerinnen und Bürger einsetzt. Israel als „Licht für die Völker“, als or la-goyim, als Erfüllung von einer der Verheißungen Gottes. Das ist Ihre Vision, die Sie von Israel haben. Und wenn es auch noch keine Realität ist, so sehen wir doch, Sie und ich, dass mit Glaube und Hoffnung unser Traum von Israel eines Tages Wirklichkeit werden kann.
Gleichermaßen stehen Sie heute, als Kirche, die für Recht und Gerechtigkeit eintritt, für das Recht eines palästinensischen Staates ein, als eine Heimstätte für das palästinensische Volk. Sie unterstützen einen Staat Palästina als Möglichkeit für das palästinensische Volk, Geschichte zu schreiben, seine entstehende Identität als einzigartiges Mitglied der Völkergemeinschaft zu nutzen, um eine Heimstätte für Palästinenser auf der ganzen Welt zu sein, um eine demokratische Nation aufzubauen, die das Recht all ihrer Bürger schützt, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Geburtsort. Auch ein solches Palästina ist noch keine Realität, sondern vorerst nur eine Vision, ein Versprechen, und genau das setzt Ihre Resolution ins Recht. Die Worte, die Sie hier gefunden haben, werden kein gerechtes und demokratisches Palästina hervorbringen – das bleibt die Aufgabe des palästinensischen Volkes. Unsere Hoffnung muss aber sein, dass Ihre Initiative hier und heute zusammen mit anderen mutigen Initiativen zweierlei bewirken kann: dem palästinensischen Volk das Vertrauen zu geben, sein Schicksal selber konstruktiv in die eigenen Hände zu nehmen. Und dem Staat Israel das Vertrauen zu geben, dass sich ein zukünftiger Staat Palästina dem Frieden verschreiben wird. Ihre Resolution ist kein Selbstzweck, sondern ist erst ein Anfang und noch nicht das Ziel. Ich möchte Sie aber ausdrücklich ermutigen, ziehen Sie los, predigen Sie, unterrichten Sie, unterstützen Sie die friedlichen, demokratischen Bemühungen von Israelis und Palästinensern. Heute gilt es oft schon als Häresie, wenn man überhaupt nur die Perspektive des Gegenübers hört. Sie können helfen, die Geschichten von Juden, Muslimen und Christen zu sammeln, die Leid erfahren haben und dennoch auf dem Weg der Koexistenz bleiben. Sie können die Geschichten von Respekt und Toleranz ins Licht rücken, statt nur auf die Gewaltgeschichten zu starren, die beide Seiten so oft vor sich hertragen. Sie können weiterhin Unterstützung und Stimme für viele Gruppen und Individuen sein, die so viele Grenzen überschreiten, um Palästinenser und Israelis zusammenzubringen. Stärken Sie die guten Ansätze und das konstruktive Engagement derer, die „Suchende des Friedens“ sind, rodfei shalom, statt auf den Horror zu blicken, der auf beiden Seiten verbrochen wird. Das Gute erleuchten, statt das Böse weiter anzufachen.
In der Mischna, im Traktakt Pirkei Avot 2,6, heißt es: „Wo niemand ein Mann ist, sei ein Mann! (- oder, in heutiger, weniger sexistischen Sprache: „Wo keiner den Mut hat, sei mutig!“) In einer Situation, da die Verantwortlichen in Palästina und in Israel beide nicht Manns genug sind, um eine Differenzierung zwischen den beiden Ländern vorzunehmen, um ein Ende dieses Konflikts zu suchen, stehen Sie auf und erheben die Stimme, zeigen auf einen Weg, der vorhanden ist und der aus dem Konflikt herausführen könnte. Chazak v’ematz – Seien Sie stark und unverzagt! Seien Sie hoffnungsfroh in Ihrem Bemühen einen Beitrag leisten zu wollen, dass sich der Verlauf der Geschichte vom Konflikt und Leid hin zu gegenseitigem Respekt, Hoffnung und Frieden wandeln möge.