Nostra Aetate heute neu schreiben

Es ist für mich auch eine Ehre, hier zu sitzen, denn ich komme aus Wien, so wie auch John Oesterreicher und Franz Kardinal König, die maßgeblich zum Entstehen dieses Konzilstexts beigetragen haben.

Wie John Connelly in seinem Buch „From Enemy to Brother: The Revolution in Catholic Teaching on the Jews, 1933–1965” (Harvard University Press 2012) feststellt, lebten viele der Protagonisten von Nostra Aetate „at the symbolic crossroads of national and religious affiliation, as children who had grown up in the polyglot and multiethnic territories of East-Central Europe, where confidence of an integral identity was always uncertain.” (Review by Peter E. Gordon) Es ist bis heute ein vielfältiger und spannender Kulturraum entlang der Donau geblieben! Franz König war Religionswissenschaftler und es war seine Idee, aus dem christlich-jüdischen Textentwurf ein Dokument über die Beziehung der Kirche zu den Religionen zu machen. Auf diese Weise rettete er die Erklärung über die Juden für das Konzil. So jedenfalls wird es in Wien erzählt. Aber wir wissen, dass Heiligenlegenden ja eine ganz eigene literarische Gattung sind.

Wie sollen wir Nostra Aetate heute schreiben? Ganz ohne kreativ sein zu müssen: Es wäre zunächst gut, einfach festzuhalten, wie weit kirchliche Äußerungen im christlich-jüdischen Verhältnis seit 1965 schon gegangen sind. Auch wenn kirchliche Lehre sich oft als überzeitlich und unveränderlich versteht – sie ist doch auch ein Kind der Zeit und des Zeitgeists, so dass es hilfreich ist, das einmal Erreichte aus den verschiedenen kirchlichen Quellen zusammenzutragen und zu dokumentieren. So könnten wir mit Luther sagen: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.” Phil Cunningham hat das dankenswerterweise in seinen theologischen Aufsätzen immer wieder gemacht. Leider kommt diesen bislang keine lehramtliche Autorität zu.

Nostra Aetate war erst der Anfang

In diesem Winter brachte die katholische Presseagentur in Österreich eine begeisterte Analyse zum Nostra Aetate Jubiläum. Darin schrieb sie, Nostra Aetate verurteile den Antisemitismus, Nostra Aetate brächte ein Eingeständnis kirchlicher Schuld an Judenverfolgungen und Nostra Aetate formuliere, dass die Kirche die Wurzel ihres Glaubens in Israel nie vergessen dürfe. Im Unterschied zum wohlmeinenden Redakteur der Kathpress wissen Sie hier natürlich, dass Nostra Aetate all das gerade nicht tat – oder höchstens in Ansätzen. Aber es zeigt, wie selbstverständlich die Errungenschaften der christlich-jüdischen Erneuerung heute wahrgenommen und mit diesem Dokument in Verbindung gebracht werden.

Das Konzil „beklagte“ den Antisemitismus nur, es verurteilte ihn nicht. Ein Schuldbekenntnis erfolgte erst im Heiligen Jahr 2000 von Papst Johannes Paul II. und das Konzil findet kein positives Wort über das Judentum als solches. Es stellt das Judentum nur in Beziehung zum christlichen Glauben dar. Über die Muslime heißt es in Nostra Aetate 3: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten.“ In Nostra Aetate 4 finden wir keine solche ausgesprochene Wertschätzung des jüdischen Glaubens. Inzwischen haben die Päpstliche Bibelkommission und auch Papst Franziskus hier zu klaren Aussagen gefunden, die das abschließen, was Nostra Aetate noch offen gelassen hat: „Gott ist dem Bund mit Israel immer treu geblieben, und die Juden haben trotz aller furchtbaren Geschehnisse dieser Jahrhunderte ihren Glauben an Gott bewahrt. Dafür werden wir ihnen als Kirche, aber auch als Menschheit, niemals genug danken können.“

Die „Lehre der Verachtung“ endlich beenden

Damit haben wir das grundlegende Thema, das wir in „Nostra Aetate heute“ unbedingt aufgreifen müssten: eine positive Aufnahme des Judentums, wie es sich selbst versteht, die Erwähltheit (s)eines Volkes, dessen beständiger Bund mit Gott, das Geschenk der Tora und die Gabe des Landes. Wir sollten bekräftigen, dass wir als Christen oder Katholiken untrennbar mit dem jüdischen Volk unterwegs sind auf dem Weg durch die Zeit hin zur Vollendung. Und wir sollten daran erinnern, dass das zweite Kapitel von Nostra Aetate auch als Schlüssel für Kapitel vier gilt: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie (deren) Handlungs- und Lebensweisen, (deren) Vorschriften und Lehren.“

Denn genau das tut die kirchliche Lehre und Verkündigung oft nicht, wenn es um das Judentum geht. Wie oft wissen Prediger und Lehrer doch ganz genau, wo das Judentum und die Tora angeblich veraltet, archaisch, unmenschlich, unvollkommen und unbarmherzig seien, wo die jüdische Tradition Erneuerung und Verbesserung brauche, wogegen Jesus und das Christentum die Spitze, die Erfüllung, die Überbietung und Vollkommenheit in Liebe darstellten.

Ich würde meine Vision so beschreiben: Das klassische Nostra Aetate ist kirchenzentriert, es sieht das Judentum aus kirchlicher Sicht, weil die Kirche erkannt hat, dass es ihre eigene Identität schändet, wenn sie das Judentum schändet. Unser neues „Nostra Aetate revised“ müsste heilsgeschichtlich zentriert sein und klar vom Vorrang der Erwählung Israels und der Offenbarung Gottes in seinem Volk Israel ausgehen. Die Kirche, die Kirchen und die Christen kommen erst an zweiter Stelle. Natürlich haben die Kirchen und die christliche Theologie in der Geschichte ihre eigene Entwicklung gemacht und viele kulturelle, theologische und philosophische Traditionen in sich aufgenommen. Aber mit dieser heilsgeschichtlichen Perspektive müsste von nun an klar sein, dass die jüdischen Kategorien und Verstehenshilfen eine unabänderliche Vorgabe für uns sind, so unabänderlich wie das Jude-Sein Jesu. Auch die Stellungnahme „Nostra Aetate revised“ geschieht freilich um unseretwegen, um der Kirche willen, denn das Judentum hat es nicht nötig, dass ein kirchliches Lehramt ihm seine Erwählung bestätigt. Die Haltung aber ist eine andere: Die Kirche erklärt nicht, der Andere ist so oder so, sondern die Kirche hört darauf, wie das Judentum sich selbst versteht, sie ist eine Lernende, die sich selbst verpflichtet, sich durch die Gegenwart des lebendigen Volkes Israel herausfordern zu lassen . Und sie ist dankbar, von Israel das Geschenk der Offenbarung erhalten zu haben und dieses mit dem erwählten Volk teilen zu dürfen.

Die Polemik des ersten Jahrhunderts überwinden

Wir brauchen also eine neue Hermeneutik, einen neuen Verstehensschlüssel für unseren Glauben. Das ist nicht einfach zu bekommen, wir werden darum ringen müssen: Die historische Wissenschaft wird dazu etwas beitragen wie auch die religiöse jüdische Gelehrsamkeit heute und auch die Erfahrung der aktuellen Weggemeinschaft mit bestehenden jüdischen Gemeinden – in all ihren Richtungen – als unseren Nachbarn. Auch die schmerzende Erinnerung an die Schoa und die tatkräftige Sorge um deren Opfer auch in der Generationenfolge wird diese Suche nicht unbeeinflusst lassen. Daraus wird sicherlich nicht so rasch eine einheitliche und klare Vorgabe wachsen, wie man es als Katholik vielleicht versucht ist, sich zu wünschen. Aber ex negativo lässt sich sicherlich sagen: Der polemische Blick der jüdischen Autoren unseres Neuen Testaments auf andere jüdische Strömungen in einer bestimmten geschichtlichen Situation in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung kann nicht mehr die normative Vorgabe unseres Verstehens heute sein. Diesen neuen Schlüssel müssen wir verpflichtend gerade auch in der systematischen Theologie, besonders in der Christologie umsetzen, auch um dem Preis, manche traditionelle Einsichten und Formulierungen aufgeben zu müssen. Wenn diese vielleicht 1.500 Jahre bestanden hatten, verleiht das ihnen nach menschlichem Ermessen zwar Dauerhaftigkeit ja Unveränderlichkeit, sub specie aeternitate mag es jedoch nur eine Episode, ein kurzer Irrweg oder Umweg gewesen sein.

Eine tragfähige und solidarische Beziehung leben

Jenseits eines kirchlichen Dokuments müssen wir das Vertrauen unseres jüdischen Gegenübers in die Ernsthaftigkeit, Unumkehrbarkeit und Dauerhaftigkeit unserer Bemühungen um ein tragfähiges christlich-jüdisches Verhältnis gewinnen: indem wir den persönlichen Kontakt und Freundschaften mit jüdischen Menschen pflegen, indem wir uns treu an die Seite der lokalen jüdischen Gemeinde(n) stellen, indem wir jüdische Quellen grundlegend studieren und überlegen, was sie für uns bedeuten. Und indem wir klar die Konsequenzen daraus ziehen.

Unsere jüdische Gesprächspartner könnten fragen: Wir haben euch erklärt, wie wir das Kommen des Messias verstehen. Wir sagten euch, was „Sohn Gottes“ aus unserer Sicht bedeuten kann. Wir haben euch dabei begleitet, die Botschaft des Rabbi Jesus als Lehrer der Leben spendenden Tora neu kennenzulernen. Wir haben euch gezeigt, was Pharisäer wirklich lehrten und wie sie dachten. Welche Konsequenzen zieht ihr daraus? Wollt ihr das wirklich von uns hören oder ist es nur eine folgenlose Beschäftigungstherapie?

Und weiter könnten sie fragen: Warum lest ihr jedes Jahr lang und breit die Passionserzählungen, in der Kirche im Gottesdienst, im heiligen Rahmen? Sie sind polemisch gegen Juden ganz allgemein und stecken voller Unkenntnis unserer rechtlichen Tradition. Ihr lest sie sogar zweimal (am Palmsonntag und am Karfreitag) und wegen der Länge der Lesung nimmt man sich oftmals nicht einmal die Zeit, sie durch eine Predigt zu erklären und zu kommentieren. So erwecken sie den Eindruck, es seien „Berichte“ und nicht theologisch gestalteten Lehrerzählungen. Warum reißt ihr dadurch jedes Jahr wieder alte Wunden auf?

Gottseidank besuchen Juden nicht allzu regelmäßig die Sonntagsmesse, so dass sie nicht hören, was dort alles über sie gesprochen wird. Aber die theologische Wissenschaft hat den „hermeneutischen Juden“ eingeführt: Was würde ich predigen und verkündigen, säße ein Jude, eine Jüdin in der Zuhörerschaft?

Klärungen im Glaubensbekenntnis

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken ansprechen, der alle Christinnen und Christen betrifft, nicht nur die Katholiken: Wir müssen über unser Glaubensbekenntnis nachdenken und es in einigen Punkten ergänzen, ja präzisieren. Immer wieder wurde etwa darauf hingewiesen, dass darin ein Verweis auf das befreiende und heilende Wirken Jesu in seinen Erdentagen gänzlich fehlt. Für unser Thema müssen wir klärend darauf bestehen, dass „Gott der Vater der Allmächtige“ der Gott Israels ist, der Israel als sein Volk erwählt und geheiligt hat und ihm die Tora gegeben hat. Und Jesus ist nicht „Mensch geworden“ sondern „Jude geworden“ – Iudaeus factus est. Ich denke, wenn wir das Sonntag für Sonntag wiederholen und die Worte selbstverständlich in unser Herz gehen und aus dem Herzen kommen, wird das auch unser Denken und Tun verändern.

Fragen Sie mich jetzt nicht, wie das mit allen Kirchen zusammen konkret umgesetzt werden kann und wie wir zu einer neuen Formulierung kommen. Da vertraue ich auf den Heiligen Geist – aber wenn dieser mich braucht, bin ich dabei.

 

Editorische Anmerkungen

Statement bei einer Podiumsdiskussion auf der Jahrestagung 2015 des Internationalen Rats der Christen und Juden in Rom.

Zur Person Markus Himmelbauer siehe hier auf JCR.