Neue Denkansätze für das Verhältnis von Christen und Juden

Eine Übersicht über die geschichtstheologische Neubestimmung des Verhältnisses Jesu zu seinem jüdischen Umfeld und die damit verbundene Veränderung der Bildersprache, die für das christlich-jüdische Verhältnis in der jüngeren neutestamentlichen Forschung gebraucht wird.

Neue Denkansätze für das Verhältnis von

Christen und Juden

Der gegenwärtige Dialog mit Juden und dem Judentum zeigt mittlerweile Auswirkungen auf das Verständnis des Neuen Testaments und der Alten Kirche sowohl in christlichen als auch in jüdischen Kreisen. Es lässt sich eine regelrechte Revolution in wissenschaftlichen Studien zum Neuen Testament und zur Alten Kirche und ebenso in den parallelen Studien zum Judentum dieser Zeitperiode beobachten. Im Bereich christlich-biblischer Studien erleben wir ein rasantes Ende der Vorherrschaft der frühen „Religionsgeschichtlichen Schule“ mit ihrer Betonung eines nahezu vollkommenen hellenistischen Hintergrunds des paulinischen Christentums und ihrer modifizierten Ausprägung bei Rudolf Bultmann und einigen seiner Schüler wie Ernst Käsemann und Helmut Köster. Diese exegetischen Herangehensweisen an das Neue Testament untergruben Jesu konkrete Bindungen an das biblische Judentum und an das Judentum des zweiten Tempels, sowie seine Verwurzelung in ihm. Dies wiederum führte zu einer allzu universalistischen Interpretation der Botschaft Jesu, die in sich den Keim für den theologischen Antijudaismus barg.

Es gibt eine ganze Reihe führender biblischer Theologen, einige von ihnen mit kontinentüberschreitendem Einfluß bis heute, die zu der Entjudaisierung des christlichen Glaubens beigetragen haben. Einer der berühmtesten ist Gerhard Kittel, der ursprüngliche Autor des sehr wichtigen Standardwerks „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“. Er vertritt eine Sicht des nachbiblischen Judentums – einschließlich des Judentums zur Zeit Jesu – als einer Glaubensgemeinschaft, die sich weitgehend in Auflösung befindet. Für Kittel war das treffende Symbol des nachbiblischen Judentums der Fremde, der heimatlos über die Erde wandert.

Eine andere wichtige Figur war Martin Noth, dessen „Geschichte Israels“ für Professoren und Studenten gleichermaßen ein Standardwerk wurde. Noth beschrieb Israel strikt als religiöse Gemeinschaft, die im ersten Jahrhundert vor Christus eines langsamen, qualvollen Todes starb. Nach Noth erreichte die jüdische Geschichte ihr Ende im Auftreten Jesu. Aber Jesus selbst war schon nicht mehr ein Teil der Geschichte Israels. Mit Jesus war die Israels Geschichte an ihrem Schlußpunkt angelangt, da die religiöse Gemeinschaft Jerusalems Jesus abgelehnt und verdammt hatte.

Das wichtigste Beispiel einer solch antijüdischen Interpretation der Bedeutsamkeit Jesu war Rudolf Bultmann. Doch anders als Kittel, der wegen seiner Sympathien für die Nazis 1945 von seinem Tübinger Lehrstuhl entfernt wurde, griff Bultmanns Auslegung nicht in den Bereich der Politik über. Doch gemäß seinem theologischen Verständnis des Christusgeschehens hatten Juden und Judentum seit dem Kommen Jesu wenig oder gar keine Bedeutung mehr. In seiner „Theologie des Neuen Testaments“ vertrat er die Meinung, daß von der Existenz eines jüdischen Volkes seit dem Aufkommen des Christentums nicht mehr die Rede sein könne. Jüdisches Gesetz, Ritual und Frömmigkeit hätten Gott in ein fernes Reich verwiesen, hingegen könne doch jeder einzelne Mensch durch die bleibende Gegenwart Jesu im Gebet um so näher zu Gott gelangen. Bultmanns Verständnis des Judentums gründete sich auf völlig unangemessene Quellen bezüglich des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels und bezüglich des Verhältnisses Jesu zu dessen Lehren.

In den letzten Jahrzehnten konnten wir eine dramatische Abkehr von der Vorherrschaft des antijudaistischen Verständnisses des Neuen Testaments beobachten, wie es etwa von Kittel oder Bultmann vertreten worden war. Durch Wissenschaftler wie W. D. Davies, E. P. Sanders, Douglas Hare, Daniel Harrington, Robin Scroggs und viele andere ist das Neue Testament schrittweise von dem befreit worden, was Professor Arthur J. Droge einmal „die bultmannianische Gefangenschaft“ genannt hat. Das bedeutet nun nicht, daß unter diesen Hochschullehrern eine völlige Einigkeit im Blick auf die genaue Ausprägung des Judentums, die Jesus am unmittelbarsten beeinflußt hat, bestünde. Gravierende Quellenprobleme und Zweideutigkeiten werden sicher auf absehbare Zeit für die Fortsetzung einer lebhaften Debatte sorgen.

Robin Scroggs hat eine gute Zusammenfassung über diese Entwicklungen geschrieben. Er betont dabei die folgenden Punkte:

  1. Die Bewegung, die mit Jesus anfing und nach seinem Tod in Palästina fortwirkte, kann am besten als eine Reformbewegung innerhalb des Judentums beschrieben werden. Es gibt keinerlei Beleg aus dieser Zeit dafür, daß Christen eine von Juden getrennte Identität gehabt hätten.
  2. Die paulinische Missionsbewegung, wie Paulus selbst sie verstanden hat, war eine jüdische Mission, die die Heiden als rechte Adressaten des Rufes Gottes an sein Volk mit einschloss.
  3. Vor dem Ende des jüdischen Krieges mit den Römern im Jahre 70 n.Zt. gab es eine Größe namens „Christentum“ nicht. Die Nachfolger Jesu verstanden sich nicht als Träger einer Religion über oder gegenüber dem Judentum. Eine unverkennbare christliche Identität entwickelte sich erst nach dem Krieg.
  4. Die späteren Teile des Neuen Testaments lassen zwar alle Anzeichen einer Trennungsbewegung erkennen, doch sie bewahren im Grundsatz auch einiges an Verbindung mit ihrem jüdischen Ursprung.

Andere jüdische und christliche Lehrer haben diese Neubewertung der Trennung des Christentums vom Judentum weiter untersucht und verstehen sie mittlerweile als einen sehr komplexen Vorgang von beträchtlicher Dauer. Unter den bedeutendsten Lehrern sind Haim Perelmuter, Jacob Neusner, Efraim Shmueli, Robert Wilken und Anthony Saldarini zu nennen. Diese Lehrer haben die Vielfalt der „Judentümer“ zur Zeit Jesu belegt – so daß das Christentum auch gar nicht als die Erfüllung eines monolithischen Blocks „Judentum“ verstanden werden kann – und belegt, daß die vollständige Trennung von Kirche und Synagoge erst nach etlichen Jahrhunderten abgeschlossen war. Sie haben Anzeichen für eine fortdauernde christliche Teilhabe am jüdischen Gottesdienstleben bis ins zweite und dritte Jahrhundert, an einigen Orten sogar noch bis ins vierte Jahrhundert hinein, gefunden – insbesondere im Osten. Dies bedeutet, daß die unter Christen weitverbreitete Ansicht, die Kirche sei bereits zur Zeit ihres Entstehens als solche voll etabliert gewesen, im Licht der neuen historischen Erkenntnisse unhaltbar geworden ist.

Diese jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen nötigen uns meines Erachtens, das jüdisch-christliche Verhältnis nachhaltig neu zu bedenken. Über Jahrhunderte war das bestimmende Modell dieser Beziehung vom Gedanken der Verdrängung und der Ersetzung bestimmt. Demnach hätten die Juden ihre Bundesbeziehung zu Gott durch die Ablehnung der Person Jesu verwirkt, und die Kirche hätte das jüdische Volk in der Bundesbeziehung zu Gott ersetzt. Diese Beziehung wurde oft in recht dramatischer Weise dargestellt, etwa an der Fassade des Straßburger Münsters, wo die Kirche als eine dynamische, vorwärts schauende junge Frau, die Synagoge hingegen als eine innerlich gebrochene Frau mit verbundenen Augen und zerbrochenen Steintafeln in der Hand dargestellt wird.

Seit den Anfängen des ernsthaften Überdenkens der Beziehung zwischen Christen und Juden in den christlichen Kirchen vor etwa vierzig Jahren sind neue Denkansätze entwickelt worden.

Bund

Erste Untersuchungen zeichneten Juden und Christen entweder beide als Glieder eines einzigen, fortdauernden Bundes (wenn auch auf unterschiedlichen Wegen und in verschiedenen Rollen) oder als Glieder zweier verschiedener, aber doch paralleler Bundesschlüsse. Das Ein-Bund-Modell war deutlich das vorherrschende. Ich für mein Teil habe das Modell zweier Bünde bevorzugt und diesen Ansatz im Detail in meinem Buch „Jesus und die Theologie Israels“ dargelegt. Das Ein-Bund-Modell hat den Vorteil, daß es die bleibende Verbundenheit zwischen Juden und Christen hervorhebt. Der Denkansatz eines zweifachen Bundes hingegen verdeutlicht stärker die klare Umwandlung jeder der beiden Traditionen bis zu ihrer völligen Trennung voneinander.

Schisma

Ein weiterer früher Denkansatz war die Bezeichnung der Trennung von Christen und Juden als ein „Schisma“. Kardinal Carlo Martini von Mailand, ein bekannter Bibelgelehrter, machte diese Sichtweise in seinen Veröffentlichungen bekannt. Aus der Perspektive eines „Schismas“ wäre die Trennung von Christen und Juden besser nicht geschehen. Darum müsse alles dafür getan werden, um sie zu überwinden. Als eine Folge des „Schismas“ wird gesehen, daß die Christenheit damit einen lebenswichtigen Teil ihrer Glaubensperspektive aufgab.

In den letzten Jahren haben viele Hochschullehrer – ich selbst eingeschlossen – damit begonnen, diese frühen Bemühungen einer Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses kritisch zu hinterfragen. Das Ein-Bund-Modell ist in seiner Blickrichtung zu eindimensional und hat nicht die Vielgestaltigkeit der „Judentümer“ zur Zeit Jesu im Blick. Gleiches gilt für die „Schisma“-Theorie. Das Modell eines zweifachen Bundes erklärt besser die schrittweise Trennung, tendiert jedoch dazu, die bleibende Verbundenheit zwischen Juden und Christen herunterzuspielen, die doch christliche Persönlichkeiten wie Papst Johannes Paul II. gerade besonders stark unterstrichen haben.

Unter den neuerdings propagierten Ansätzen für die christlich-jüdische Verhältnisbestimmung erscheinen mir folgende besonders vielversprechend zu sein.

Geschwister

Zunächst ist hier die „Geschwister“-Konzeption der jüdischen Lehrer Alan Segal und des späten Hayim Perelmuter zu nennen. Sie hat den Vorzug, daß sie einerseits die Verbundenheit durch Geburt unterstreicht, andererseits aber auch den Raum für Verschiedenheit offenhält. Geschwister sind verwandt, aber sie sind kaum jemals identisch.

In die gleiche Richtung zielt der Ansatz von Mary Boys in ihrem sehr empfehlenswerten neuen Buch „Hat Gott nur einen Segen?“ Sie beschreibt Juden und Christen als "fraternal twins",  „zweieiige Zwillinge“. Dieses Bild hat die gleichen Vorteile wie „Geschwister“, doch es scheint eine noch tiefergehende Verbindung zu beinhalten als das Bild von den Geschwistern.

Partner in der Erwartung

Clark Williamson befürwortet in seinem Buch „Zu Gast im Hause Israel“ eine Verhältnisbeschreibung, die er „Partner in der Erwartung“ nennt. Diese Vorstellung drückt eine eher zukunftsoffene als etablierte Verhältnisbestimmung aus. Sie unterstreicht wohl die christlich-jüdische Verbundenheit, allerdings lange nicht so stark wie die Begriffe „Geschwister“ oder gar „zweieiige Zwillinge“. „Partner“ sind schließlich nicht durch grundlegende Familienbande miteinander verknüpft.

Gleichzeitig entstehende Religionsgemeinschaften

Die letzte Vorstellung, die ich an dieser Stelle erwähnen möchte, ist die der „gemeinsam aufstrebenden Religionsgemeinschaften“. Diese Perspektive wird derzeit von dem Hochschullehrer Daniel Boyarin von der Universität Kalifornien weiterentwickelt. Er argumentiert, daß das Resultat der umfangreichen Revolution im Judentum der Zeit des zweiten Tempels zwei neue, klar voneinander unterschiedene Gemeinschaften waren, nämlich das rabbinische Judentum einerseits und das Christentum andererseits. Seine Perspektive trägt sehr gut der heute verfügbaren historischen Sachlage Rechnung. Allerdings ist sie schwächer in Bezug auf die bleibende Verbundenheit von Juden und Christen, als die anderen Denkansätze .

Noch sind wir ganz in den Anfängen dieses zweiten gegenwärtigen Prozesses, das christlich-jüdische Verhältnis neu zu formulieren. Zum jetzigen Zeitpunkt der Debatte bvorzuge ich persönlich am meisten das Bild von den „Geschwistern“. Dennoch muß der Prozess des Abwägens weitergehen. Das neue historische Verständnis der schrittweisen Trennung und die theologische Kehrtwendung im Blick auf das jüdisch-christliche Verhältnis im Dokument „Nostra aetate“ des 2. Vatikanischen Konzils, sowie ähnliche protestantische Dokumente, wie etwa der Synodalbeschluß der Evangelischen Kirche im Rheinland, nötigen der Christenheit die Notwendigkeit einer tiefgründigen Neuorientierung auf, wie wir die Beziehung zwischen Christen und Juden grundlegend verstehen und beschreiben wollen.

All dies ist natürlich auch ein Thema für die jüdische Seite. Ich für mein Teil bin sehr erfreut, daß etwa das neue jüdische Dokument „Dabru Emet“ diese Fragen mit aufgegriffen hat.

Editorische Anmerkungen

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Grefen.