Nahöstlicher Realismus

Überarbeitung des für die ACK Homburg am 18. Januar 2007 in Kaiserslautern auf dem Kirchenboten-Forum zum Nahen Osten gehaltenen Referats.

Nahöstlicher Realismus

Überarbeitung des für die ACK Homburg am 18. Januar 2007 in Kaiserslautern auf dem Kirchenboten-Forum zum Nahen Osten gehaltenen Referats.

Dr. Klaus Beckmann

I.

Auch wir hätten im Sommer 2006 am liebsten „Frieden, aber sofort!“ gerufen.

Der Situation, wie sie sich uns darstellte, wären wir damit aber nicht gerecht geworden. Dieses Rufen schien uns zu einfach. Wirklich einen konstruktiven Beitrag leisten kann nur der, der eine Situation in ihrer Komplexität zu erfassen versucht, der nicht schwarz-weiß malt, sondern Grautöne wahrnimmt, allerdings die Grautöne dann auch unterscheidet. Die verschiedenen Parteien im Nahostkonflikt können nur verstanden werden auf dem Hintergrund ihrer politischen Grundpositionen, ihrer religiösen und ideologischen Programme. Die Fairness Israel gegenüber gebietet ein kritisches, zur Unterscheidung bereites Hinschauen. Wir haben unterschieden auf der einen Seite die Hisbollah, eine vom Iran und Syrien ausgehaltene Terrororganisation – mit sozialem Engagement –, die erklärtermaßen darauf aus ist, im Libanon eine religiöse Diktatur im Stil des Iran zu errichten und den Nachbarstaat Israel auszulöschen. Dass Israel seit 2000 im Libanon kein Besatzer ist, spielt in der Weltsicht der Hisbollah keine Rolle. Ihren Scharfmachern reicht das „zionistisch besetzte Gebiet“ vom Jordan bis zum Mittelmeer, ein „gutes Israel“ wäre einzig ein nicht existentes.

Auf der anderen Seite Israel, ein moderner Rechtsstaat mit weitgehend verwirklichter Gleichstellung der Geschlechter, mit geschützten Rechten für sexuelle Minderheiten, mit freier Presse und vielfältiger öffentlicher Meinung. Wir sehen in Israel durchaus einige Probleme, insbesondere dahingehend, dass seit 1967 ein Konzept für die besetzten Gebiete überhaupt fehlt. Dennoch halten wir Israel unter den Konfliktparteien des Nahen Ostens für die insgesamt am stärksten rational gesteuerte, am stärksten den Menschenrechten verpflichtete Kraft, was sich allein schon der Existenz einer pluralen kritischen Öffentlichkeit verdankt. Auch wenn ihre Argumente nicht immer überzeugen können und sie in der israelischen Demokratie keine Mehrheiten erzielen, tragen die Friedensgruppen wesentlich dazu bei, dass Israel trotz permanenter äußerer Bedrückung eine selbstkritische, für das Recht des Nachbarn prinzipiell sensible Gesellschaft geblieben ist.

Israel war von der Hisbollah – unter Duldung der libanesischen Regierung – jahrelang mit Raketen beschossen worden. Sich zu verteidigen, für die Sicherheit der eigenen Bürger einzutreten, ist nicht nur Recht, sondern Pflicht eines Staates. Israel war prinzipiell nicht im Unrecht, wenn es militärisch auf die Angriffe von jenseits der libanesischen Grenze reagierte. Ja, für Sicherheit und Frieden in der Region ist unerlässlich, dass dort allseitig lebensfördernde Strukturen entstehen, was aber in der Verantwortung aller politisch Beteiligten – und nicht nur Israels – liegt. Friede wird entwickelt. In einer akuten Bedrohungs- oder gar Angriffssituation jedoch ist die militärische Gegenwehr als letztes Mittel leider unvermeidbar – und legitim. Aus 3000 Kilometer entfernter sicherer Position eine „Verhandlungslösung“ mit der Hisbollah einzufordern und damit den in Israel Verantwortlichen das humanitäre Gewissen leichthin abzusprechen, zieht den Verdacht von Ignoranz und moralischer Überheblichkeit auf sich. Dass das militärische Vorgehen Israels in jeder Hinsicht maßvoll und geschickt war, darf bezweifelt werden und wird, bis hin zum Rücktritt des Generalstabschefs, auch in Israel kontrovers diskutiert. Die Kritik daran scheint uns freilich nur dann berechtigt, wenn Angriff und Verteidigung unterschieden wurden.

„Gewalt ist keine Lösung“: Ja, das stimmt. Nur ist leider die reale Situation so verfahren, dass es gar keine glatte „Lösung“ gibt. Pazifistische Prinzipienreiterei hilft nicht, die Realität friedlicher zu machen. Prinzipienreiterei bestätigt einen selbst in der Rolle des moralisch Überlegenen. Gebot des Glaubens ist indes nicht, den Überlegenen zu geben, sondern das Bemühen um politische Vernunft, ein abwägender Pragmatismus, der das den Menschenrechten verpflichtete Urteil nicht scheut, ohne sich dabei weltfremd zu überheben. Wir haben abgewogen und unterschieden zwischen der paramilitärischen Gewalt der Hisbollah, die das Leben von Zivilisten auf der eigenen Seite bewusst opfert und ein terroristisches Mittel ist zu dem völkermörderischen Endzweck, Israel verschwinden zu lassen, und der militärischen Gewalt Israels als letztem Mittel der Verteidigung dagegen.

Wer den Abwägenden einen Kriegshetzer schilt, offenbart das Scheitern seiner eigenen Maximen an der Realität. Die Idee einer großen Friedenskonferenz für den Nahen und Mittleren Osten ist wohl gut gemeint und hört sich gut an, läuft aber angesichts des Israelhasses in Teheran und Damaskus, bei Hisbollah und Hamas ins Leere. Es hätte des Teheraner Treffens der Holocaust-Leugner im Dezember 2006 nicht bedurft, um den Realitätsgehalt der Forderung nach einer Friedenskonferenz als derzeit gleich Null zu erweisen. Man leugnet den ersten Holocaust und träumt von einem neuen. Worüber da konferieren?

Wir behaupten ausdrücklich nicht, eine Lösung für den Nahostkonflikt zu wissen. Allerdings halten wir es für heuchlerisch, sich in der wesentlich komfortableren Situation Mitteleuropas über die israelische Politik erheben zu wollen, die sich mit Gewalt gegen mörderische Übergriffe wehrt. Ein Recht zur Selbstverteidigung hat Israel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die deutsche Bevölkerung eine vergleichbare Bedrohungssituation so gefasst und prinzipiell friedensbereit durchstehen würde, wie die israelische Bevölkerung es seit Jahrzehnten leistet.

Wir wissen keine Lösung für den Nahostkonflikt, akzeptieren aber schweren Herzens militärische Gewalt als letztes Mittel der Selbstverteidigung. Eine Pauschalverdammung militärischer Gewalt, die nicht zwischen Verteidigung und Angriff unterscheidet und die jeweiligen Zielsetzungen und ethischen Regeln des militärischen Agierens ignoriert, kommt in unseren Augen allzu bereitwillig dem deutschen Bedürfnis entgegen, einer konkreten Beschäftigung mit der eigenen staatlichen Verbrechensgeschichte auszuweichen; wenn alles Militärische gleichermaßen vom Teufel wäre, müsste über die speziellen Untaten von Wehrmacht und Waffen-SS ja nicht mehr geredet werden. Mit unserer differenzierten Haltung wissen wir uns demgegenüber in der besten Gesellschaft einer den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verpflichteten Theologie.1

II.

Im Blick auf den Staat Israel bitten wir um Fairness. Unbestritten sind Fehler der israelischen Politik – wobei unsere Politik sich unter vergleichbaren Umständen nicht zu bewähren hatte. Trotz aller Fehler lehnen wir es aber ab, Israel als Haupt- oder gar Alleinschuldigen für die Friedlosigkeit im Nahen Osten anzuprangern. Die negative Haltung der Nachbarn wird als Reaktion auf Israels Verhalten grundlegend verzeichnet. Es mag politische Missgriffe Israels geben, die den arabischen Hass noch stimulieren. Für den Hass bis zur Vernichtungsabsicht gibt es aber von Gaza bis Teheran ganz andere eigentliche Gründe. „Ohne Besatzung kein Terror“: Diese Formel lügt sich die Wirklichkeit zurecht. Terror gegen Israel gab es vor 1967 – die Gründung der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ geschah 1964, als Israel nach allgemeiner völkerrechtlicher Auffassung kein Besatzer war! –, und der Abzug aus dem Libanon 2000 und aus Gaza 2005, einschließlich der Räumung von Siedlungen, hat das Terrorpotenzial nicht gemindert. Da gibt es mörderische Konzepte, die sich die Probleme der Besatzung oder des Siedlungsbaus zum Vorwand nehmen und unsere Betroffenheit etwa angesichts der „Mauer“ propagandistisch gekonnt für sich mobilisieren.

Der arabische Hass auf Israel ist, wie die Forschung differenziert belegt,2 im Kern ein Erbe deutsch-völkischen Einflusses seit dem Ersten Weltkrieg, des arabischen Nationalismus und des Islamismus. Den Islamismus nennen Politikwissenschaftler mit guten Gründen die nahöstliche Variante des europäischen Faschismus.3 Nicht seine Politik, sondern die Existenz des jüdischen Staates überhaupt ist der Dorn im Auge von Hisbollah, Hamas und anderen Akteuren der Region. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind in der arabischen Welt populär, „Mein Kampf“ steht in arabischer Übersetzung auf Bestsellerlisten. Wer den Nahen Osten analytisch verstehen will, darf das nicht ignorieren. Bitte nicht die Araber als „edle Wilde“ ansehen, an die man keine aufklärerisch-zivilisierten Maßstäbe anlegen darf! Die Universalität der Menschenrechte verlangt nach universalen Standards zivilisatorischer Pflichten. Was wir hier nicht wollen, faschistische Ideologie nämlich, müssen wir auch dort missbilligen.

Ja, das Elend der palästinensischen Flüchtlinge schreit zum Himmel. Liegt es aber in Israels Verantwortung, dass sich diese Menschen 60 Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht in die arabischen Gesellschaften integrieren dürfen? Wird nicht ihr Schicksal durch arabische Entscheidungsträger zynisch benutzt, um ein politisches Druckmittel gegen Israel zu behalten, auch zum Zeichen dafür, dass man sich mit dem Ausgang des Unabhängigkeitskrieges wie des Sechs-Tage-Krieges, die beide von arabischer Seite angezettelt waren, nicht abfinden will?

Für einen Palästinenserstaat sind auch wir. Jedoch wäre es mehr als naiv, in einem entsprechenden Appell die schnelle Patentlösung des Nahostkonfliktes zu sehen. Dieser Staat müsste nicht nur in Israel, wo es ja eine wohlwollende Mehrheit zu geben scheint, gewollt werden, sondern genauso auch im Iran, in Syrien, bei den Ideologen von Hisbollah und Hamas. Dort würde man ein wirkungsvolles Propagandainstrument gegen Israel und eine Projektionsfläche für eigene innere Probleme verlieren. Schließlich müsste dieser Staat bereit sein, mit dem Nachbarn Israel wirklich zu koexistieren. Das Ergebnis der letzten, zu Recht als frei und korrekt gelobten Parlamentswahl im Januar 2006 macht da wenig Hoffnung. Dass nicht nur durch die Hamas, sondern ebenso durch den „gemäßigten“ Präsidenten Abbas die Hinrichtungen so genannter Kollaborateure wieder forciert worden sind, ist ein erschütterndes Indiz. Wünschenswert ist ein baldiges Ende der Besatzung und ein funktionierender Palästinenserstaat nicht nur im Hinblick auf die Palästinenser selbst, sondern ebenso im Blick auf die Kräfte im Umfeld, die dann endlich friedenspolitisch Farbe bekennen und sich ihrer hausgemachten Schwierigkeiten annehmen müssten.

Mit unserer Erklärung zum Israelsonntag 2006, die für das israelische Vorgehen im Libanon keine Blanko-Zustimmung, wohl aber Verständnis äußert, haben wir als ACK Homburg auf die von uns beobachtete Neigung reagiert, wieder einmal einseitige Schuldzuweisungen gegen Israel vorzunehmen und die Umstände geflissentlich zu übergehen. Woher rührt diese eilfertige Bereitschaft, Israel zum Alleinschuldigen zu stempeln und die Problemlage der Nachbarn zu verdrängen? Ich nenne zwei Aspekte einer – nur sehr komplex möglichen – Antwort:

  1. Ein „Täter Israel“ entlastet das deutsche Gewissen. Was die eigenen Väter vor 70 Jahren Juden angetan haben, könnte ja etwas weniger schlimm, womöglich ein bisschen gerechtfertigt scheinen, wenn Juden „auch“ Staatsverbrechen begingen. Daraus speist sich gegenüber den palästinensischen „Opfern der Opfer“ der emotionale Eifer, den man angesichts anderer, oft gravierenderer Menschenrechtsverletzungen auf dieser Erde zuweilen vermisst. Für eine abgewogene Analyse der Realität im Nahen Osten ist das keine gute Voraussetzung. Auch die „Solidarität mit Palästina“ bekommt so schnell eine instrumentelle Funktion im Rahmen spezifisch deutscher Befindlichkeiten. Zu diesem selbstentlastenden Anprangern Israels, das in manchen Verlautbarungen geradezu obsessive Züge annimmt, gehört es zwingend, die Schuldanteile auf arabischer Seite herunterzuspielen oder zu leugnen. Genau einer muss dort schuld sein, damit es uns hier leichter wird. Die Palästinenser kommen so in die Rolle von Nur-Objekten, die für das eigene Ergehen keinerlei Verantwortung tragen. Dass die Verwendung der opulenten europäischen Hilfsgelder durch Arafat und seine korrupte Fatah-Bewegung von unserer Seite kaum kontrolliert worden ist, was uns mitschuldig macht an der Misere der Autonomiegebiete, erklärt sich wohl entscheidend aus dieser Negierung der Palästinenser als verantwortlicher Subjekte. Ob unser Verhalten den Palästinensern politisch hilft oder Schritte zu Realismus, Entspannung und Aufbau nicht eher behindert, wird da nicht überlegt, denn eigentlich geht es ja um die offene moralische Rechnung mit den Juden, für die der israelische Staat bezahlen soll. Wie schwer die deutsche Nahost-Debatte – und übrigens auch das deutsche Amerikabild – von post-nationalsozialistischen Wahrnehmungsmustern belastet ist, wurde ausführlich nachgewiesen.4 Von jemandem, der Israel an den Pranger stellt, kann angesichts einschlägiger Meinungsumfragen beim besten Willen nicht gesagt werden, er schwimme „gegen den Strom“. Vielmehr vertritt er eine nicht nur sachlich fragwürdige, sondern vor allem äußerst populäre und konventionelle Position.5
  2. Israel und die ihm politisch nahe stehenden USA als Hauptschurkenstaaten, ja Betreiber einer globalen Verschwörung zu denunzieren, ist Bestandteil einer Kopf-in-den-Sand-Strategie, die gegebene Gefahren für Freiheit, Recht und Frieden ableugnet. Wie wäre unsere Welt schön, gingen die maßgeblichen Bedrohungen für Freiheit, Recht und Frieden tatsächlich von den USA und Israel aus! Dort kann man ungefährdet demonstrieren, Maßnahmen des Staates rechtlich anfechten und die Regierung beliebig in Leserbriefen angreifen. Andere schüchtern uns schon mit ihren Gesten des Beleidigtseins ein. An die also besser nicht rühren, nicht nach den Rechten der Frau, nach den Möglichkeiten politischer Kritik in muslimischen Gesellschaften fragen. Wer aber die realen Gefahren negiert, weil er sie zu tief fürchtet, muss denjenigen als Störung empfinden, der auf die Realität reagiert. Israel, das sich des militanten Islamismus hautnah erwehren muss, stört unser Heile-Welt-Bild, in dem eine islamistische Bedrohung nicht vorkommen darf. Der sich Verteidigende ist böse, weil er unsere Verdrängung in Frage stellt. Das Unterscheiden der Gesellschaftsmodelle, für die der israelische Staat auf der einen, Hisbollah, Hamas und der Iran auf der anderen Seite stehen, fällt der Angst, die Wirklichkeit wahrnehmen und Heile-Welt-Grundsätze aufgeben zu müssen, zum Opfer.

III.

Wir verlangen Fairness für Israel, die sich im Anlegen des gleichen Maßstabs wie bei anderen Staaten ausdrückt. Israels Verhalten ist im Zusammenhang der Gesamtlage zu würdigen – auch zu kritisieren, aber eben nicht einseitig zu schmähen. Dazu gehört es, populären Verzerrungen kritisch zu begegnen und zum Beispiel auf korrektes Zitieren der UNO-Resolution 242 vom November 1967 zu achten, in der Israel aufgefordert wird, besetztes Gebiet im Gegenzug zu Anerkennung und Frieden zu räumen, was nach dem Friedensschluss mit Ägypten auf dem Sinai ja auch vollzogen wurde. Dass Israel an diesem Punkt insgesamt in Verzug sei, ist eine zumindest willkürliche Interpretation. Die inzwischen vierzigjährige Dauer der Besatzung wird nur bei Einbeziehung der Haltung der Nachbarländer historisch verstehbar, wie auch das israelische Sicherheitsregime im Westjordanland nur im Kontext der gegen Israel gerichteten Terrorkonzepte angemessen bewertet werden kann.

Jeder Sondermaßstab für Israel ist verkappter Antisemitismus. Der kann auch ganz philosemitisch daherkommen, etwa wenn gesagt wird: „Ihr Juden seid doch das auserwählte Volk Gottes, also seid immer besonders friedlich!“ Fair – und bibelgemäßer – wäre es, Juden Menschen sein zu lassen, Menschen mit Schwächen, Ängsten und allerlei anderen Unzulänglichkeiten, und empathisch wahrzunehmen, dass der Staat Israel in einer schwierigen Situation ist. An der Grenze zur Menschenverachtung bewegt sich schließlich die – ebenfalls scheinbar judenfreundliche – Argumentation, die Juden hätten doch in der Nazizeit und durchgehend in ihrer Geschichte so viel Schlimmes erlebt, dass sie sich jetzt stets vorbildlich verhalten müssten. Ja, sollten sie denn die Lektion, die unsere Väter und Großväter ihnen verpasst haben, nicht verstanden haben...?

Wir bitten um eine selbstkritische Überprüfung des Redens über Israel. Wir rufen dazu auf, im Nahostkonflikt das politische Urteil nicht aus falsch verstandener Toleranz zu meiden; es darf uns – gerade auch aus Verbundenheit mit den Christen in der Region – nicht gleichgültig sein, für welche gesellschaftlichen Grundsätze Israel einerseits, Hisbollah und Hamas andererseits eintreten. Und wir rufen auf zu historisch-kritischem Realismus im Blick auf den jüdischen Staat: Die Juden und der Staat Israel sind wie wir Teil dieser Erde mit ihren Unvollkommenheiten. Auf einen Normal-Maßstab für Israel zu dringen und die Situation zwischen Israel und den Nachbarn von allen Seiten kritisch zu sehen, das ist Gebot politischer Vernunft. Ohne kritische Würdigung aller Beiträge zum Nahostkonflikt mag man die Etiketten „gerecht / ungerecht“, „schwach / stark“, „Opfer / Täter“ mit größter Entschiedenheit jeweils einer Seite ankleben. Ein fairer Friedensprozess wird dadurch aber nicht unterstützt werden. Dann wird hier womöglich „Friede! Friede!“ gerufen, aber Friede sein wird nicht (Jer 6,14). Dem Frieden dient eine redliche Analyse der Situation bestimmt besser als alles lautstarke Beharren auf pazifistischen Pseudo-Gewissheiten und alles Schüren emotionaler Betroffenheit. Alle Parteien kritisch zu würdigen und Israel einen Staat normaler Menschen sein zu lassen, mit Menschen, die in einer mörderisch bedrohten Situation gezwungen sind, sich zu verteidigen, und dies mit manchmal fragwürdigen Mitteln tun – das bedeutet, der real existierenden Judenfeindschaft entgegen zu treten, so, wie es die pfälzische Kirchenverfassung jedem Christenmenschen aufgibt.

Anmerkungen

 

  1. Maßgeblich die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung, die dem Staat in der „noch unerlösten Welt“ die Aufgabe zuweist, durch „Androhung und Ausübung von Gewalt“ für einen relativen Friedenszustand zu sorgen. Der Friede des Reiches Gottes und das unter den ambivalenten Bedingungen der Geschichte Machbare werden so prinzipiell unterschieden, ohne die Politik von der kritischen Verheißung des Gottesreiches zu separieren. Vgl. Eberhard Jüngel, Mit Frieden Staat zu machen. Politische Existenz nach Barmen V, München 1984; Ulrich von den Steinen, Unzufrieden mit dem Frieden? Militärseelsorge und Verantwortungsethik, Göttingen 2006.
  2. Vgl. Matthias Küntzel, Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg, Freiburg (Breisgau) 2003; Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006 (jeweils mit weiteren Literaturverweisen).
  3. Siehe etwa den ausführlichen Beitrag von Bassam Tibi, Die Mär des Islamismus von der jüdischen und kreuzzüglerischen Weltverschwörung gegen den Islam, in: Klaus Faber/Julius H. Schoeps/Sacha Stawski (Hgg.), Neu-alter Judenhass. Antisemitismus, arabisch-israelischer Konflikt und europäische Politik, Berlin 2006, S. 179-202.
  4. Vgl. neben dem schon zitierten Sammelband von Faber/Schoeps/Stawski: Aribert Heyder/Julia Iser/Peter Schmidt, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände 3, Frankfurt (Main) 2005, S. 144-165; Initiative Antisemitismuskritik Hannover (Hg.), Israel in deutschen Wohnzimmern. Realität und antisemitische Wahrnehmungsmuster des Nahostkonflikts, Stuttgart 2005; Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002.
  5. Nach einer repräsentativen Studie vom November 2003 liegt der Staat Israel als „Bedrohung des Weltfriedens“ für die Deutschen an erster Stelle, gleichauf mit Nordkorea; vgl. Yves Pallade, Medialer Sekundärantisemitismus, öffentliche Meinung und das Versagen gesellschaftlicher Eliten als bundesdeutscher Normalfall, in: Faber/Schoeps/Stawski, aaO, S. 49-66.

 

Editorische Anmerkungen

Siehe auch:

Der Krieg im Nahen Osten. Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen für Homburg und Umgebung, 20. August 2006