„Muslimischen Antisemitismus im lexikalischen Sinn kann es eigentlich nicht geben“

Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime Mohammed Khallouk* zu muslimischen Flüchtlingen und Judenfeindschaft in Deutschland.

Mit welchen Problemen sind Flüchtlinge und Immigranten aus der MENA-Region („Middle East & North Africa”, Nahost und Nordafrika)  in Deutschland konfrontiert?

Ein wesentliches Problem ergibt sich durch die hierzulande verbreiteten Negativassoziationen gegenüber dem Islam. Da es sich mutmaßlich um Muslime handelt, wird ihnen von Teilen der deutschen Öffentlichkeit unterstellt, islamisch gerechtfertigten Extremismus, sowie Gewalt und Terror nach Deutschland hineinzutragen und für die deutsche Gesellschaft ein Sicherheitsrisiko darzustellen. Zudem wird ihnen vielfach unterstellt, mit dem deutschen Rechtsstaat unvereinbare Verhaltensweisen wie Zwangsehen oder Ehrenmorde zu praktizieren oder zumindest gutzuheißen. Mit diesen Ressentiments in der Aufnahmegesellschaft einher gehen häufig eine erschwerte Suche nach qualifizierter Arbeit oder geeigneter Wohnung. Dadurch werden die ohnehin mit dem Immigrationsstatus verbundene Belastung durch Kommunikation in einer fremden Sprache sowie Umgang mit einem fremden Verwaltungs- und Rechtssystem durch zusätzliche, nur ihre Immigrantengruppe betreffenden Probleme erhöht.

Bestehen bei ihnen antisemitische Einstellungen?

Antisemitismus im lexikalischen Sinn gibt es unter Muslimen, insbesondere unter Arabern eigentlich keinen, denn Antisemitismus ist rassisch begründete Judenfeindschaft. Ein Rassendenken vergleichbar der NS-Ideologie steht dem Egalitätsgedanken des Islam schließlich entgegen. Juden wie auch Christen werden als „Schriftgläubige“ im Koran sogar bewusst hervorgehoben. Die Araber verstehen sich zudem selbst als Semiten und sprechen wie das Hebräische eine semitische Sprache. Ein echter Antisemitismus würde sich somit auch gegen sie selbst richten.

Dessen ungeachtet hat es in der Islamgeschichte ebenso wie in der christlichen Geschichte immer wieder Phasen gegeben, in denen Judenfeindschaft und in Teilen der Islamischen Welt auch Judenverfolgung an der Tagesordnung war. Auch in der Gegenwart existieren Ressentiments gegenüber Juden in der Islamischen Welt. Anders als die historische Judenfeindschaft bei Christen wie Muslimen und auch anders als die rassische Judenfeindschaft der Nationalsozialisten speisen sich diese aktuellen Judenressentiments aus den täglichen Berichten des Nahostkonfliktes. Sobald dieser origin nicht religiöse, sondern politisch-territoriale Konflikt auf politische Weise gelöst wird, werden auch die antijüdischen Ressentiments bei Muslimen wie arabischen Christen überwunden werden.

Wie weit ist Judenfeindschaft innerhalb der Muslime in Deutschland verbreitet und wie weit fördert dieser antijüdische Einstellungen und Handlungen in der Mehrheitsgesellschaft?

Dadurch dass es seit Mitte der 1950er Jahre kaum noch Juden in der Arabischen Welt gibt, können sich durch Medien verbreitete judenfeindliche Ressentiments leichter in der dortigen Gesellschaft einnisten, weil sie nicht mehr anhand realer Erfahrungen mit Juden überprüft werden können. Diese judenfeindlichen Ressentiments bringen sie natürlich auch als Immigranten mit nach Deutschland. Im heutigen Deutschland stellen Juden allerdings trotz ihrer versuchten Auslöschung in der Vergangenheit nicht nur wieder eine beachtliche Anzahl dar, sie sind auch in der deutschen Öffentlichkeit stets präsent, so dass sich unmittelbar etwas von ihnen erfahren lässt. Sobald die MENA-Immigranten längere Zeit in Deutschland sind und einigermaßen der deutschen Sprache mächtig, müssen sie ihr Judenbild deshalb nicht mehr aus den Beschreibungen Dritter herausziehen. Von daher kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Zunahme antijüdischer Einstellungen und Handlungen, insbesondere, wenn sie unabhängig von aktuellen Ereignissen im Nahostkonflikt (z.B. die Eskalation im Gazakonflikt 2014) stehen, durch Immigranten aus der MENA-Region in Deutschland erfolgt und schon gar nicht in der Mehrheitsgesellschaft sich stärker ausbreitet.

Interagiert Antisemitismus mit Feindschaft gegenüber Muslimen und verstärken diese sich gegenseitig?

In der Tat sind im islamfeindlichen Diskurs viele Elemente vorhanden, die auch im antisemitischen Diskurs des späten 19.und frühen 20. Jahrhunderts zu beobachten waren. Wurde den Juden damals unterstellt, einen „Staat im Staate“ zu bilden, wirft mancher heute Muslimen in Deutschland vor, eine Parallelgesellschaft mit eigenen Gesetzen anzustreben und bewusst Aktionen gegen die nichtmuslimische Majorität zu unternehmen. In einigen rechtspopulistischen bis rechtsextremen Kreisen kommen Juden- und Muslimfeindschaft sogar zusammen vor. Der vor einiger Zeit festgenommene sogenannte „Druide“ und seine Anhänger können hierfür als Beispiele herhalten. Auch die NSU-Terroristen haben ihre Aktivitäten mit judenfeindlichen Monopolispielen begonnen, ihre Attentate (von zwei Ausnahmen abgesehen) aber ausschließlich gegen Muslime verübt. Man könnte einen Islamfeind auch als „versteckten Antisemit“ bezeichnen.

Wurde die Erfahrung von islamfeindlicher Diskriminierung jemals als Legitimierung antijüdischer Einstellungen genutzt?

Natürlich unterstellt der neuzeitliche juden- oder besser gesagt israelfeindliche Diskurs auch Juden, durch ihren Einfluss aktuelle Islamfeindlichkeit im Westen zu unterstützen. Die Tatsache, dass unter den bekannten Verbreitern islamfeindlicher Stereotypen mit Henryk Broder und Ralf Giordano auch Juden sind oder waren, verstärkt dieses Vorurteil. Zugleich erleben die Muslime in Deutschland aber auch, dass sich insbesondere Juden gegen Rechtspopulismus in der deutschen Öffentlichkeit zu Wort melden. Die deutschlandweite Erlaubnis einiger von Juden gleichermaßen praktizierter Verhaltensweisen (z.B. Beschneidung von Jungen oder Schächten von Tieren) haben die Muslime nicht zuletzt dem jüdischen Engagement zu verdanken. Das Bewusstsein für diese Tatsachen verstärkt den Respekt der hierzulande lebenden Muslime gegenüber Juden und wirkt judenfeindlichen Ressentiments entgegen.

In welchem Ausmaß unterstützen diese neuen Migranten die Tolerierungs-Normen in Deutschland gegenüber anderen Minoritäten?

Hierzu existieren mehrere statistische Erhebungen, die alle darauf hindeuten, dass die Akzeptanz von Rechtsgleichheit unter in Deutschland lebenden Muslimen kaum geringer ist als unter der Mehrheitsbevölkerung. Selbst Phänomene wie Homosexualität, die man zwar für sich selbst aus religiösen Gründen zurückweist, werden von vielen seit längerem in Deutschland lebenden Muslimen als in einer freien Gesellschaft prinzipiell zu tolerierende Lebensformen angesehen. Meiner Einschätzung nach hängt die Bereitschaft, Rechte und Sicherheiten anderer Gruppen und Minderheiten zu akzeptieren, in hohem Maße davon ab, in wie weit man selbst für seine religiösen Ansprüche bei der Mehrheitsgesellschaft wie auch bei Institutionen auf Akzeptanz trifft. Dieser Grundsatz gilt für seit längerem in Deutschland lebende Migranten in gleichem Maße wie für aktuelle Flüchtlinge und Neueinwanderer.

Was müsste getan werden, um Ideologien der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zurückzudrängen?

An erster Stelle steht die Aufklärung, denn Ressentiments halten sich am längsten dort, wo wenige Kenntnisse über die betreffende Gruppe vorhanden sind. Deswegen ist die Muslimfeindschaft in Deutschland auch in denjenigen Regionen am meisten verbreitet, in denen die wenigsten Muslime leben (insbesondere in den neuen Bundesländern). Dies ist natürlich einerseits Aufgabe der Muslime selbst, die sich noch mehr an die Öffentlichkeit wenden sollten, um ihre Religion und damit verbundenes Verhalten der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft zu erläutern. Dass Judenfeindschaft in Deutschland heutzutage nicht mehr das Ausmaß früherer Zeiten besitzt, ist zweifellos dem Engagement verbandsmäßig organisierter Juden in diesem Land mit zu verdanken. Von diesem Vorbild können die Muslime lernen.

Ebenso wichtig ist aber, dass sich die Medien zu einem Konsens verpflichten, mit ihrer Berichterstattung zum sozialen Frieden und zur Verringerung von Gruppenressentiments beizutragen. Dies bedeutet zwar keineswegs bei jeglichem zu kritisierenden Verhalten Herkunft oder Religion der betreffenden Personen zu verschweigen, doch darf es ebensowenig bedeuten, Kriminalität oder Gewalt, ausgehend von einzelnen nominellen Muslimen beständig dafür zu nutzen, um die Einstellungen des Islam als Religion zu diesen Phänomenen als zweifelhaft darzustellen.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien in der Entstehung von Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit?

Da vor allem die heranwachsende Generation sich heutzutage in hohem Maße über die sozialen Medien informiert, sind diese für die Entstehung und Verbreitung von Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit unter Jugendlichen in hohem Maße mitverantwortlich. Facebook oder Twitter sind deshalb zu stärkerer Kontrolle ihrer Seiten und dessen, was dort publiziert wird, verpflichtet. Zudem sollten die Schulen stärker als bisher thematisieren, wie sich die sozialen Medien im Sinne ernsthafter Informierung über eine Gruppe oder einen Sachverhalt einsetzen lassen. Wer die sozialen Medien verantwortungsvoll zu nutzen gelernt hat, kann sich nämlich hierüber auch seine Vorurteile widerlegen lassen und überwinden.

Fördern Medien und Politik eine offene, ausgeglichene Diskussion über muslimische Flüchtlinge und Antisemitismus?

Hier würde ich differenzieren. Über die Hintergründe der aktuellen in Europa eintreffenden muslimischen Flüchtlinge haben die deutschsprachigen Medien tendenziell recht umfassend informiert. Auch die Tatsache, dass die Attentäter von Paris 2015, Brüssel sowie Berlin 2016, nicht zu den derzeit den Bürgerkriegen des Vorderen Orients entflohenen Menschen zählten, wurde von den deutschen Medien durchaus thematisiert. Dessen ungeachtet werden gerade jene Anschläge in der Flüchtlings- aber mehr noch in der Islamdebatte von Teilen der Politik wie der Medien populistisch ausgeschlachtet. Die weitgehende Verengung der derzeitigen Debatte auf Sicherheitsfragen ist ein Ergebnis davon. Einige, vor allem sich als „islamkritisch“ definierende Publizisten stellen zudem immer wieder die nicht mit ernsthaften Statistiken und Hintergründen belegte These auf, die Immigranten aus der Islamischen Welt würden den Antisemitismus in Deutschland wieder populär werden lassen. Allein der Begriff „muslimischer Antisemitismus“, der in diesem Diskurs häufig auftaucht, und ein in Europa in bestimmtem Kontext entstandenes Phänomen unreflektiert auf den islamischen Kulturkreis überträgt, ist ein Sinnbild dieser Propaganda.

Editorische Anmerkungen

Mohammed Khallouk ist Politologe, Arabist und Islamwissenschaftler. Sein jüngstes Werk „Salam Jerusalem“ ist 2015 beim Rimbaud Verlag in Aachen erschienen, siehe auch hier auf JCR: Brief an einen jüdischen Freund.