Mordverbot

Den Opfern des Ḥamas-Massakers aus den israelischen Dörfern Kerem-Schalom, Holit, Sufa, Nir Jizchak, Jescha, Miwtachim, Nir Os, Nirim, Ofakim, Kissufim, Re’im, Be‘eri, Alumim, Nachal Os, Kfar Asa, Erez, Sikim, Netiv HaAsara, Jad Mordechai am 7. Oktober 2023, Simchat Tora.

Die Tora beschäftigt sich von Anfang an mit dem Thema Mord. Zwar beginnt sie mit der Idylle des Garten Eden. Doch das erste was sie über den Menschen Jenseits von Eden zu berichten weiß, ist – ein Brudermord. Der Mörder Kain hatte dafür übrigens ein religiöses Motiv. Er kommt mit einer vergleichsweisen milden Strafe davon, doch die Gewaltspirale drehte sich in der von den Kainiten begründeten urbanen Zivilisation unaufhaltsam weiter (Gen 4, 16 -24), bis - das Maß voll war.  

Das Wort Ḥamas ist das Kürzel der sogenannten „Islamischen Widerstandsbewegung“. Auf Arabisch bedeutet das Wort zudem: Eifer – im Gefecht. Das Wort kommt aber auch im Hebräischen vor. Da bedeutet es:  unrechtmäßige Gewalt, ein Isch Ḥamas ist ein Gewalttäter und Ḥamassim sind Gewalttaten. Gut möglich, dass die Gründer der palästinensischen Terrororganisation mit dem „falschen Freund“, wie man so etwas in der Sprachwissenschaft nennt, gespielt haben. Das Wortspiel träfe ins Schwarze – nach Innen heiliger Eifer, nach Außen brutale Gewalt!

Nach der Tora ist Ḥamas schuld am Weltuntergang. Im Wochenabschnitt Noach, der zwei Wochen nach dem Hamas-Massaker gelesen wurde, begründet Gott die Sintflut damit, dass „voll ist die Erde von Ḥamas, von Gewalt“ (Gen 6, 11.13). Er bereute den Menschen und versenkte die ganze Schöpfung ins vorzeitliche Chaos. Leider änderte die Strafe nichts an der Gewaltbereitschaft des Menschen, die nachsintflutliche Menschheit ist nicht weniger gewalttätig als die vorsintflutliche, wie die Tora ohne Illusionen feststellt (Gen 6, 5 u. 8, 21). In einem Punkt hat die Erziehung des Menschengeschlechts aber einen großen Sprung nach vorne gemacht.

Im Bund mit dem Überlebenden, Noach, steht auf Mord die Todesstrafe. Die Bibel verkündeten es in einem bündigen Rechtsspruch: „Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden, denn im Ebenbilde Gottes (Zelem Elohim) hat er den Menschen geschaffen“ (Gen 9, 6). Diesen Spruch kann man entweder so verstehen, dass jeder Mord von Gottes Ebenbild auch Gottesmord ist, oder so, dass die Bestrafung des Mörders im Gericht auch Gottesgericht ist.  Dazu passt, dass das Wort „Elohim“ gewöhnlich Gott bedeutet, aber bisweilen wie in Exodus 22, 7, auch „Richter“. In jedem Fall aber ist die noachidische Menschheit eine Rechtsgemeinschaft - Verbrechen wie Mord, Menschenraub, Vergewaltigung bleiben nicht ungestraft.

Insgesamt zählt die jüdische Tradition sieben Noachidische Gebote auf:(das Gebot der) Rechtspflege, (das Verbot der) Gotteslästerung, des Götzendienstes, der Unzucht, des Mordes, des (Menschen)Raubs und des Verzehrs eines lebenden Tiers“ (Schewa Mizwot Bne Noach tAwSa 8, bSan 56a-b, BerR 34,8). Mit Ausnahme des ersten Gebotes, das der Rechtspflege, sind alle anderen Verbote. In der negativen Formulierung steckt eine große Weisheit, denn die Verbote ziehen nur eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, wie sich die positiven Rechtsverhältnisse jedoch diesseits dieser Grenze gestalten, lassen sie offen, so ist Raum für eine Vielfalt von noachidischen Religionen und Verfassungen.

Im Prinzip gelten diese sieben Menschenpflichten für alle Nachkommen Noachs, d. s. nach der biblischen Völkertafel (Gen 10) alle Menschen überhaupt. Wer diesen humanen Mindeststandard unterläuft, nicht gelegentlich, sondern grundsätzlich, indem er sich zum Beispiel die Lizenz zum Töten, zum Rauben, zum Vergewaltigen herausnimmt, der ist im moralischen Sinn des Wortes kein Mensch, sondern ein Unmensch. Wer hingegen den noachidischen Standard aufrechterhält, der ist ein „Frommer der Völker der Welt“ (Chasside Umot HaOlam) und ein Kind der Seligkeit. Gewiss die sieben noachidischen Gebote sind ein Existenz-Minimum, aber vor Gott sind Noachiden mit ihren sieben Geboten, Juden mit ihren 613 Geboten, gleichgestellt. Ein mittelalterlicher jüdischer Moralist erklärt das mit folgendem Gleichnis. Bei 100 Maß beträgt der Zehnt 10 Maß, bei 10 Maß beträgt er 1 Maß. Wer nun 10 Maß erntet und nur neuneinhalb Maß abführt, der hat weniger getan, als der, der 10 Maß einfährt und 1 Maß abführt. (Herzenspflichten III, 6). Die entscheidende Grenze verläuft nicht zwischen dem Gottesvolk und den Völkern, sondern zwischen den Noachiden und dem Anaschim Ḥamas, dem Menschen und dem Unmenschen.

Neuzeitlichen Rechtslehrer wie Hugo Grotius (1583-1645) und vor allem John Selden (1584-1665) erblickten in den Noachidischen Geboten Vorläufer des modernen Natur- und Völkerrechts –  juxta disciplinam Ebraeorum. Man kann die noachidischen Gebote in der Tat als ungeschriebene Vernunftgesetz ansehen, weil ohne sie keine Gesellschaft Bestand hätte. Gäbe es diese Gebote nicht schon, so müsste man sie erfinden, wie der Talmud sich ausdrückt: Wären diese Dinge nicht geschrieben, so wäre zu urteilen, dass sie geschrieben werden müssten (bJom 67b). Selbst eine Mörderbande setzt wenigstens für die Bandenmitglieder das Mordverbot voraus. Die Arche Noachs müsste untergehen, gäbe es  das noachidischen Bord-Reglement nicht.

Die Abrahamiten sollten und wollten mehr sein als bloß Noachiden.  Noach kümmerte sich nur um seine Arche, die Abrahamiten wollten ein Segen für das ganze Menschengeschlecht sein (Gen 12, 3). Anstelle des moralischen Minimalismus trat mit ihnen ein hochgestimmter Maximalismus. Die jüdischen, die christlichen und muslimischen Quellen wetteifern in Überbietungen der noachidischen Gebote. In der Bergpredigt überbietet Jesus zum Beispiel das Mordverbot (Ex 20, 13): „Ihr aber habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein‘. Ich aber sage euch: ‚Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: ‘Du Nichtsnutz!‘ der ist des hohen Rats schuldig; wer aber sagt: ‚Du gottloser Narr!‘ der ist des höllischen Feuers schuldig“ (Mat 5, 21 -22). Die gleiche „chassidische“ Verschärfung findet sich auch bei den Rabbinen, sie stellen Beleidigung mit Blutvergießen auf der gleichen Stufe. „Wer“, sagen sie, „das Gesicht seines Nächsten in der Öffentlichkeit erblassen lässt, es ist, als ob er sein Blut vergossen hätte" (bBMe 58b). Auch wenn der Beleidiger sonst ein Gelehrter und Frommer ist, so verliert er nichtsdestotrotz seinen Anteil an der Seligkeit (mAw 3, 11).

Umgekehrt haben die Abrahamiten die höchste Wertschätzung des Lebens gelehrt. Im Traktat Sanhedrin des Talmuds, wo es justament um die Verurteilung von Kapitalverbrechen in der Halsgerichtsbarkeit geht, wird den Zeugen, auf die in derartigen Verfahren alles ankam, in einem langen Sermon der Wert des menschlichen Lebens in Erinnerung gerufen. Man sagt Ihnen unter anderem: „Deshalb ist nur ein einziger Mensch in der Welt erschaffen worden, um dich zu lehren, dass wenn einer eine Person vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet  und wenn einer eine Person erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten“ (HaKol HaMeabed Nefesch Achat ….KeIlu Ibed Olam Male, mSan 4, 5). Der Quran zitiert diese Stelle nachdem er in der 5. Sure Al Ma’ida (Der Tisch) die Geschichte von den beiden Söhnen Adams, Kabil und Habil, nacherzählt hat. Im Vers 32 heißt es: „Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israel verordnet, dass wer eine Seele ermordet, ohne dass er einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, soll sein wie einer, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer einen am Leben erhält, soll sein als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten“. An diese Quran-Stelle hat der Rat der Berliner Imame nach dem Hamas-Massaker und dem anschließenden Freudentaumel in Berlin Neukölln erinnert.

Die Abrahamiten wollten mehr sein als Noachiden, sie sind aber oft weniger. Man fragt sich nicht erst seit den Ḥamas-Massakern vom 7. Oktober, ob die abrahamische Erziehung des Menschengeschlechts nicht komplett gescheitert sei. Denn die Täter betrachten sich als fromme Abrahamiten, und begehen ihre vorsintflutlichen Massaker „im Namen Allahs, des Erbarmers und des Barmherzigen“. Religion wirkt nicht als Hemmschuh sondern als zusätzlicher Brandbeschleuniger. Allerdings bemisst sich der Noachidismus und Abrahamismus nicht am Verschwinden von Mord und Totschlag, diese Illusion hatte, wie schon gesagt, bereits die Bibel nicht mehr (Gen 8, 21), der Kainismus bleibt ein unausrottbares Merkmal des Menschengeschlechts in allen seinen Entwicklungsstufen. Er bemisst sich vielmehr am Unrechtsbewusstsein, an der Verurteilung der unmenschlichen Gewaltorgien und des ungeheuerlichen Missbrauchs des Namens Gottes. Wenn die Abrahamiten nicht wenigstens den noachidischen Standard aufrechterhalten, dann fallen wir in eine vorsintflutliche Situation zurück, dann droht wiederum Untergang. Die abrahamischen Trialog-Partner in unserem Lande sind aufgerufen unmissverständliche Zeichen zu setzen. Und für das Land Israel hoffen wir mit dem Propheten auf eine Zeit in der gilt: „Nicht soll ferner gehört werden Ḥamas, Gewalttat, in deinem Lande“ (Jesaja 60, 18).

Editorische Anmerkungen

Rabbiner Prof. em. Dr. Dr. h. c. Daniel Krochmalnik, geb. 1956 in München. Schulzeit an der École Maimonides und Abitur in Paris. Studium der Mathematik, Philosophie und Judaistik in München. 1988 Promotion zum Dr. phil., 1999 Habilitation an der Ruprechts-Karls-Universität. Von 2003 bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls Jüdische Religionslehre, - pädagokik und - didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien. 2018 Ernennung zum Professor für Religion und Philosophie (Altertum und Mittelalter) an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam und Geschäftsführender Direktor. 2022 Emeritierung. Erwerb des Rabbinats-Diplom des Jewish Theological Seminary Budapest. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Theologie und Aufklärung. Rund 200 wissenschaftliche Aufsätze und 12 wissenschaftliche Werke.