Moralisches Lernen an unmoralischen Vorbildern. Zur Textpragmatik der Erzählung von Kain und Abel (Gen 4, 1-16)

Kann man anhand unmoralischer Vorbilder etwas lernen? Kann unmoralisches Tun zu moralischem Handeln anleiten? Am Beispiel der biblischen Geschichte von Kain und Abel untersucht Ilse Müllner, auf welche Weise die Bibel mit Hilfe "unmoralischer" Beispiele zu einem "moralischen" Leben anleiten will. Der Artikel basiert auf einem Vortrag vom 5. Juli 2001 an der Universität Gesamthochschule Kassel und wurde im Themenheft des Deutschen Koordinierungsrates 2002 veröffentlicht.

Moralisches Lernen an unmoralischen Vorbildern

Zur Textpragmatik der Erzählung von Kain und Abel (Gen 4, 1-16)

1. Die Genesis: ein Text als Lernzusammenhang

Kain und Abel sind Brüder. Kain erschlägt seinen Bruder. Auch Jakob und Esau sind Brüder. Jakob lebt jenseits von Eden. Er hat Angst, sein Bruder könne ihn erschlagen (Gen 32,12). Und Esau, so sagt es die jüdische Tradition im Midrasch Bereschit Rabba, hat sich Kain zum Vorbild genommen.

"Er dachte: Kain brachte seinen Bruder um, und Gott ließ ihn unbestraft, zuletzt zeugte er noch sogar andre Kinder, und sein Volk nahm die Welt in Besitz, so will auch ich zuerst meinen Vater Jizchak und dann meinen Bruder Jacob umbringen und die Welt allein besitzen."1

Aber, so der Midrasch weiter, "Gott ließ es nicht zu."

Wenn wir die Genesis nach der Erzählung von Kain und Abel weiterlesen, stoßen wir immer wieder auf den Konflikt zwischen Brüdern: Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. Auch die Schwestern Lea und Rachel konkurrieren miteinander. Immer geht es um Zuwendung: um die Gunst Gottes, die der Väter, die Liebe des Ehemanns. Nur der erste Konflikt endet tödlich, die weiteren Auseinandersetzungen zwischen Brüdern werden durch Trennung gelöst. Der Erzählzusammenhang der Genesis wird zu einem Lernzusammenhang, indem sie immer wieder das Problem des Konflikts zwischen Geschwistern präsentiert, allerdings mit unterschiedlichem Ausgang. "Die[se] variierende Wiederholung ist schon biblisch als ein erzählerisches Mittel zu einem [ethischen] moralischen Lernen durch Erzählungen der Genesis anzusprechen: Aus einem potentiell immer tödlichen Bruderkonflikt erwächst eine neue Verantwortungsgemeinschaft."2

Die Brüder der Genesis lernen am ersten Brüderpaar, so könnte man es deuten. Die Frage, wie denn an dieser Erzählung zu lernen sei, möchte ich im Folgenden ausführen. Denn es geht gerade im Umgang mit diesem Text nicht um die Frage, was zu lernen sei. Dass der Mord verurteilenswert ist, steht nicht zur Debatte und ist meines Wissens auch nie diskutiert worden. Wie aber gibt dieser Text von sich aus zu lernen?

In der Exegese lässt sich diese Frage auf der Ebene der Textpragmatik verorten. Wer sich mit der Pragmatik eines Texts befasst, möchte wissen, was dieser Text will: Möchte er seine LeserInnen informieren, unterhalten, belehren? Zur Pragmatik erzählender Texte gehört es auch, dass sie ihre LeserInnen lenken, was Sympathie und Antipathie mit den dargestellten Charakteren betrifft. Sympathielenkung und Intention der Erzählung sind die beiden wesentlichen Faktoren, die sich auf der Ebene der Textpragmatik erheben lassen. Erzählungen tun etwas mit ihren LeserInnen und HörerInnen; sie bewirken Lernprozesse.

Die Erzählung von Kain und Abel verwickelt die LeserInnen in einen produktiven Widerspruch, den Widerspruch von Empathie und Moral, von Einfühlung und Beurteilung. Aus diesem Widerspruch heraus kann moralisches Lernen erwachsen.

2. Kain: unmoralisches Handeln, nicht unmoralisches Sein

Der erste Mord, wie nebenbei in einem Vers erzählt, ist verwerflich. Kains Schuld liegt auf der Hand, der Erzähler lässt Kain sagen:

"Allzu groß zum Tragen ist meine Verfehlung." (V 13)

(Mit dem Wort "Verfehlung" versucht Martin Buber die Nähe zwischen Sünde und Strafe wiederzugeben, die im hebräischen Begriff awōn enthalten ist. So zeigt die Sprache ein Bewusstsein für die Nähe von Tat und Tatfolge.)

Von Anfang an konnte die Erzählgemeinschaft sicher sein, dass die geschilderte Tat verurteilt wird – und das ist bis heute so geblieben. Auch daraus gewinnt diese Ur-Geschichte ihre Kraft, dass alle LeserInnen darüber einig sind, dass so niemals gehandelt werden soll. Kain wird an seinem Bruder schuldig. Der Mord aber, so wird man vom Text her sagen müssen, ist das einzige, was Kain wirklich schuldig werden lässt. Viele AuslegerInnen konnten sich damit nicht zufrieden geben. Wer so etwas tut, so spekulieren viele, der muss schon im Vorfeld etwas falsch gemacht haben oder, noch drastischer, der muss ein schlechter Mensch sein.

Schon Flavius Josephus (Ant I/2/1) trägt Urteile über den Charakter der beiden Brüder in diese Erzählung ein: Abel "pflegte die Gerechtigkeit", Kain aber war "in hohem Grad gottlos [ponhro/j] und nur auf Gewinn bedacht". Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Gott nur das Opfer der "freigiebigen Natur" annimmt. Das NT findet vergleichbare Erklärungen. Abels Opfer ist nach dem Hebräerbrief (11,4) aufgrund des Glaubens besser als das Kains; und nach dem 1. Johannesbrief (3,11) stammt Kain vom Bösen und erschlägt deshalb seinen Bruder. In dieser Tradition stehen Auslegungen bis heute. Nicht zuletzt transportieren viele Kinderbibeln, deren Einfluss auf die religiöse Sozialisation nicht zu bestreiten ist, diese Art von Moral weiter.

"Gott, der Herr, schaute auf die schönen Geschenke und betrachtete dann die beiden Brüder. Er sah, was für Menschen sie waren: Abel liebte ihn und vertraute ihm, deshalb nahm Gott Abel und sein Opfer an. Kains Opfer aber wies Gott zurück, denn Kain war hartherzig, stolz und selbstsüchtig."

Solche Nacherzählungen3 wollen die Anstößigkeit des asymmetrischen Handelns Gottes wegerklären, indem sie diese Asymmetrie in den Charakter oder das Verhalten der beiden Brüder vorverlegen.

All das gibt der biblische Text nicht her. Kain ist nicht böse, sondern er handelt böse. An der Stelle, wo er gegen die Warnung Gottes seinem Zorn (der noch nicht unmoralisch ist!) freien Lauf lässt (V 8), handelt er gegen die Ethik nicht nur Israels, sondern gegen die gesamtmenschliche Ethik, wie sie in den noahidischen Geboten nach Gen 9 zum Ausdruck kommt. Kain vergießt das Blut seines Bruders.

3. Abel: "... das ist alles Windhauch" (Koh 1,2)

Erzählende Texte und auch schon einfache Sätze haben Empathiezentren. Von diesem Zentrum her werden die anderen Personen definiert. Kain als Erstgeborener ist derjenige, der die Bühne der Erzählung als Erster betritt. Ihm folgt nicht einfach "Abel", sondern "sein Bruder Abel" (V 2). Kain ist das Empathiezentrum. Noch bevor Abels Name genannt wird, ist er schon in Beziehung zu Kain gesetzt. Er ist "sein Bruder", in Beziehung zu Kain gewinnt Abel seinen Ort in der Welt. Und Abel bleibt Kains Bruder bis zum Ende. Noch deutlicher: Abel verliert seinen Namen, ist am Ende überhaupt nur noch Kains Bruder.4 Dreimal nur wird Abels Name ohne nähere Bestimmung genannt. Diese Belege beschränken sich auf V 2-4. Abel wird Schafhirte, und Abel bringt Gott seine Gaben dar. Gott achtet auf Abel, nicht etwa auf "Abel, Kains Bruder". Ist Abel am Anfang ein Handelnder, der (beinahe) parallel zu seinem Bruder Kain die Bühne der erzählten Welt betritt, einen Beruf ergreift und sich Gott zuwendet, so wird er im Lauf der Erzählung immer mehr zum Objekt, bis zum Höchstmaß des Objektseins, nämlich Opfer zu sein. Die Erzählung lässt Abel aber nicht mit einem Schlag aus der erzählten Welt verschwinden, sie minimiert Schritt für Schritt seine Präsenz. Ebenso wie Abel sukzessiv von der Bühne der Erzählung verschwindet – zuletzt ist es noch sein Blut, das vom Ackerboden zu Gott schreit –, verliert er auch schrittweise seinen Namen, das also, was ihn als eigene Person auszeichnet. Zum letzten Mal kommt der Name Abel im Mund Gottes vor: "Wo ist Abel, dein Bruder?" (9b); danach ist nur noch von Kains Bruder die Rede. In der Welt der Erzählung wird Abel erschlagen; in der Welt des Texts wird er ausgeblendet.

Das Flüchtige der Existenz Abels ist schon in dessen Namen eingefangen. Abel, Habel, hæbæl, bedeutet "Windhauch" oder "Nichtigkeit". Das ist derselbe Begriff, den Kohelet refrainartig verwendet, um die Flüchtigkeit der Dinge und Gedanken anzuzeigen: Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Abels Existenz verliert sich wie der Dunst. LeserInnen ahnen das, sobald sie seinen Namen hören. Auch das ist, ebenso wie die oben beschriebene Empathielenkung, keine Aufforderung, sich zu identifizieren.

Im Gegensatz dazu steht Kain. Er ist der Erstgeborene, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, der erste von einer Frau geborene Mensch. Sein Name bekommt eine – wenn auch schwer zu verstehende – Deutung im Mund Evas (1e). Dennoch zeigen die ersten Verse der Erzählung fast dieselbe Ausgangsposition der beiden Brüder. Die extreme Asymmetrie kommt inhaltlich wie erzähltechnisch erst ab V 5 zum Tragen. In V 4 reißt Gott den Graben zwischen den Brüdern auf, indem er nur auf das Opfer des einen achtet. Eine Handlung Gottes, die ohne jede Begründung bleibt. Ab V 5 ist Kain der menschliche Haupthandlungsträger. Er ist das Subjekt von erzählter Handlung und erzählter Rede. Nach der Darbringung der Gaben handelt Abel nicht mehr. Noch bevor Kain seinen Bruder erschlägt, okkupiert er schon die gesamte Aufmerksamkeit der LeserInnen. Seine Handlungen vollziehen wir mit, seine Rede sprechen wir mit, wenn wir die Erzählung lesen. Noch wichtiger: Seine innere Welt wird für uns geöffnet und besprechbar gemacht. Die hebräische Erzählkunst ist sehr sparsam mit Introspektion. Hebräische Erzählungen geben selten Einblick in die Welt der Gefühle ihrer AkteurInnen. Umso auffälliger ist es, wenn vom Zorn des Kain die Rede ist, davon, dass sein Gesicht – also der Teil des Körpers, der Zuwendung und Beziehung repräsentiert – fällt, und wenn dann auch noch Gott mit Kain ins Gespräch über dessen emotionale Welt tritt.

Die Dynamik der Erzählung zielt ganz darauf ab, dass die einfühlende Identifikation der Lesenden mit Kain geschieht: Ihn sehen wir als Ersten auf der Bühne, sein Name wird erklärt, seine Gefühle werden gezeigt, seine Handlungen erzählt und sogar seine Kommunikation mit Gott dargestellt. Und dieser Mensch mordet.

4. David: das Auseinandertreten von Moral und Empathie

Woher nimmt dieser Text aber nun seine Kraft, Anstoß zu geben für einen Lernprozess? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst auf eine weitere biblische Geschichte hinweisen. Es ist eine Geschichte, in der eine biblische Gestalt, nämlich David, etwas lernt durch eine Erzählung.

Als David sich der begehrten Frau Batseba bemächtigt und deren Mann Urija in den Tod geschickt hat, erzählt ihm der Prophet Natan eine Geschichte von einem reichen Mann und einem armen Mann. Der arme Mann hat nur ein Lamm, das für ihn wie eine Tochter ist. Der reiche Mann hat viele Schafe, aber als er einen Gast bekommt, nimmt er zur Bewirtung nicht eins aus seiner Herde, sondern das einzige des armen Mannes, schlachtet es und setzt es dem Gast vor. David ist selbstverständlich empört und zornig. "Der Mann ist ein Sohn des Todes!", ruft er vollmundig aus. "Du bist der Mann!" (2 Sam 12,7), so lautet die Antwort des Propheten Natan. Mit diesem Satz stellt Natan eine Identifikation her zwischen dem als Schuft verurteilten reichen Mann und David. Und mehr noch, er zwingt David rhetorisch, diese Identifikation mitzuvollziehen und seine Schuld zu erkennen.

Vergleichbares geschieht in der Wirkung der Erzählung von Kain und Abel mit den LeserInnen, nur dass da kein Prophet steht, der die Identifikation der LeserInnen mit dem Protagonisten Kain explizit vornimmt. Diese Funktion übernimmt die Erzählung Gen 4 selbst, indem sie alles dafür tut, dass wir als Lesende in eine identifikatorische Haltung mit Kain hineingezogen werden. Auf diese Weise vollzieht der Leser/die Leserin selbst die Identifikation. Die Eigenbeteiligung eröffnet die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis, anders als es die satzhafte moralische Zuschreibung ("Auch in dir steckt Kain") tun würde. Stattdessen wird ein Widerspruch zwischen Empathie (auf der Seite Kains) und Moral (die Kain verurteilt) aufgebaut und produktiv für den Lernprozess der Lesenden genutzt, indem er deren eigene Entscheidungskraft fördert.

5. Textpragmatik: „Lernen führt zum Tun“

"Nur der Atem lernender Schulkinder erhält die Welt aufrecht" (bSchabbat 119b), so heißt es im Talmud, ebenso, dass "Lernen alle anderen Gebote aufwiegt" (bPea 1,1).5 Und der jüdische Philosoph Maimonides sagt im 12. Jh.: "Lernen ist wichtiger als alle anderen Verhaltensregeln zusammen. Denn Lernen führt zum Tun."6

Die jüdische Tradition hat ihre Bibel immer als Buch des Lernens verstanden; Lernen nimmt im Judentum eine wichtige Stellung ein. Nicht umsonst kommt der Begriff "Talmud", der die zentrale Traditionsliteratur des Judentums bezeichnet, vom Verb lilmod, "lernen".

Das Lernen ist mit der Tora, mit der Weisung Gottes an sein Volk Israel, verbunden. In der Tora, den fünf Büchern Mose, nimmt die Genesis eine Sonderstellung ein. Während die anderen vier Bücher abwechseln zwischen narrativen und normativen Texten, also zwischen Erzählungen und Geboten bzw. Gesetzen, kommt die Genesis ganz ohne Weisungen im engeren Sinn aus. Ist sie deshalb kein echter Teil der Weisung, der Tora? Die Überlegungen bis hier haben gezeigt – und die Beispiele ließen sich vermehren –, dass die Genesis zwar keine Gebote und Gesetze enthält, wohl aber Ethik narrativ begründet. Durch ihre Rechtsbegründung ist die Genesis Teil der Tora.

Die Tora allerdings ist "keine abgeschlossene Rechtslehre, sondern ein Lernzusammenhang."7 Und auch das gesamte Buch Genesis kann als Lernprozess gelesen werden, was der Midrasch gezeigt hat, indem er Kain als Vorbild Esaus darstellt. Literarisch zeigt das auch der veränderte Umgang mit den Konflikten zwischen Brüdern. Wenn das Buch Lernprozesse repräsentiert, dann kann auch das Lesen des Buchs ein Lernprozess sein. Die strukturelle Vielfalt von Erzählungen und Weisungen in der Tora zeigt, dass das Erzählen für den moralischen Lernprozess unhintergehbar ist.8 Deshalb dürfen Erzählungen auch nicht reduziert werden auf eine "Moral von der Geschicht".

Biblische Erzählungen geben zu lernen. Die Frage danach, wie sie das tun, ist Teil der Frage nach einer biblischen Didaktik als "die der Bibel eigene Didaktik", wie Ingo Baldermann es formuliert.

Jede Auslegung ist ein wechselseitiger Prozess. Der Sinn des Texts, zu dem auch seine Pragmatik gehört, liegt nicht einfach in ihm drin wie in einem Schatzkästchen, das ich als LeserIn nur aufzuschließen bräuchte. Der Sinn des Textes entsteht in der Auslegung als schöpferischem Prozess. Die Vieldeutigkeit der Zeichen bewirkt, dass jede Rezeption ein kreativer Akt ist, nicht nur die Textproduktion. Natürlich hängt es auch von den Lesenden ab, welche literarische Gestalt sie sympathisch finden. Auf der Seite der Lesenden gibt es eine Reihe von Faktoren, die das Rezeptionsverhalten beeinflussen: sozialer Ort, Alter, Geschlecht, aber auch individuell-biografische Kategorien. Diese Seite des Rezeptionsprozesses zu erforschen, ist Sache der Religionspädagogik und der praktischen Theologie, eine Sache, von der die zunehmende Anzahl von empirischen Forschungsarbeiten im Bereich der Bibeldidaktik9 Zeugnis ablegt.

Die Exegese beschäftigt sich primär mit der Seite des Textes, wenngleich sie immer den gesamten Rezeptionsprozess im Blick behält. Die Erzählung selbst macht Vorgaben, wie sie verstanden werden will. Das ist, denke ich, an den Ausführungen deutlich geworden. Auch wenn das Verständnis des Textes grundsätzlich offen ist, ist es doch nicht beliebig. Die Erzählung zieht den Leser, die Leserin mit hinein, sie involviert die Lesenden: lector in fabula (Umberto Eco).

6. Mimesis: der Rezeptionsprozess als Lernprozess

Der Widerspruch zwischen Empathie und Moral ist ein irritierendes Leseerlebnis. Die Irritation des Rezeptionsprozesses ist Teil des moralischen Lernens durch gute Geschichten. Bereits Aristoteles hat in seiner Poetik, in der er sich mit der Wirkung von Theaterstücken auf das Publikum befasst, dem Rezeptionsprozess verändernde Wirkung zuerkannt. Tragödien können, wenn sie bestimmten Kriterien genügen, kathartische, also reinigende Wirkung haben. Diese Wirkung erzielen sie durch Mimesis, durch Nachahmung. Die AutorInnen verhalten sich mimetisch zur dargestellten Wirklichkeit, die Rezipierenden müssen sich ebenfalls mimetisch verhalten, sich also der in der Tragödie dargestellten Hauptgestalt im Rezeptionsprozess angleichen, um zur Katharsis zu gelangen. Das mimetische Miterleben hat in der Katharsis eine ethische Dimension.10 Der Rezeptionsprozess von Erzählungen ist mit dem Betrachten eines Theaterstückes darin vergleichbar, dass beide als mimetische Prozesse funktionieren. Wer also eine Erzählung liest, wird aufgrund von Ähnlichkeitsmerkmalen in die Identifikation mit bestimmten Gestalten hineingeführt.

Die Urgeschichte der Genesis hat besonders hohes Identifikationspotenzial, sie erzählt Allmaliges als Erstmaliges, so hat es Erich Zenger formuliert. Das Allmalige ist in Gen 4 die Gewalt zwischen Menschen. Sie wird so dargestellt, dass das Hauptaugenmerk auf dem Täter liegt, dass die Perspektive des Täters eingenommen werden muss, folgen wir dem Gang der Erzählung.

Wenn diese Spannung zwischen Einfühlung und Moral nicht aufgehoben wird, was kann das für einen moralischen Lernprozess bedeuten?

Dietmar Mieth formuliert im Zusammenhang mit dem Lernen an Modellen (das er vom Vorbildlernen abgrenzt): "Eine Geschichte gibt zu denken, wenn sie Abstand von sich selbst mitgibt."11 Das Denken, das die Erzählung anstößt, ist, wenn ich den Rezeptionsprozess ernst nehme, kein sekundärer Akt. Da wäre die Erzählung bloßes Sprungbett für die >Moral von der Geschicht"<, die in einem Satz oder einem Bild zusammengefasst werden kann. ("Den Neid jag auf der Stelle fort! Aus Neid geschah der erste Mord."12) Der Lernprozess ist aber nicht nachträglich, sondern der Rezeptionsprozess kann selbst als Lernprozess begriffen werden. So wird die Forderung einer narrativen Ethik verständlich, die von der "Unhintergehbarkeit des Erzählens"13 ausgeht.

Die Erzählung Gen 4 gibt zu denken. Der Abstand zu sich selbst liegt gerade im Widerspruch von Empathie und Moral. Durch die Identifikation mit dem Täter wird der Leser/die Leserin dazu gedrängt, eine Entscheidung zu treffen. Jene Entscheidung, die Gott von Kain in der Erzählung fordert – nämlich, mit seinem Zorn anders umzugehen als durch Gewalt. Geschichten, die von ihren LeserInnen und HörerInnen eine Entscheidung fordern, fördern das moralische Lernen. Das hat die Arbeit mit so genannten Dilemmageschichten in der Pädagogik gezeigt.

Eine Identifikation mit dem Opfer, wie sie zum Beispiel in der literarischen Rezeption dieses Textes häufig vorgenommen wird, hat eine andere Funktion, kann aber gerade diesen Anstoß nicht geben. Den "Kain in uns" zu erkennen, bietet die Möglichkeit, mit dem Impuls zur Gewalt umzugehen; ein Umgehen, das jenseits der simplen Verurteilung der Tat liegt. Die Erzählung fordert von ihren LeserInnen eine Entscheidung gegen das Handeln der Hauptgestalt Kain. Diese Entscheidung können LeserInnen aber nur in der Identifikation mit ihm treffen.

Gott hat es nicht zugelassen, so der Midrasch, dass Esau seinen Bruder Jakob umbrachte. Wer weiß, vielleicht hat – anthropologisch gewendet – Esau gelernt aus der Erzählung von Kain und Abel.

Anmerkungen
  1. BerR.
  2. Millard, Matthias: Kain - ethische Evidenz in der Genesis. Ein Element biblischer Ethik in auslegungsgeschichtlicher Perspektive, in: Texte und Kontexte 22,3 (1999), S. 3-13, hier: S. 10.
  3. Aus der von Elmar Gruber herausgegebenen Kinderbibel. Zit. n. Oberthür, Rainer: Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht, München 1998, S. 68f.
  4. "Abel": 2b.4a.b. "sein Bruder Abel" oder "Abel s/dein Bruder": 2a.8a.9b. "m/d/sein Bruder": 8c.9e.10c.11b
  5. Abram, Ido: Judentum und permanentes Lernen, in: Uwe F. W. Bauer/Andreas H. Wöhle (Hg.): Lehren und Lernen in jüdisch-christlicher Tradition. Erfahrungen aus den Niederlanden (Erev Rav Hefte Israelitisch denken lernen Nr. 1), Knesebeck 1995, S. 47-59, hier: S. 48.
  6. Zit. n. Abram: Judentum, S. 47.
  7. Millard, Kain, S. 13.
  8. Vgl. Hilpert, Konrad: Experimentieren mit (un)moralischen Geschichten. Modelle des Handelns in Kinderbibeln, in: Ders. u.a.: Moral in Kinderbibeln. Vortrag und Bericht von der 3. Trierer Kinderbibeltagung 1997, hg. v. Franz W. Niehl und Hans-Gerd Wirtz, Trier 1998, S. 5-38
  9. Vgl. z. B. die Arbeiten von Anton Bucher und Silvia Arzt.
  10. Schlör, Veronika: Hermeneutik der Mimesis. Phänomene. Begriffliche Entwicklungen. Schöpferische Verdichtung in der Lyrik Christine Lavants, Düsseldorf/Bonn 1998, S. 37.
  11. Mieth, Dietmar/Mieth, Irene: Vorbild oder Modell? Geschichten und Überlegungen zur narrativen Ethik, in: KatBl 102. Jg. (1978), S. 625-631, hier: S. 630.
  12. Zit. n. Langer, Wolfgang: Moral aus der Bibel? Die ethische Interpretation von biblischen Texten in der bisherigen Praxis des Bibelunterrichts und als künftige Aufgabe, in: KatBl 102. Jg. (1978), S. 625, S. 634-645, hier: S. 635.
  13. Hilpert, Konrad: Experimentieren mit (un)moralischen Geschichten. Modelle des Handelns in Kinderbibeln, in: Ders. u.a.: Moral in Kinderbibeln. Vortrag und Bericht von der 3. Trierer Kinderbibeltagung 1997, hg. v. Franz W. Niehl und Hans-Gerd Wirtz, Trier 1998, S. 5-38

Editorische Anmerkungen

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