Moderne jüdische Ansichten über Jesus
Die lange Geschichte des Antisemitismus im Christentum, insbesondere seit dem Mittelalter bis in die im Holocaust gipfelnde moderne Ära hinein, hat es religiösen jüdischen Autoren schwer gemacht, sich mit Jesus und seiner Lehre in positiver Weise auseinanderzusetzen. Dr. Eugene Borowitz, einer der zeitgenössischen führenden Theologen des Judentums, drückte es mir gegenüber vor einigen Jahren bei einer Konferenz einmal so aus: es würde für ihn sehr schwierig sein, auch nur einhundert Juden zu finden, die an einer theologischen Diskussion über Jesus interessiert wären.
Trotz dieser emotionalen Blockade, die im Blick auf die Person und Botschaft Jesu fortbesteht, hat eine kleine Anzahl moderner, zeitgenössischer jüdischer Gelehrter und Künstler die "Jesusfrage", wenn ich sie so bezeichnen darf, innerhalb des vergangenen Jahrhunderts neu aufgeworfen. Das jüngste Buch von Matthew Hoffman, From Rebel to Rabbi: Reclaiming Jesus and the Making of Modern Jewish Culture [Vom Rebellen zum Rabbiner. Jesus und die Erschaffung einer modernen jüdischen Kultur zurückgewinnen], ist eine ausgezeichnete Einführung in das neue Interesse an Jesus, das sich im frühen Reformjudentum und in der Jiddisch-kulturellen Identitäts-Bewegung (oft ziemlich weltlich in ihrer Orientierung) vom späten neuenzehnten Jahrhundert bis ins frühe zwanzigste hinein bemerkbar machte.
Der interessante Aspekt dieser frühen modernen jüdischen Zurückgewinnung Jesu ist seine entschieden antichristliche Dimension. Ihr Ziel war, Jesus aus den behaupteten Verzerrungen des Christentums zu "befreien". Durch einige jüdische Autoren und Künstler dieser Periode (z.B. Chagall) wurde Jesus als der dargestellt, der die Leiden des jüdischen Volks innerhalb der christlichen Geschichte auf sich nahm. Unter diesen jüdischen Autoren gab es auch solche, die glaubten, dass durch Annahme des Gründers des Christentums, das ja eindeutig die dominierende Religion der westlichen Gesellschaft war, die Integration der jüdischen Gemeinschaft in diese Gesellschaft ermöglicht würde, eins der Hauptziele dieser Jiddischen Autoren und des Reformjudentums. Diese Bemühungen erzeugten erhebliche interne Opposition, insbesondere unter orthodoxen Juden und jenen jiddischen Autoren, die sich auf der Suche nach einer modernen jüdischen Identität auf die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates konzentrierten.
Vom gegenwärtigen Judentum aus gesehen gehören diese frühen Bemühungen, Jesus zu reklamieren, in die Vergangenheit. Wenn man sie im Nachhinein betrachtet, sieht man sowohl ihre positive wie auch ihre negative Wirkung. Positiv hoben sie das grundsätzliche Jude-Sein Jesu hervor, während christliche Theologen noch jenen prominenten deutschen Exegeten folgten, die Jesus von jedweder positiven Bindung an jüdische religiöse Tradition zu trennen versuchten und behaupteten, dass das Judentum mit dem Auftreten Jesu zu seinem Ende gekommen sei. Es führte einige bahnbrechende christliche Theologen dazu, schließlich ein völlig neues Fundament für ein Christentum zu legen, das sich im Blick auf Jesus um 180 Grad drehte, wie das in den Schriften vieler zeitgenössischer biblischer Gelehrter zum Ausdruck kommt, wie z. B. denen des Kardinals Carlo Martini SJ, und ebenso in den vatikanischen "Hinweisen für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche" von 1985, die zur Zwanzig-Jahr-Feier von Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils erlassen wurden.
Mit der Kritik am Antisemitismus, um die es diesen jüdischen Autoren ging, die „Jesus als Juden“ darstellten, setzte auch ein Prozess ein, der das christliche Gewissen im Blick auf die Geschichte des christlichen Antisemitismus in den Kirchen herausforderte. Und schließlich bezeichnete der verstorbene Papst Johannes Paul II den Antisemitismus in mehreren seiner Schriften als eine „Sünde“.
Auf der negativen Seite führte die endgültige Ablehnung dieser frühen modernen Bemühung, den jüdischen Jesus als einen integralen Bestandteil einer neu zu schaffenden modernen jüdischen religiösen und kulturellen Identität zurück zu gewinnen und dadurch die jüdische Integration in die moderne liberale Gesellschaft zu ermöglichen dazu, dass die „Jesusfrage“ auch von der Tagesordnung jüdischer Gelehrter und aus dem jüdischen öffentlichen Diskurs verschwand. Der Holocaust spielte natürlich ebenfalls eine Hauptrolle in dieser Angelegenheit. Daher auch die Bemerkung von Dr. Borowitz mir gegenüber, die ich anfänglich erwähnte.
Sogar das bahnbrechende jüdische Dokument über das Christentum, Dabru Emet (Rede Wahrheit), das von über zweihundert jüdischen Gelehrten und Rabbinern unterzeichnet wurde, erwähnt Jesus überhaupt nicht. Als auf einer internationalen Konferenz an der Universität von Cambridge kurz nach der Veröffentlichung von Dabru Emet im Jahr 2000 nach einer Erklärung für diese Auslassung gefragt wurde, antwortete einer seiner Autoren, Dr. Michael Signer von der University of Notre Dame, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, sich von jüdischer Seite aus mit der „Jesusfrage“ zu beschäftigen.
Einige jüdische Gelehrte beginnen, die Barriere des Schweigens über Jesus zu brechen, die für mehr als ein halbes Jahrhundert beharrlich bestanden hat. Géza Vermes von der Universität Oxford hat eine Trilogie von Büchern vorgelegt, die in populärem Stil die jüdischen Wurzeln der Lehre Jesu in den Evangelien aufzeigt. The Religion of Jesus the Jew [Die Religion Jesu des Juden] ist der jüngste Band dieser Trilogie. Eine amerikanische Bibelwissenschaftlerin, Amy-Jill Levine, hat ein Buch vorgelegt, in dem sie Jesus als Juden darstellt, der zu Juden spricht und eine Reformbewegung innerhalb des damaligen weltweiten Judentums beginnt, nicht eine völlig neue Religionsgemeinschaft.
Mehrere jüdische Gelehrte sind über die Frage des jüdischen Zusammenhangs der Lehren Jesu hinausgegangen zu einer wohl überlegten Bewertung der theologischen Dimensionen der Christologie, die sich aus diesen Lehren entwickelte. In einem anspruchsvollen neuen Buch, Opening the Covenant: A Jewish Theology of Christianity [Öffnung des Bundes. Eine jüdische Theologie des Christentums] argumentiert Dr. Michael Kogan, Juden sollten die an Jesus anknüpfende christologische Tradition als eine authentische Aneignung des absoluten und unbegreiflichen Geheimnisses der Gegenwart Gottes betrachten, die Seite an Seite mit der gleichfalls authentischen jüdischen Aneignung dieser göttlichen Gegenwart stehe. Und Dr. Elliot Wolfson untersucht mögliche Verbindungen zwischen christologischen Inkarnationsvorstellungen und jenen in einigen mystischen jüdischen Texten der gleichen Periode.
Andere jüdische Gelehrte, wie der orthodoxe Theologe Irving Greenberg, einer der kreativsten jüdischen Gelehrten im christlich-jüdischen Gespräch seit vielen Jahren, der an der Spitze des neuen jüdischen Denkens über Jesus und das Christentum steht, spricht von Jesus als „gescheitertem Messias“ im Gegensatz zu einem „falschen Messias“. In seinen Augen war auch Moses ein gescheiterter Messias. Der Begriff „gescheiterter Messias“ mag in christlichen Ohren ziemlich negativ klingen. Aber Greenberg meint den Begriff als positive Bewertung des Werkes Jesu, und darin stimmt Dr. Byron Sherwin vom Chicagoer Spertus Institut für Jüdische Studien mit ihm überein, wenn er diesen Begriff für Jesus ebenfalls gebraucht. Sie meinen beide, dass Jesus die dem Judentum integrale messianische Vision wesentlich gefördert hat, obwohl er sie in der kurzen Zeitspanne seines Lebens nicht ganz durchsetzen konnte. Eine derartige Perspektive ist eigentlich nicht so sehr weit entfernt von der christlichen Rede eines „noch nicht" und „doch schon", das heute oft gebraucht wird, um die Errichtung des messianischen Reiches durch Jesus zu umschreiben.
Die letzte Bewegung im Blick auf die Jesusfrage im Judentum bezieht sich auf die kürzlich unternommene massive Neuuntersuchung der zur Zeit noch vorherrschenden Vorstellung über die „Scheidung der Wege“ zwischen Judentum und Christentum. Eine wachsende Anzahl christlicher und jüdischer Gelehrter (z. B. Daniel Boyarin) stellt die Beziehung zwischen Kirche und Synagoge in völlig neuem Licht dar. Nach dieser Auffassung blieben sowohl Jesus als auch ein großer Teil der Kirche (vielleicht sogar die Mehrheit) für mehrere Jahrhunderte in einer jüdischen Umwelt voll integriert. Nicht einmal die „Anbetung Christi“ wird hier als total antithetisch zur kontinuierlichen Mitgliedschaft unter dem damaligen weiten Zelt der jüdischen Gemeinschaft gesehen. In dieser Perspektive, die in jüngsten Büchern vertreten wird wie z.B. in dem Buch The Ways that Never Parted [Die Wege, die sich nie voneinander trennten] (Hg. Adam H. Becker und Annette Yoshiko Reed) und in dem Buch Jewish Christianity Reconsidered: Rethinking Ancient Groups and Texts [Neubewertung der jüdischen Christenheit. Erneutes Nachdenken über Gruppen und Texte des Altertums] (Hg. Matt Jackson-McCabe), blieb sowohl Jesus selbst als auch später ein wesentlicher Teil der frühen christlichen Gemeinschaft völlig mit dem Judentum verbunden. Für jüdische Gelehrte innerhalb dieser neuen Gelehrtengruppe wird Jesus zu einer wichtigen jüdischen Führungspersönlichkeit, die sich neben anderen prominenten Persönlichkeiten seiner Zeit für Reformen einsetzt.
Die „Jesusfrage“ erlebt also innerhalb bestimmter jüdischer Kreise tatsächlich ein Comeback, viel mehr als es noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. Allerdings vollzieht sich diese neue jüdische Jesusforschung jetzt viel mehr in Zusammenarbeit mit der christlichen theologischen Wissenschaft als dies im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert der Fall war. Wohin diese Forschung führen mag, bleibt eine offene Frage.