Mit Juden reden, nicht über sie!

Die Bedeutung des christlich-jüdischen Gesprächs in meinem Leben. Ein Rechenschaftsbericht.

Ulrich Trinks

Mit Juden reden, nicht über sie!

Die Bedeutung des christlich-jüdischen Gesprächs in meinem Leben

Ein Rechenschaftsbericht

Im ersten Arbeitsjahr der Evangelischen Akademie Wien 1966/ 67 im Albert-Schweitzer- Haus veranstalteten wir auf dem Hintergrund bereits langjähriger Bemühungen von Theologen der Evangelischen Kirche in Österreich (EKÖ) eine Vortragsreihe zur Geschichte des Judentums mit einigen Schwerpunkten, die zur Gänze von Mitarbeitern getragen war, die der Evangelischen Akademie nahe standen und vormals auch dem Evangelischen Dienst an Israel angehört hatten. Schon damals gab es bereits einige Jahre lang den Koordinierungs- ausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit unter der Präsidentschaft der Herren Univ.-Prof. Dr. Kurt Schubert (r.k.), Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Dantine (ev.) und Dipl.Kfm. Otto Herz (jüd.). Als ich das gedruckte, mit den Dekalog-Tafeln grafisch verzierte Programm verschickt hatte, erhielt ich einen freundlichen, aber sehr energischen Brief von dem jüdischen Präsidenten, Otto Herz, mit der deutlichen Kritik, dass „wieder einmal über Juden und nicht mit den Juden geredet“ würde.

Alte Akten und neue Aufgaben

Dieser Einwand traf mich wie ein Blitz: Von da an habe ich keine Veranstaltung mehr verantwortet, an der nicht eine jüdische Gesprächspartnerschaft vorgesehen war. Gleichzeitig ging auch die Tätigkeit des genannten Evangelischen Dienstes an Israel, nach der Pensionierung von Pfarrer Dr. Popper und einigen Jahren der Betreuung durch den lutherischen Pfarrer an der Gemeinde Innere Stadt, Adolf Rücker, zu Ende. Der damalige Vorsitzende und enge Kollege von Wilhelm Dantine, der Kirchengeschichtler Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Kühnert übergab die noch vorhandenen Unterlagen und den bisherigen Aufgabenbereich an die Evangelische Akademie zu meinen Händen. Pfarrer Rücker war als Beauftragter des aus der Schwedischen Mission für Israel in der Seegasse hervorgegangenen Evangelischen Dienstes an Israel noch einige Zeit bei der Betreuung der zum Teil schon hochbetagten Mitglieder dieser Einrichtung tätig und sorgte auch für die weitere Verbreitung der deutschsprachigen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift dieser schwedischen Einrichtung. Die Geschichte der Schwedischen Mission wird derzeit noch von einem jungen schwedischen Historiker bearbeitet, während insonderheit deren wichtige Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus in Wien von Frau Mag. Monika Nüchtern als Vorlauf ihrer Seminararbeit an der evangelisch theologischen Fakultät Wien über die Haltung der Evangelischen Kirche in Österreich zum Judentum in der Nachkriegszeit dargestellt wurde, d.h. eben die Arbeit des Beauftragten Pfarrer Dr. Popper. Daraus ergab sich, ganz abgesehen von meinem persönlichen Interesse, die Notwendigkeit, dieses Erbe als ein Teil des regelmäßigen Programms der Akademie fortzuführen.

Die nächsten Veranstaltungen wurden auf den berechtigten Einwand von Otto Herz hin, wie schon gesagt, immer mit jüdischer Beteiligung geplant und durchgeführt, wobei Otto Herz als regelmäßiger Gesprächspartner auch für uns im evangelischen Bereich freundlich und sachkundig zur Verfügung stand. Von damals her gab es ebenso selbstverständlich eine enge Zusammenarbeit mit dem Vorstand des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, in den ich sehr bald auch als weiteres Mitglied gewählt wurde. Nicht nur Otto Herz stand für Vorträge zur Verfügung, sondern sehr bald auch Frau Alisa Stadler, die ihre ersten Lesungen aus einer sich langsam entwickelnden neuen Psalmen-Übersetzung und Vorträge über die Situation des Staates Israel, wo sie seit ihrer Emigration aus Österreich viele Jahre in einem Kibbuz gelebt hatte, in der Akademie hielt. Diesen Themenbereich ergänzte sie durch Berichte über die neuere israelische Literatur, was sie seither bis zu ihrem Tode (1996) in vielfältiger Weise fortsetzte.

Meine Arbeitsbereiche in diesem Feld erweiterten sich netzartig sehr rasch, sodass ich 1972 auch in den Vorstand der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich zunächst als Stellvertreter zur Generalsekretärin Frau Lucie Begov und sehr bald als ihr Nachfolger gewählt wurde. Damit gewann die politische Dimension auch für meine Tätigkeit erhöhte Bedeutung und führte zu weiteren, zum Teil längerfristigen Projekten. Zu den Förderern und Anregern meiner Arbeit gehörte in diesen ersten Jahren neben den erwähnten Professoren und Mitarbeitern des Akademievorstandes, wie zum Beispiel der Religionspädagoge und spätere Dozent für dieses Fach an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Wien, Dr. Edgar Roth, vor allem auch der Generalsekretär der Internationalen Judenchristlichen Allianz, der anglikanische Pfarrer David Leuner (London). David Leuner kam regelmäßig nach Wien, um die Freunde aus der vormaligen Schwedischen Mission und die Repräsentanten des Koordinierungsausschusses zu besuchen. Er war ja auch maßgeblich an der interreligiösen Zusammenarbeit etwa auf dem Boden des Koordinierungsausschusses beteiligt und ein unermüdlicher Mahner, in vielfältiger Weise dafür weiter zu arbeiten. Auch er gehörte zu den Vortragenden auf dem Boden der Evangelischen Akademie und war neben seiner Freundschaft zu Wilhelm Dantine auch ein kluger älterer Berater für mich.

Programmatische Papiere und Bildungsveranstaltungen

Einen wesentlichen Einschnitt in der damaligen Wiener Situation bedeutete die Aufführung von Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ am Burgtheater und die anschließende, zum Teil äußerst heftige öffentliche Diskussion sowohl unter FachhistorikerInnen, Kirchenleuten und in den Zeitungen des Landes. Aus dieser Auseinandersetzung entstand das Programm einer Veranstaltungswoche an der Wiener Universität zum Thema „Judenhass - Schuld der Christen“, deren Träger wegen des Bezuges auf den universitären Raum die katholischen und evangelischen Hochschulgemeinden in Wien waren. Der Katholische Akademikerverband und die Evangelische Akademie waren Mitveranstalter und auch an den weiteren Kontroversen intensiv beteiligt. Außerdem fand in unmittelbarer zeitlicher Nähe die erste große Dokumentarausstellung über „Die verbrannten Bücher“ in Erinnerung an die NS-Bücherverbrennungen des Jahres 1933 im Deutschen Reich statt, die Desider Stern zusammen getragen und mit einem Katalog begleitet hatte. Rund um diese Ausstellung gab es eine Reihe von Vorträgen und Podiumsdiskussionen, an denen aus unserem Kreis vor allem Wilhelm Dantine maßgeblich beteiligt war.

Im Hintergrund dieser öffentlichen Präsentationen war inzwischen auch eine Textvorlage zum Beschluss durch die evangelische Generalsynode A.u.H.B. vorangeschritten, an deren Entwicklung ich seit meiner Mitgliedschaft in der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Theologie und Kirche (unter der Leitung der ev. Theologieprofessoren Dantine, Fitzer und Kühnert) seit dem Ende der 50er Jahre beteiligt war. Auch hierbei zeigte sich eine enge Zusammenarbeit der an dem christlich-jüdischen Gespräch beteiligten Personen innerhalb der Evangelischen Kirche. Mehrere Entwürfe waren vorausgegangen, bis schließlich der damalige Bischof der Evangelischen Kirche A.B., D. Gerhard May, mit Nachdruck die Vorlage eines solchen Textes zur Neuorientierung des Verhältnisses von Kirche und Judentum vorantrieb. Materialien zu diesem „Wort der Generalsynode“ wurden in der Zeitschrift „VOCATI (sumus ad militiam Dei vivi)“, von der Evangelischen Studentengemeinde in Österreich unter der redaktionellen Leitung des Studentenpfarrers Heino Meerwein herausgegeben, veröffentlicht. Die innerkirchliche Diskussion war auch außerordentlich heftig und wurde zum großen Teil von dem Mitteilungsblatt Bischof Mays für die kirchlichen Amtsträger wenigstens im internen Bereich publiziert. An dieser Diskussion war ich selbst auch intensiv beteiligt: Die schwierigen Punkte waren nicht nur die entschiedene Ablehnung jeder Art von evangelisch-kirchlicher Judenfeindschaft, sondern auch die erste im weiteren Kreis publizierte Ablehnung jeder Art von Judenmission. Es ist ein Zeichen für die Hartnäckigkeit und die lange zeitliche Dauer, bis solche feindlichen Haltungen und auch die theologische Rechtfertigung für die christliche Ablehnung des Judentums aus ihrer geschichtlichen Einwurzelung herausgeholt und verändert werden können.

Es ist noch nicht so lange her, dass mir vor etwa einem Jahrzehnt die großartige Bundesgenossin beim Abbau von Judenfeindschaft, Frau Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl, ihre Betroffenheit berichtete, dass alle ihre jahrzehntelange Arbeit in der akademischen Lehre als Zeithistorikerin und ihre umfangreiche Vortrags- und Publikationstätigkeit nicht in stärkerem Maße zum Verschwinden von Judenfeindschaft in unserer Bevölkerung beitragen konnte. Es gehört eben auch zu meinen Erfahrungen als Mitglied einer Minderheitskirche in unserem Land, dass die Erneuerung des evangelisch-kirchlichen Verhältnisses zum Judentum auch innerhalb unserer Kirche ein Minoritätsprogramm war und es erst geduldiger und hartnäckiger Bemühung bedarf, neu gewonnene Einsichten auch an die Basis zu vermitteln. Heute ist es bei uns nicht zu sehr die explizite Judenfeindschaft, aber in vielen evangelischen Gemeinden und Gruppen die Kritik an unserer Forderung nach Abweisung jeder Art von Judenmission, die weiterhin zu heftigen Kontroversen führt. Die Erklärung unserer Generalsynode vom November 1998, die zum ersten Mal eine gründliche Darstellung der neu gewonnenen Position von evangelischer Kirche zum Judentum bringt, ist erst der Anfang einer durchdringenden Arbeit in allen kirchlichen Einrichtungen und Gliederungen.

Als Generalsekretär der Aktion gegen den Antisemitismus habe ich mehr als ein Jahrzehnt Studienseminare mit Lehrkräften aller Schulstufen, schließlich auch mit Schulhort BetreuerInnen, in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Institut der Stadt Wien veranstaltet, zum Abbau von Vorurteilen und Feindbildern im Unterricht. Das reiche Angebot von Fortbildungsseminaren durch die Schulbehörden hat diese Initiative einer privaten Organisation zum Erliegen gebracht. Hilfreich war in diesem Bereich dann die Aktion des Einsatzes von Zeitzeugen aus den verschiedenen Opferverbänden und Organisationen der Widerstandskämpfer an den Schulen als Folge des Films „Holocaust“. Es ist durchaus verständlich und auch in Ordnung, wenn bestimmte Initiativen von nicht amtlich-offizieller Seite von den zuständigen öffentlichen Einrichtungen, wie etwa dem Schulwesen, übernommen wurden und sich etwa die Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich so anderen Schwerpunkten zuwenden konnte. Dies entspricht auch der Offenheit einer demokratischen Gesellschaft, die in einem Wechselspiel veränderte Bundesgenossenschaften akzeptiert.

Internationale Kontakte

Im Lauf der Jahre ist mir dann auch die Beteiligung an internationalen Einrichtungen auf diesem Gebiet möglich geworden, was für mich einen außerordentlichen wichtigen Lernprozess darstellt. Das gilt ebenso für die österreichische Vertretung im Internationalen Rat der Christen und Juden (ICCJ) wie die Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, deren Mitglied ich bis heute bin. Die langjährige Mitarbeit im ICCJ galt vor allem den Studienkonferenzen, bei denen konkrete Projekte auf internationaler Ebene ausgearbeitet und voran getrieben werden sollten. Als die wichtigste Frucht meiner Mitarbeit gilt für mich die Entwicklung einer umfangreichen Studie über die Darstellung des Judentums in den Lehrplänen und Lehrmaterialien der österreichischen höheren Schulen. Es gelang mir, einen hochqualifizierten Historiker und Judaisten, MMag. Wolfgang Lassmann, für seine judaistische Diplomarbeit zu diesem Thema zu gewinnen, nachdem er auf meine Veranlassung an mehreren Studientagungen für dieses Thema teilgenommen hatte. Leider brachte diese Initiative eine doppelte Enttäuschung: Das Unterrichtsministerium und dessen Abteilung „Politische Bildung“ zeigte kein Interesse, diese hervorragende Arbeit in die gedruckten Materialien der Abteilung aufzunehmen und damit eine breitere Fachdiskussion unter den Schulhistorikern auszulösen. Andererseits blieb diese Arbeit, vom ICCJ lediglich ideell unterstützt, ebenso ohne Resonanz aus den Mitgliedsländern dieser internationalen Organisation, obwohl diese Studie den Charakter einer Pilotarbeit für das ganze Projekt des Rates hatte. Der Internationale Rat hat überhaupt viele wichtige Themen aufgegriffen, die mit aufwendigen Tagungen eingeleitet, aber dann nicht mehr weiter verfolgt wurden. Diese Schwäche des Rates ist zu meinem Bedauern bis heute nicht korrigiert worden. Die Arbeit von W. Lassmann ist inzwischen in einer unabhängigen Publikation ähnlicher Arbeiten in Deutschland veröffentlicht worden. Ähnliche Erfahrungen auch in anderen Projekten haben zu meinem Rückzug aus der aktiven Mitarbeit im Rahmen des ICCJ geführt.

Schließlich wurde ich mit Zustimmung meiner Kirchenleitung seit deren personeller Veränderung Mitte der 80er Jahre auch in die diesbezügliche Fachgruppe für den christlich-jüdischen Dialog im Weltrat der Kirchen (WCC) in Genf berufen, wofür man mir meine schon frühere interkonfessionelle und ökumenische Erfahrung im Kreis der europäischen Akademien und Laieninstitute ebenso zugute kam wie das ständige Gespräch mit den auf unserem Gebiet engagierten Theologen in Österreich und im Ausland. Aus meiner Mitarbeit im Koordinierungsausschuss und der engen Freundschaft zu deren damaliger geschäftsführenden Präsidentin, der Zionsschwester Dr. Hedwig Wahle, ist auch mein Plan entstanden, in der Zeit meines dienstlichen Ruhestandes seit 1993 diesen Bereich als bis heute wichtigen Schwerpunkt meiner nachberuflichen Tätigkeit wahrzunehmen.

Familiengeschichte

Die Erfahrungen in meiner Familie waren vor allem seit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jänner 1933 so massiv kritisch geworden, daß die Frage nach meinen jüdischen Vorfahren nicht mehr in der allgemeinen Christlichkeit und gesellschaftlichen Integration verborgen bleiben konnte. Von der Seite meines Vaters gab es eine jüdische Großmutter, die erst bei der Eheschließung mit dem väterlichen Großvater katholisch geworden war, weil einerseits der Vorfahr, aus Österreich stammend, katholisch war und andererseits die damaligen gesetzlichen Bestimmungen im Herzogtum Braunschweig konfessionelle Mischehen, welcher Art auch immer, untersagten. Der Vater jener Frau war Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Helmstedt und mit seiner Ehefrau seit vielen Generationen bis ins 17. Jahrhundert nachweislich aus jüdischen Familien stammend. Dem gesellschaftlichen Druck und den liberaleren Einstellungen gegenüber religiösen, konfessionellen Bindungen folgend waren mit meiner Urgroßmutter in der gleichen Generation auch alle ihre Geschwister, Männer und Frauen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts getauft worden, sodass nurmehr ein einziger Zweig der Familie noch dem religiösen Judentum zugehörte. Trotzdem war der Zusammenhalt und auch die weite Zerstreuung der verschiedenen Familienzweige in Europa bis in die Nazizeit lebendig und damit auch in der Generation meines Vaters.

Er war 1958 76jährig gestorben und gehörte daher jener Übergangsgeneration an, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammend, mit der unmittelbaren Erfahrung zweier Weltkriege und den beiden politischen Perioden Deutschlands, der Weimarer Republik und des Nazi-Regimes, in der Mitte ihres Lebens umzugehen hatte. 1933 wurde er, sowohl wegen seiner jüdischen Vorfahren als auch wegen seiner „konservativen“ politischen Einstellung, von den Nationalsozialisten als Landgerichtspräsident abgesetzt und erst unmittelbar nach der Befreiung meiner Heimatstadt durch die Alliierten Anfang Mai 1945 von der Militärregierung wiederum in sein altes Amt eingesetzt. Zur gleichen Zeit begannen auch meine intensiveren Gespräche mit meinem Vater, und später nach dessen Tod fortgeführt mit meiner Mutter, über die Zeit seit dem ersten Weltkrieg und vor allem die NS-Zeit. Auch der Generationsunterschied zwischen uns und selbst die klare antifaschistische Einstellung meiner Eltern haben diese Gespräche entgegen meinen Erwartungen nicht erleichtert. Hinzu kam, daß ich schon während der Kriegszeit einer Jugendgruppe mit stark biblischem Hintergrund und Nähe zu den wenigen Mitarbeitern aus der Bekennenden Kirche in meiner braunschweigischen Landeskirche angehörte, während sonst diese lutherische Kirche von der Leitung über die Pfarrerschaft bis zu den meisten anderen kirchlichen Mitarbeitern deutsch-christlich verseucht war. Dies hat meinen späteren Werdegang und darin auch ganz zentral die Frage nach dem Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Judentum bleibend geprägt.

Mir war und ist völlig klar, daß die Beschäftigung mit meiner Familiengeschichte und das Erlebnis, daß auch zahllose andere in Deutschland verbliebene Abkömmlinge unserer jüdischen Vorfahren Opfer der Judenfeindschaft wurden, ein Element meines seitherigen Engagements darstellen, ein anderes wurde schon sehr früh deutlich aus einer sehr bewussten evangelisch-lutherischen Haltung heraus, sodass ich aus dieser Position meine seitherige Arbeit einer Erneuerung des Verhältnisses von Kirche und Judentum widme.

Die Quintessenz ist in vielen guten Texten der evangelischen Kirchen in den letzten fünfzig Jahren formuliert worden, von der entschiedenen Ablehnung jeder Art von Judenfeindschaft in den Kirchen und Theologien bis zu den positiven Darstellungen einer neu gewonnenen Einsicht in den ungekündigten Bund zwischen Gott und dem Volk Israel und einer neuen Ausarbeitung des paulinischen Bildes von der Wurzel und dem Baum, welches in unüberholbarer Weise die Sache darstellt, um die es in diesem neuen Verständnis gehen muss. Stationen auf diesem Wege waren vor allem Auseinandersetzungen um die weit verbreitete Lehre von der Ablösung des Volkes Gottes in den Juden nunmehr durch die Heilstat Jesu durch die christliche Kirche. Hierin lag eben bis heute das Grundübel der christlichen Judenfeindschaft. Dieses Verständnis der Kirchen gegenüber und in der Ablehnung des jüdischen Volkes als des älteren Gottes Geliebten war auch das Motiv für die Einrichtung einer institutionalisierten Judenmission, sosehr diese auch in ihren Bemühungen das Judentum ernst zu nehmen und ihre Angehörigen nicht feindselig zu behandeln versuchte. Auch dies ist eine Frage, die bis heute in den verschiedenen Ausprägungen evangelischer Glaubensformen strittig ist. Umso wichtiger ist mir daher, dass meine Kirche hier in Österreich spät, aber dann doch mit aller notwendigen Deutlichkeit in ihrer Erklärung vom November 1998 Stellung bezogen hat.

Das Selbstverständnis des Judentums achten

Im Einzelnen habe ich bei verschiedenen Projekten der jüdischen Gemeinde unseres Landes mithelfen können, deren Erneuerung vor allem beim Ausbau des jüdischen Bildungswesens zu fördern, was für mich über manche bildungspolitische Erfahrung auch einen entscheidenden Lernprozess, etwa im Umgang mit der Vielfalt jüdischer Glaubens- und Lebensweisen, gebracht hat - ganz abgesehen von den neu gewonnenen Freundschaften im persönlichen Bereich. Für die gegenwärtige Situation bleibt allerdings noch immer offen, wie weit sich die christlichen Kirchen nicht nur unseres Landes, sondern weltweit, ernsthaft bemühen, dass das in jenen Texten zum Ausdruck gebrachte erneuerte Verständnis für das Judentum gerade auch für den christlichen Glauben an die Basis, also die Mitglieder unserer Kirchen, wirksam vermittelt wird. Dazu gehört auch ein sorgfältiges Studium mit allen Richtungen jüdischer Partner. Denn nichts ist verhängnisvoller, auch für die öffentliche Präsentation, als das Heraussuchen jener jüdischen Richtungen, mit denen Christen meinen, am ehesten ein freund-nachbarschaftliches Verhältnis entwickeln zu können. Die Begegnung und partielle Zusammenarbeit auch mit Mitgliedern der jüdischen Orthodoxie, etwa in den großen Schulprojekten, hat mich zu dieser Einsicht geführt und sollte auch vor einer schnellen Umwandlung von Ablehnung oder Gleichgültigkeit zu einer Begeisterung für die Übernahme jüdischer Traditionen, etwa in liturgischen Veranstaltungen (so z.B. christlichen Seder-Feiern), warnen.

Suche nach Gott: Ein konfliktreicher Weg

Auch die Hauptlinien der christlichen Theologie, unabhängig von den verschiedenen Konfessionen, nehmen in der Auslegung der Texte der hebräischen Bibel auf die lebendige, ununterbrochene, jüdische Auslegung und Verkündigung erst sehr wenig Rücksicht. Auf dieses Problem macht erfreulicherweise auch die Erklärung der EKÖ mit Nachdruck aufmerksam. Die theologischen Fakultäten haben dies durchaus noch nicht überall und in allen einzelnen Fachdisziplinen übernommen.

Schließlich bleibt noch offen, wie weit nicht die öffentliche Präsentation einer Zusammenarbeit von „Weltreligionen“ die einzigartige Beziehung des Christentums zum Judentum vernachlässigt, wobei schon der Begriff „Weltreligion“ solange verschwommen bleibt, als dieses besondere Verhältnis beider biblischen Traditionen nicht wirklich erneuert ist. Die Summierung von Religionen dieser Erde mit größeren Quantitäten von Gläubigen unter einem solchen Oberbegriff reicht nicht aus, um daraus eine Art von Zusammenordnung abzuleiten. Das heißt natürlich nicht, dass die Bemühungen um Verständnis und vor allem Toleranz im gesellschaftlich-politischen Umgang miteinander nicht zu fördern sind! Die Interessenslagen der alten abendländischen, religiösen Traditionen sind sicher eine wichtige Triebkraft für das Bemühen um Verständigung. Aber gerade die christlichen Kirchen wissen doch geschichtlich ein Lied davon zu singen, was ihre Selbsterhaltungspolitik für verhängnisvolle Folgen für die jeweils anderen hatte und hat - ganz abgesehen davon, dass ein solches „incurvatus in se ipsum“ (Luther) ganz offensichtlich in den christlichen Kirchen Europas an einen kritischen Punkt gelangt ist. Die Frucht eines erneuerten Ernst-Nehmens der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens könnte doch eine gemeinsame, offene Bundesgenossenschaft für Frieden, Gerechtigkeit und fürsorgliche Behandlung der Geschöpflichkeit bringen, was im konkreten ganz sicher ein konfliktreicher Weg ist. Die hebräische Bibel ist vom ersten bis zum letzten Buch voll von der Darstellung, wie vermiedener Gottesgehorsam gerade Konflikte schafft und nicht vermeidet oder abbaut.

So möchte ich mit einem von mir ausgelegten Wort aus dem ersten Petrusbrief (3,15) schließen: „Seid jederzeit bereit zur Verantwortung gegenüber allen, die eine Begründung für die Hoffnung fordern, die in euch ist - wenn sie euch danach fragen!“