„Mir war nie darum zu tun, die Erste zu sein.“ Das Vermächtnis von Rabbinerin Regina Jonas

Als Rabbinerin in Kontinentaleuropa gerät man schnell in die Rolle der „Ersten“ – „erste Rabbinerin“ in dem jeweiligen Land – „erste Rabbinerin“ in einer bestimmten, bis dahin männlich geprägten Institution – „als Rabbinerin die Erste“, die ein bestimmtes Terrain erschließt.

Nicht singulär!

Gerade bei Frauen wirkt die Bezeichnung „Erste“ mitunter wie ein Privileg, das zugleich die Gefahr birgt, den größeren Kontext zu verdrängen. Auch die tatsächlich erste Rabbinerin, Regina Jonas (1902–1944), kämpfte mit diesem Problem. In einem Interview von 1939[1] unterstrich sie jedoch: „Mir war nie darum zu tun, die Erste zu sein. Ich wünschte, ich wäre die 100.000e!“[2]

In ihrer Abschlussarbeit am Ende ihres Rabbinatsstudiums hatte sie zahlreiche historische Vorgängerinnen gewürdigt, die zwar nicht den Titel „Rabbinerin“ trugen, aber dennoch rabbinisch wirkten – so dass sich Jonas mit ihrer Absicht, Rabbinerin zu werden, fast nur in eine bereits bestehende Tradition gelehrter jüdischer Frauen zu stellen schien.

Jonas gehörte in jedem Fall in den größeren Kontext der jüdischen Frauenbewegung, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg für die Gleichberechtigung der Frauen in den jüdischen Gemeinden kämpfte. In den USA hatte vor Regina Jonas bereits Martha Neumark versucht, Rabbinerin zu werden, was jedoch 1922 in einem großen Responsum des amerikanischen Reform-Rabbinerseminars, des Hebrew Union College in Cincinatti, abgelehnt wurde. 1928 predigte anlässlich der Tagung der „World Union for Progressive Judaism“ mit Lily Montagu, der Begründerin des Liberal Judaism in England, erstmals eine Frau von einer Berliner Synagogenkanzel. Über diese ersten wichtigen Zeichen hinaus war es jedoch Regina Jonas als erster Frau gelungen, mit der erklärten Absicht, Rabbinerin zu werden, das Rabbinatsstudium an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zu absolvieren und nach zähem Ringen 1935 tatsächlich die Smicha, die Rabbinerwürde, zu erhalten. Jonas blieben leider nur wenige Jahre, um in der Berliner Jüdischen Gemeinde als Rabbinerin zu arbeiten. 1942 wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

So wenig angemessen es wäre, Regina Jonas‘ Lebensweg losgelöst von der größeren Geschichte jüdischer Frauenemanzipation nachzuzeichnen, wäre es, ihre Geschichte allein im dramatischen Fokus der Schoa zu erzählen. Jonas hatte sich bewusst entschieden, in Deutschland zu bleiben – und blieb damit bis zuletzt im Kontext des deutschen Judentums, das auch unter fürchterlichster Bedrängnis weiterhin seine religiöse Modernität zu tragen entschlossen war. Sie predigte in den Berliner Synagogen, erlebte das Novemberpogrom 1938, half den bedrängten Leidensgenossen, wo immer sie konnte und leistete ab 1941 Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik Epeco. Überlebende berichten, wie sie selbst dort die Gleichberechtigung der Geschlechter als religiöse Pflicht vertrat. „Ihre Synagoge war überall“, erinnerte sich ein Zeitzeuge.[3] Ein im heutigen Archiv der Gedenkstätte Terezín befindliches Dokument über Jonas‘ rabbinische Tätigkeit im damaligen Ghetto Theresienstadt enthält auch Stichpunkte einer Predigt von ihr, welche Jonas‘ religiöse Botschaft bezeugt:

„Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu erreichten, war und ist Israels Aufgabe – Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüd?ischer? Treue übernommen. ?…? Aufrechte ‚jüd?ische? Männer‘ und ‚tapfere edle Frauen‘ waren stets die Erhalter unseres Volkes. Mögen wir vor Gott würdig befunden werden, in den Kreis dieser Frauen und Männer eingereiht zu werden … der Lohn, der Dank einer Mizwa, einer Großtat, ist die sittliche Großtat vor Gott.“[4]

Nicht der Leidensweg von Regina Jonas sollte als ihr Vermächtnis angesehen werden, sondern die Botschaft, die aus solchen Worten über den Abgrund der Schoa zu uns heutigen religiös interessierten Jüdinnen und Juden spricht. Sie enthalten die Quintessenz einer Argumentation, die bei Jonas zur Gleichberechtigung der jüdischen Frau bis hin zum Rabbinat führte. Es war eine Argumentation aus der religiösen Logik der Pflicht, der Mizwa, die Jonas bereits in ihrer Abschlussarbeit am Ende ihres Rabbinatsstudiums vertreten hatte. Die 1930 eingereichte Arbeit trug den Titel „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“[5] Darin begründete Regina Jonas umfassend, dass es in der jüdischen Religion möglich ist, Frauen als Rabbinerinnen zuzulassen. Jonas verfolgte jedoch einen konservativen Ansatz, der die jüdische Tradition nicht verändern, sondern verwirklichen sollte. Sie versuchte damit nachzuweisen, dass die innere Logik der jüdischen Religion die Emanzipation der Frau nicht nur erlaubt, sondern dass diese sogar schon bei der Offenbarung der Tora am Berg Sinai immanent mit angelegt gewesen sei. Ihre Arbeit war eine halachische, also eine religionsgesetzliche. Das bedeutet, dass Jonas detailliert die Vorschriften in der Tora, dem Talmud, den nachfolgenden rabbinischen Gesetzeskodexen und Responsen bis in die moderne Zeit hinein im Lichte der gestellten Frage analysierte. Auf diese Weise zeichnete sie jahrhundertelange rabbinische Auseinandersetzungen mit den Rechten der Frau nach. Jonas kam zu einem positiven Schluss. Unter Erwägung aller von ihr aufgeführter Argumente mündete ihre Arbeit in die Feststellung: „Außer Vorurteil und Ungewohntsein steht hal[achisch] fast nichts dem Bekleiden des rabbinischen Amtes seitens der Frau entgegen.“[6]

Jonas bekam für diese Arbeit das Prädikat „im Ganzen gut“, doch zur Enttäuschung vieler war die Hochschule 1930 nicht bereit, Jonas als Rabbinerin zu ordinieren. Ihr wurde damals lediglich das „Zeugnis über die akademische Religionslehrerprüfung“ ausgestellt. Erst fünf Jahre später nahm der liberale Rabbiner Max Dienemann im Auftrag des Allgemeinen Rabbinerverbandes Jonas die Rabbinatsprüfung ab und gab ihr die Smicha – die Autorisierung zur Rabbinerin.

Pflichtenethik

Anhand von Jonas‘ Abschlussarbeit lässt sich aufzeigen, dass der religiöse Feminismus eine eigene Qualität gegenüber dem politischen Feminismus besitzt. So trägt Jonas‘ „Feminismus“, soweit man diesen Begriff auf sie beziehen kann, der heute erneut in den Fokus gerückten Feststellung Rechnung, dass es sich bei der jüdischen Religion vor allem um eine Ethik von „Pflichten“ handelt.[7] Während der politische Feminismus um „Rechte“ kämpft, ringt die jüdische feministische Theologie auch heute mindestens genauso mit „Pflichten“ – das heißt: mit von Gott gebotenen Pflichten. Ein Kernbegriff der rabbinischen Tradition ist die Mizwa – das verpflichtende Gebot. Alle tätigen Gebote der Halacha, also des Korpus der jüdischen Religionsgesetze, sind Mizwot – Handlungen, zu denen man verpflichtet ist. Dementsprechend argumentierte auch Jonas‘ halachische Arbeit entlang der „Pflichten“. Ihre Arbeit zugunsten der Gleichberechtigung der Frau muss also im Lichte einer für die jüdische Religion wesentlichen Unterscheidung zwischen „Rechten“ und „Pflichten“ (Mizwot) gelesen werden.

Ein Beispiel hierfür ist die von Jonas erörterte Frage, ob die Pflicht des öffentlichen Vorlesens der Tora im Gottesdienst auch für die Frau gilt. Der von den Rabbinen im 6. Jahrhundert kodifizierte, für gesetzestreue Juden heute immer noch autoritative Talmud sagt hierzu: „Alle sind zu den Sieben *die aus der Tora vorzulesen haben+ zulässig, selbst ein Minderjähriger und selbst eine Frau.“[8] Selbst eine Frau, die die Menstruation hat, dürfe aus der Tora lesen und sie berühren. Denn entgegen einem weit verbreiteten Aberglauben nehme die Tora keine Unreinheit an.[9] „Zulässig“ zu sein bedeutete aber noch nicht, „verpflichtet“ zu sein. Denn wenn Frauen im Gottesdienst aus der Tora vorlesen dürfen, warum wurden sie trotzdem jahrhundertlang nicht hierzu aufgerufen? Nicht, weil es ihnen verboten sei, sagten hierzu die talmudischen Rabbinen, sondern: „Aus Achtung vor der Gemeinde“. Es könne, wie später Raschi erläuterte, ein schlechtes Licht auf den Zustand der Gemeinde werfen, wenn Frauen, die nur freiwillig Tora lesen, dies besser könnten als Männer, die hierzu verpflichtet waren.

Nach den Wertigkeiten des rabbinischen Judentums steht also jemand, dem „Pflichten“ obliegen, höher als jemand, der nur „Rechte“ genießt. Dies führte dazu, dass die Rechte der Frauen auf aktive Teilhabe an der Tradition gegenüber den Pflichten der Männer, sie aktiv auszuüben, regelmäßig vernachlässigt wurden. Als Folge hiervon wurde allgemein angenommen, dass es Frauen grundsätzlich verboten sei. Männer hingegen wurden aufgrund ihrer Verpflichtung gefördert. Der Unterschied zwischen „Recht“ und „Pflicht“ drängte Frauen selbst da zurück, wo sie ausdrücklich gleichgestellt erscheinen. Zum Beispiel steht in Deuteronomium 31,12: „Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Städten lebt, damit sie es hören und lernen und den Ewigen, euren Gott fürchten und alle Worte dieser Tora halten und tun.“ Obwohl hier die Frauen gleichwertig aufgezählt werden, liest die rabbinisch-talmudische Auslegung in diesen Worten einen unterschiedlichen Grad an Verpflichtung: „Die Männer, um zu lernen; die Frauen, um zu hören.“[10] „Lernen“ verpflichte die Männer auf ein regelmäßiges und vertiefendes Studium; „Hören“ hingegen bedeute nur ein oberflächliches Belehrtwerden der Frauen ohne Vertiefung.

Um die Gleichberechtigung der jüdischen Frau bis hin zum Rabbinat halachisch zu rechtfertigen, musste Jonas also nachweisen, dass Frauen in gleichem Maße zu den Mizwot verpflichtet sind wie die Männer. Tatsächlich gelang ihr das – etwa in Bezug auf das Torastudium – mit Hilfe zahlreicher rabbinischer Belegstellen. Diese besagten, dass das Hören als die erste Stufe des Lernens anzusehen sei. Die Rabbinen im Talmud diskutierten das Thema vor allem in Bezug auf das Hören der Esther-Geschichte beim Purim-Fest. Hierzu waren die Frauen ausdrücklich gleichermaßen wie die Männer verpflichtet – „da auch sie an dem Wunder beteiligt waren“.[11] Das führte bei manchen Rabbinern zu der Schlussfolgerung, dass Frauen – weil sie verpflichtet sind zu hören – auch berechtigt sind, die Esther-Geschichte vorzutragen, d. h. als „Vorbeterin“ zu amtieren.

Warum dieser Umstand mit den Pflichten? Warum nicht einfach zugeben, dass sich die Zeiten geändert haben, und verlangen, dass Frauen genau wie Männer das Recht haben zu hören und zu lernen? Jonas‘ Arbeit war, wie gesagt, eine halachische. Es ging ihr darum, im Wege der jüdischen Religionsgesetze die Gleichberechtigung der Frau zu begründen. Sie wollte aufzeigen, dass die jüdische Religion für die Gleichberechtigung der Frau nicht wirklich verändert werden müsse, sie vielmehr nur ein Stück mehr verwirklicht werde. Um dabei in den Bahnen der Halacha zu bleiben, musste Jonas vor allem ein vom Talmud vorgegebenes Prinzip berücksichtigen: Nur derjenige, der zu etwas „verpflichtet“ ist, kann zugleich das aktive Pendant dazu ausüben[12] – also: Nur wer zu „lernen“ verpflichtet ist, könne auch „lehren“; nur wer täglich zu bestimmten Gebeten verpflichtet ist, könne sie auch als Vorbeter in der Synagoge vortragen; nur wer bei Streitigkeiten zu „bezeugen“ verpflichtet ist, könne auch Richter werden und „richten“. Da Frauen – nach der traditionellen Auffassung – nicht wie die Männer zum Torastudium verpflichtet seien, da sie nicht zu zeitlich festgelegten Geboten wie dem täglichen Gebet in der Synagoge verpflichtet seien und da der Talmud sie nur in wenigen Ausnahmefällen als „Zeuginnen“ zulasse (z. B. bei Mord, Ehebruch, aber auch der Geburt), könnten sie – so die klassische halachische Logik – auch nicht Lehrerin, Vorbeterin oder Richterin werden, drei Berufe, die sich mit der rabbinischen Tätigkeit überschneiden. Doch anhand der Diskussionen um die Lesung der Esther-Rolle, aber auch Ausnahmeregelungen, welche die Frau dennoch zu etwas verpflichteten, belegte Jonas, dass es den Frauen nicht grundsätzlich verwehrt sei, etwas zu tun, sondern der Talmud hier historisch erklärbare Gründe angebe. So verneinte er beispielsweise zunächst die Frage, ob Frauen Lehrerin werden könnten. Er tat dies jedoch nicht, weil er Frauen hierzu nicht für fähig hielt, sondern weil damals verfängliche Begegnungen zwischen dem Vater eines Kindes und der Lehrerin vermieden werden sollten. Fiel der Grund jedoch weg, erlaubten die Rabbinen Veränderungen. Aus ähnlichen Gründen war es der Frau ursprünglich verboten, auf dem Markt zu handeln. In anderen Lebenswelten aber, in denen man sowohl an Händlerinnen als auch an Kundinnen auf den Märkten gewöhnt war, ohne verfängliche Berührungen zu befürchten, wurde das für jüdische Frauen geltende Verbot von den Rabbinen fallen gelassen.[13]

Emanzipation als Pflicht

Pflichten – im Sinne einer Emanzipation verstanden – haben eine andere Intensität als Rechte. Ein Recht auf Freiheit ist zunächst nur etwas Passives – Erteiltes. Hingegen birgt eine Pflicht zur Freiheit etwas Dynamisierendes weil von Gott Gebotenes.

Ein konservativer feministischer Ansatz, wie ihn Jonas vertrat, der die Frau mit derselben Autorität ausstatten sollte wie die Männer, musste es also schaffen, die Frauen mit derselben halachischen Intensität zu ihrer Emanzipation zu verpflichten. Tatsächlich sah Jonas die Frauen zum Handeln „verpflichtet“. Sie bezeichnete die Zeit, in der sie lebte, als eine „Stunde der Not“. Damit meinte sie die allgemeine Assimilation der deutschen Juden, den damit verbundenen Verlust an jüdischer Kenntnis, aber auch mancherlei Auswüchse an Sittenverfall unter den jüdischen Männern. In einer solchen Stunde der Not sei die Zulassung der Frau zum Rabbinat nicht nur eine Pflicht, sondern eine „Notwendigkeit“.

„Es (das jüdische Volk) braucht die Frau und ruft sie, da sie kommen muss, um zu helfen. (…) Ebenso wie die anderen Berufe, die sie bekleidet, aus der Tatsache der Notwendigkeit erforderlich wurden, so verlangen auch die Umstände allmählich die Rabbinerin.“[14]

Dabei sei es gerade das Frau-Sein, das die Rabbinerin besonders qualifiziere:

„So wie Ärztin und Lehrerin heute vom psychologischen Standpunkt mit der Zeit eine Notwendigkeit geworden sind, so auch die Rabbinerin. Gar manche Dinge, die der Mann auf der Kanzel und sonst bei der Jugend nicht sagen kann, kann sie. Ihre Erfahrungen und psychologischen Beobachtungen sind wesentlich andere als die des Mannes, daher auch die Art eine andere, in der sie wirkt.“[15]

Mit dieser Sicht kam Jonas der rabbinischen Einstellung zur Zeit des Talmuds erstaunlich nahe. Einer der wenigen Stellen in der Tora, die über eine konkrete Verbesserung des Rechtsstatus‘ der Frauen berichtet, ist die Geschichte der Töchter Zelofechads.[16] Das Markante an dieser Erzählung ist, dass sie nicht nur eine historische Veränderung bezeugt, sondern dass Gott selbst darin zugibt, die Tora in diesem Punkt korrigieren zu müssen. Die Geschichte beschreibt, wie fünf Frauen – Machla, Noa, Chogla, Milka und Tirza – vor Moses treten, weil sie es als ungerecht ansehen, dass nur die Söhne, nicht aber die Töchter erben. Hierauf revidiert Gott seine vormalige Gesetzgebung: „Die Töchter Zelofechads haben Recht *…+ Wenn jemand stirbt und keinen Sohn hat, sollt ihr sein Erbe auf seine Tochter übergehen lassen.“[17]

Im Midrasch, den spätantiken Auslegungen zur Tora, überschlagen sich die Rabbinen geradezu vor Begeisterung über die Töchter Zelofechads. Das Volk Israel habe sich damals wegen der Männer in einer Krise befunden. Die Töchter hingegen repräsentierten die vielen züchtigen Frauen ihrer Generation, während die zügellosen Männer das Volk mit dem Bau des goldenen Kalbes, der Buhlerei mit den Moabiterinnen, dem Murren gegen Gott und Vielem mehr zunehmend demoralisierten.[18] Der Midrasch konstatiert, dass es die Frauen waren, die das Volk aus seiner Lage retteten und dafür sorgten, dass es an sein Ziel gelangte:

„‚Gib uns Eigentum unter den Brüdern unseres Vater‘ – R. Natan sagt: ‚Die Stärke von Frauen ist besser als die Stärke von Männern.‘ Männer sagen: ‚Lasst uns ein Oberhaupt einsetzen und nach Ägypten zurückkehren‘ (Num. 14,4). Und Frauen sagen: ‚Gib uns Eigentum unter den Brüdern unseres Vaters‘ [also keine Rückkehr nach Ägypten, sondern einen Anteil im gelobten Land, um damit zu arbeiten+.“[19]

Während die Rabbinen zur Zeit des Talmuds eine Art Gender-Debatte in Bezug auf die Töchter Zelofechads führten und fragen, ob diese nunmehr „wie Männer“ anzusehen sein,[20] unterstrich Jonas, dass als „weiblich“ geltende Eigenschaften die besten Voraussetzungen für den Rabbinerberuf seien.

„Man darf voraussetzen, dass gerade ein solches Amt, wenn die Frau es ergreift, mit Ernst und Liebe von ihr verwaltet wird. Nirgends werden der Frau Gefühl, Ehrlichkeit des Strebens, Opferwilligkeit, Menschenliebe und Taktgefühl abgesprochen – die Grundlagen des Rabbiner-Berufs.“[21]

Gegenüber einer Journalistin sagte sie 1938: „Fähigkeiten und Berufungen hat Gott in unsere Brust gesenkt und nicht nach dem Geschlecht gefragt. So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben, die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen.“[22]

Jonas blieb es verwehrt, ihr rabbinisches Selbstverständnis zur vollen Entfaltung zu bringen. Nach der Schoa sollte es noch fast drei Jahrzehnte dauern, bis 1972 mit Sally Priesand am Hebrew Union College in Cincinatti die nächste Frau als Rabbinerin ordiniert wurde. Die erste Rabbinerin, die nach Regina Jonas in Deutschland eine Anstellung erhielt, war 1995 die Schweizerin Bea Wyler in der jüdischen Gemeinde Oldenburg. Langsam wächst die Zahl der Rabbinerinnen in Europa. Das Vermächtnis, das ihnen Regina Jonas auf den Weg gegeben hat, besteht jedoch nicht allein darin, die jeweils „Erste“ zu sein, sondern sich im Rahmen einer größeren innerjüdischen Auseinandersetzung zu begreifen, in der Emanzipation und religiöse Pflicht zwei Seiten derselben Medaille sind.

[1] Der Nachlass von Regina Jonas befindet sich im Archiv der Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“ unter der Signatur CJA, 1, 75 D Jo 1. Siehe außerdem Fräulein Rabbiner Jonas - Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?; eine Streitschrift– eingel. und hg. Von Elisa Klapheck, Teetz 1999.

[2] Die Rabbinerin, in der Frauen-Zeitung Berna, Organ des Bernischen Frauenbundes, 10.2.1938, in Fräulein Rabbiner Jonas: Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?; Ediert, kommentiert, eingeleitet von Elisa Klapheck, Teetz, 1999, S. 56.

[3] Gad Beck in einem Gespräch mit mir im Juni 1998, in ebd. S. 74.

[4] Archiv Památnik, Terezín, Sammlung Karl Hermann, in ebd. S. 77 ff.

[5] Anm. 1. [FN 1 auf S. 1]

[6] Fräulein Rabbiner Jonas: Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?; S. 301 (88).

[7] Vgl. z.B. David Novak: Judaism and Cosmopolitanism, in: Michael Walzer (HG.): Law, Politics, and Morality in Judaism, Princeton 2006, S. 128-145.

[8] Babylonischer Talmud (BT), Megilla 23a

[9] Jerusalemer Talmud, Brachot 3,4.

[10] BT Sota 21b, Chagiga 3a, Kidduschin 29b.

[11] BT Megilla 4a.

[12] z.B. BT Kidduschin 29b.

[13] BT Kidduschin 82a.

[14] Fräulein Rabbiner Jonas: Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?; S. 291 (83).

[15] Ebd. S. 247 (63)

[16]Numeri 27,1-11; 36.

[17] Ebenda.

[18] Midrasch Bamidbar Raba zu Numeri, Kap. 27 / NumR zu Num 27

[19] Midrasch Sifre zu Numeri 27,4.

[20] BT Baba Batra 110a ff.

[21] Fräulein Rabbiner Jonas: Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?; S. 291 (83).

[22] Ebd., Klapheck, S. 51 ff.

Editorische Anmerkungen

*Elisa Klapheck ist Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft "Egalitärer Minjan" in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.

Quelle: Bulletin of the Association of the Friends and Sponsors of the Martin Buber House 2/2019.