Mich befreit der Gott Israel

Der 8. Mai 1945 - Zur Umkehr befreit. Unter diesem Motiv hat Friedrich Wilhelm Marquardt seine Erinnerungen an die Erziehung im nationalsozialistischen Deutschland und seine Erfahrungen als Sechzehnjähriger am Ende des Krieges reflektiert. Sein rotes Notizbuch hat ihn davor bewahrt, die Erinnerung im Verlauf der Zeiten nachträglich einem Wunschbild "anzupassen?. Davon berichtet er in seinem Text "Mich befreit der Gott Israel".

ERINNERUNGEN

Der 8. Mai 1945 - Zur Umkehr befreit. Unter diesem Motiv hat Friedrich Wilhelm Marquardt seine Erinnerungen an die Erziehung im nationalsozialistischen Deutschland und seine Erfahrungen als Sechzehnjähriger am Ende des Krieges reflektiert. Sein rotes Notizbuch hat ihn davor bewahrt, die Erinnerung im Verlauf der Zeiten nachträglich einem Wunschbild „anzupassen“.

Mich befreit der Gott Israel

Friedrich-Wilhelm Marquardt

Anfang Dezember 1944 wurde ich 16. Meine Schulklasse war schon zusammengeschrumpft, der Älteste von uns bereits gefallen. Beim letzten Schulausflug hatte er die Einberufung in der Tasche. Unser Lateinlehrer sprach ihn darauf an: „Na, Otto, nun wirst du ja bald das Eiserne Kreuz haben“, das war ironisch gemeint. Ottos Antwort habe ich nie vergessen: „Nein, Herr Studienrat, das Birkenkreuz.“

Andere waren schon Soldaten, der größere Teil meiner Kameraden Luftwaffenhelfer um Berlin herum und in Nordjugoslawien. Die später Geborenen unseres Jahrganges noch halb zu Hause. Im Spätsommer 44, nach den großen Ferien, hatten wir in Polen Panzergräben geschippt, die Sowjetarmee stand in Warschau still. Im November waren wir im Wehr-ertüchtigungslager, robbten durch die kaltnassen Buchenwälder von Bad Freienwalde über der Oder, wurden ausgebildet an Gewehr, Maschinengewehr und Panzerfaust. Noch vor Weihnachten bekamen wir das letzte Aufsatzthema in Deutsch, von Studienrat Jäne als Protest gemeint, für uns augenöffnend und mir bis heute nachhängend, das heißt nicht verarbeitet. Das Thema lautete: „Wie gedenken Sie Ihr Leben zu führen bis zu Ihrem Heldentod fürs Vaterland?“ So schloss für mich die Gymnasialzeit als ein Erzieher zum Tod. Was ich damals geschrieben habe, weiß ich nicht mehr, nur das Thema habe ich bis heute nicht vergessen.

ANFANG 1945

Ende Januar 1945 wurden zwei von uns fünf Zurückgebliebenen von der Schulbank weg nach Berlin ins Reichsluftfahrtministerium befohlen. Dort wurden mein Klassenkamerad Willy Laurent und ich mit Reisepapieren 1. Klasse für alle Kategorien von Zügen und mit einem Marschbefehl nach Oberschlesien ausgestattet. Wir sollten einen Flugzeugmotor von dort über Prag nach Kulmbach in Bayern transportieren. Von Dresden an waren wir mit dem Bahnpersonal die einzigen Deutschen, die noch nach Schlesien hineinfuhren. Bahnhöfe, Eisenbahnen, Straßen waren verstopft von den Flüchtlingen in umgekehrter Richtung. Unser Zug brachte mehrere Kompanien der Wlassow-Armee an die Front. Wir fuhren eingequetscht zwischen Kirgisen und hatten die Schauer vor dem Asiatischen zu unterdrücken, die uns von der Propaganda gegen die „asiatischen Horden“ von Osten eingeimpft waren. In Glatz ging es nicht mehr weiter. Man hörte die Geschütze der Front. Der Kommandant der Maria-Theresianischen-Festung lachte uns nur aus, als wir uns mit unserem Berliner Auftrag meldeten. Schon unterwegs hatten wir von den Militärkontrolleuren, die die Züge abfertigten, nur Hohn und Abscheuäußerungen über den Missbrauch von Kindern gehört. Am liebsten hätten sie uns rausgeschmissen.

Zurück ohne Erledigung des Auftrags: wieder Schulbank, aber nicht mehr wirklich Unterricht. Auch die alten Herren des Lehrerkollegiums hatten jetzt Volkssturmdienst; wir: permanent Luftschutzwachen; für die Luftangriffe auf Berlin war auch meine Heimatstadt Anfluggebiet.

Im Februar hörte ich zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker, noch in der Bernburger Straße. Am 18. März fuhren wir, nun auch einberufen zum Arbeitsdienst, im Transport von einem Berliner Güterbahnhof aus ins Cuxhavener Hinterland. Das Personal für dieses Arbeitsdienstlager war noch nicht da, als wir dort ankamen. Das Stammlager dieser Einheit war auf der Insel Usedom, von dort mussten sie sich erst in den Westen durchschlagen.

Ehe sie kamen, herrschte die mir schon von dem polnischen Schippeinsatz bekannte gewalttätige und sexuell hochgeladene Anarchie. Von der Hitlerjugendlosung, die alle gelobt hatten, keine Spur: „Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“ Das war jedenfalls in meinem Jahrgang nicht verinnerlicht worden.

Natürlich waren wir nicht als Arbeiter eingezogen, sondern als Soldaten. Entsprechend war die Ausbildung. Mein von damals übriggebliebenes Notizbuch sagt, dass die bevorstehende Vereidigung mich in eine ziemliche Krise gestürzt hat. Durchaus keine antifaschistische.

ELTERNHAUS

Meine Eltern waren alte Nazis, noch aus der sogenannten Kampfzeit vor 33. Als Pfarrerssohn war mein Vater vor dem gröbsten Wahnsinn wahrscheinlich geschützt. In der „Kristallnacht“ wollte er in seiner SS-Uniform sogar gegen die randalierenden Fenstereinschmeißer in unserer Nachbarschaft vorgehen. Am nächsten Morgen sagte er beim Frühstück, es sei nicht nötig gewesen, die Polizei habe es schon gemacht. Aber auf dem Schulweg sah ich: Es war alles kaputt. Bei meiner Mutter kann ich bis heute nicht unterscheiden: Wandervogel- oder Nazigedanken, Volkslied oder Fremdenallergien. Heute zieht sie sich zurück in ihre Wilhelminische Kindheit: als sie im weißen Kleid und Blumenkranz im Haar als Ehrenjungfrau für Wilhelm Il. fungierte bei der Eröffnung des Hohenzollernkanals, der Havel und Oder verbindet.

Älteste Erinnerung wahrscheinlich aus meinem 3. Lebensjahr von 1931 vom Kinderbett aus: Das Exerzieren von SA auf märkischem Sand nahe unserem Haus. Mit dem Lied, das sie immer sangen, ist mein Erinnerungsvermögen aufgewacht. Das Lied hieß: „Als die goldene Abendsonne sandte ihren letzten Schein, zog ein Regiment von Hitler in ein kleines Städtchen ein“: Einzug in mein Städtchen und in mein Bewußtsein.

Einer der Balkone des Hauses, in dem ich geboren wurde, ging nach hinten zum Eberswalder Stadion raus. Das war ein Abend im Juni 1932, Hitler kam. Mein Vater sollte ihn mit seinem Auto vom Flugplatz in Finowfurt abholen. Aber schon auf dem Weg dorthin fing, wie so oft, der Kühler an zu kochen. So entging ihm die Ehre. Auf unserem Balkon war die Hölle los. Meine temperamentvolle rheinische Großmama entfesselte Jubelexzesse, denen niemand sich entzog. Die Riesenglaskaraffe mit Himbeersaft und die belegten Brote meiner Mutter halfen nicht zur Abreaktion der Balkongäste. Ich bekam Angst und verkroch mich hinter einer Gardine neben der Balkontür, Augenzeuge hinter Gazeschleier.

Hitler sah ich später oft. Bei der Olympiade 1936, - bei seinem 50. Geburtstag 1939, zuerst auf der Ost-West-Achse in Charlottenburg, dann noch einmal bei der Parade am Brandenburger Tor. Der Eberswalder Bahnhof war die Empfangsstation für Görings Gäste in der Schorfheide. Wir hatten dort mehr als einmal Spalier zu stehen und zu jubeln, wenn Hitler oder der Graf Ciano oder sonst wer rauskam, um Göring zu besuchen.

Als ich im Frühling dieses Jahres über das Saarland hinflog, den Fluss Saar unter mir, um mit den Pfarrern über „Barmen“ zu sprechen, tauchte in meiner Erinnerung die Nacht der Heimkehr der Saar 1935 auf. großer Zapfenstreich dafür auf dem Markt auch unserer Garnison. Und wieder ein Lied: „Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar und deutsch ist unseres Flusses Strand und ewig deutsch mein Heimatland“ - die Tautologien des Deutschen. Die Saarbrücker Pfarrer, denen ich davon erzählte, waren alle zu jung, um dies Lied noch zu kennen. Von soweit her kommt meine Erinnerung schon.

„KRISTALLNACHT“

Dass die „Kristallnacht“ für mich ein Grunddatum geworden ist, weiß ich natürlich erst heute. Noch morgens vor der Schule sah ich die ausgebrannte Synagoge, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Die zerkohlten hebräischen Texte wurden eine Weisung für mich. Der Lateinlehrer der Sexta, ich war da 9 Jahre alt, begann immer schon vom aufgeschlagenen Lateinbuch aus auf dem Flur vor dem Klassenraum zu dozieren, - betont vor sich hinsprechend oder mit einer Vokabelfrage auf dem Mund das Zimmer betretend, wo wir zu seiner Begrüßung stehen mussten; mit diesem Mittel vermied er den obligatorisch gemachten Hitlergruß. Am 10. November 1938 las er aus einem dicken Buch Fremdes vor, sehr dezidiert: „Bereschit bara elohim ha-schamajim weet ha-aretz“, das ganze 1. Kapitel der Bibel, - fragte: „Wisst ihr, was dies ist?“ Natürlich niemand. Er sagte: „Bibel“, weiter nichts. Vor fünf Jahren erst bin ich dem Juden begegnet, einem Schüler unseres Gymnasiums, den dieser Lehrer bis zum Kriegsende in seinem Haus versteckt hatte. Das Haus neben dem Haus , wo ich geboren bin.

Mein Konfirmator war natürlich ein deutscher Christ,ein netter linder Mann. Im Unterschied zu den beiden BK(„Bekennende Kirche“)-Pastoren kein Eiferer, sagten meine Eltern. Soviel ich mir den Kopf zerbreche, weil ich es sehr gerne wissen möchte: Zu meinem Konfirmator fällt mir überhaupt nichts mehr ein. - Kurz nach Beginn des Konfirmandenunterrichts bekam ich von einer Ärztin ein Buch geschenkt mit einer Widmung: „Dafür, dass Du gegen den Strom geschwommen bist.“ Ich hatte mich dem Jungbannführer gegenüber, einem fanatischen Nazijunglehrer, zu meiner Teilnahme am Konfirmandenunterricht bekannt, obwohl auch andere teilnahmen. Das war 1941/42.

Unser Ariernachweis war nicht voll zu leisten. Die berühmte jüdische Urgroßmutter gab es tatsächlich. Marianne Salomon, munkelte man. Der General von der Decken hatte ihr, ehe er die Prinzessin von Hessen-Kassel heiratete, ein Kind gemacht. Sie war eine Dienstmagd in Pyrmont, das Kind war mein Urgroßvater von Mutterseite her, der ins Hannoversche Soldatenwaisenhaus gesteckt wurde und dort aufwuchs. Meine Mutter ist eine geborene Decken ohne „von der“; den Adelsverlust verdankt sie der Jüdin. Als mein Vater das alles herausbekam, muss es ihm sehr elend geworden sein. Noch auf dem Boden des Einwohnerarchivs in Pyrmont, wo er das ausgrub, verbrannte er alles, was Marianne Salomon bezeugen konnte.

Es nützte nicht viel. Die Stammbaumlücke blieb und gefährdete meine Zukunft, die unter dem folgenden Zwang stand. Nach Reichserbhofgesetz war ich als der Erstgeborene meiner Generation gesetzlich verpflichtet, Bauer zu werden und den Hof eines väterlichen Onkels, der keine Kinder hatte, in Hinterpommern zu übernehmen. Mein Vater hatte mich schon zu dieser unsäglich dreckigen Klitsche einmal mitgenommen, wo mir in Onkel Paul der erste ungehemmte Antifaschist begegnete. Meinen Vater hat er über seine politischen Ansichten nur verhöhnt und tat das auch in Anwesenheit von Nachbarn aus seinem Dorf ganz offen. - Unerwiesenen Geblüts jedoch hätte ich niemals Erbhofbauer werden dürfen. Das war die „Gefahr“ über meiner Zukunft. Lettow - Vorbeck half, der Held von Deutsch-Südwest. Er hatte Beziehungen zum SS- Rasseamt. Dort wurden meiner Schwester und mir die Schädel vermessen; an ihnen war nichts Abartiges zu entdecken. Dies wurde bescheinigt. Aber die Stimmung: Ein Damoklesschwert hängt über uns, verließ uns nie ganz, und eine Schwester meiner Mutter, eine junge Lehrerin damals, musste in den „deutschen Osten“ gehen, um so die Rassenlücke unverdächtig zu machen.

WAS HABE ICH SONST GEWUSST?

Ein Berliner Schwager meines Vaters war ein ziemlich hohes Nazitier, Stadtschulrat in Tegel und Parteischulungsleiter in Berlin. Er kam 1945 zusammen mit Heinrich George in russischem Gewahrsam um. Wenn er rauskam zu uns, mussten wir durch Wald und über Felder gehen, denn er wusste viel, was zwischen vier Wänden nicht zu erzählen war. So erfuhr ich als Kind ziemlich kontinuierlich nicht nur über die die Partei beunruhigende zunehmend schlechter werdende Stimmung der Berliner Bevölkerung, auch über Widerstandsbewegungen und ziemlich viel über den 20. Juli. Eine Cousine meiner Mutter, Berliner Schauspielerin, tauchte, je länger der Krieg dauerte, bei uns mit Freunden auf, weil es bei uns Bohnenkaffee gab. Sie war Antinazi und wusste viel von KZs, wurde in der Familie aber natürlich für ein bisschen überdreht eingeschätzt. Von einer Wandervogelkameradin meiner Mutter wussten wir, dass sie in Palästina siedelte. Mit dem Wort „Palästina“ verbinde ich etwas Rot-Blondes, denn so wurde diese Wandervogelkameradin geschildert, rotblond war nicht rasserein. - Noch auf dem Weg zum Arbeitsdienst, im Güterwagen, wusste ein Kamerad alles. Er war junger Elbschiffer und erzählte von Judenvergasungen. Er habe selbst Schornsteine rauchen sehen.

Meine Eideskrise am 2. April 1945 war nicht antifaschistisch. Ich sprach den Eid nicht mit, stand aber unter den Vereidigten und war mit Leib und Leben auf Hitler vereidigt.

Am 25. April war die Feuertaufe. Am 13. Mai wusste ich nach meinem Notizbuch nicht ob - wie ich schrieb - die Niederlage eine „weise Fügung oder ein blindes wütendes Schicksal“ sein sollte. Das habe ich jetzt wörtlich zitiert. Ich notierte Selbstmordabsichten, das einzige Mal in meinem Leben. Eine Schwester meiner Mutter hatte auch zusammen mit einer sehr geliebten Laute spielenden Patentante von mir Selbstmord vor den heranmarschierenden Russen begangen. Ich schrieb in mein Notizbuch, dass jetzt 2 000 Jahre Kultur zusammenbrächen.

Ich bin froh, das rote Notizbuch noch zu haben. Es verwehrt mir, mir etwas vorzumachen, und macht mir möglich, meine heutigen Begriffe von dem damaligen Geschehen nicht mit dem damaligen gleichzeitigen Erlebnis zu verwechseln. Meine aphoristischen Erlebnishinweise zeigen das Fetzenhafte meiner Erinnerung und auch die erheblichen Widersprüche meiner Erfahrung. Versuche ich, jetzt alles ein wenig mehr zusammenzudrängen auf eine „Moral von der Geschicht“ hin, möchte ich auch darum noch möglichst eng an meinen damaligen Erlebnissen bleiben und nicht heutige Urteile darüber breiten.

Nur eins muss ich zum Verständnis des jetzt zum Schluss zu Sagenden im voraus bemerken. Ich war damals noch mitten in der Pubertät, seelisch, geistig ebenso wie auch physisch. Meine Stimme hatte gerade erst zu sinken begonnen, nicht ohne Zuhilfenahme von Hormonspritzen, die meine um meine männliche Konstitution besorgten Eltern sich von einem bekloppten Arzt aufschwatzen ließen. „Jungvolkjungen sind hart“, davon war keine Rede bei mir. Übrigens auch bei den Altersgenossen meiner Klasse damals viel weniger, als heute 16-Jährige mindestens wirken. Ich muss bei den Bildern von bewaffneten Kindersoldaten aus der 3. Welt immer vergleichen. Die Akzeleration ist seither auch bei uns galoppiert. Ich war ein Kind, was ja auch die militärischen Zugschaffner auf der Winterfahrt nach Schlesien so in Harnisch gebracht hatte.

Und noch auf der Fahrt zur Entlassung aus der Gefangenschaft haute mich ein älterer Soldat einmal an: „Hast du schon was mit einem Mädchen gehabt?“ Ein jüngerer Älterer trat dazwischen: „Lass die Sauereien, du siehst doch, dass nicht.“ Dabei haben mich die wehenden Kleider der Frauen vor dem Rathaus von Elberfeld, wo wir entlassen wurden , sehr erregt. - Ich erwähne das aus zwei Gründen. Meine Erfahrung mit dem Nationalsozialismus hat eine sehr starke körperliche Komponente. Sie war also mit dem Seelischen und Geistigen zusammen eine Ganzheitserfahrung. Ich weiß nicht, ob ich das anschaulich genug verdeutlichen kann. Es war nicht nur der Uniformzwang.

JUNGVOLK

Nach der Jungvolkuniform habe ich mich sogar gesehnt als einem Medium des Dabeiseins, wahrscheinlich auch des Dolches wegen - was sich heute gut psychoanalytisch aufklären läßt. In die Uniform zu kommen, war also nicht das Problem. Aber dann uniformiert zu werden. Das Jungvolk war wesentlich Körperzwang, und zwar nicht durch Geländespiel, sondern durch dies unheimliche Herummarschierenmüssen jeden Sonnabend, meist auch noch mittwochs dazu, durch die Stadt mit Pauken und Fanfaren. Man wurde marschierender Block, aufgestellt nach Körpermaß, gedrillt aufs Körpermessen und empfand die Sinnleere davon besonders. Man war bewegter Körperblock für Propaganda. Sie ahnen nicht, wie beglückend ich bis heute die Körperfreiheit unserer heutigen Demonstrationen empfinde.

Auf abweichendes politisches Elternhaus wurde mit physischer, sadistischer Quälerei reagiert. Besonders der Fall eines Proletarierjungen, den seine Eltern nicht zum „Dienst“ ließen, wird sich nie aus meinem Bewusstsein verlieren, latenten Sadismus habe ich, ohne das Wort schon gekannt zu haben, als wesentliches Moment der Körperbeziehungen in Erinnerung, und masochistische Züge damit notwendig auch. Ich weiß genau, dass ich mich während der Nazizeit ziemlich bald nach Körper-, Seelen- und Geistfreiheit gesehnt habe. Die Beanspruchung des Leibes durch den Staat zum Marschieren, zum stundenlangen Spalierstehen und Jubeln, zum Kriegshandwerk hat mir das Gefühl, gelebt zu werden, sehr tief eingeprägt. Als ich nach dem Krieg von einer Habeas-Corpus Akte hörte, wusste ich, wovon die Rede war. - Ich möchte ausdrücklich sagen, dass es objektiv sicher alles gar nicht so schlimm war. Aber ich fasse die Erlebnisform zusammen, die damals in mein rotes Büchlein geschrieben wurde. Ich stelle, wie gesagt, in Rechnung, dass ich mitten in der Pubertät war.

SCHULE

Die Körperunterwerfung hatte einerseits eine Kehrseite, andererseits eine logische Entsprechung in der nicht nur ungebrochenen, sondern forciert bildungsbürgerlichen Innenseite meines damaligen Lebens. Ich habe mit Absicht erwähnt, dass ich im Februar 1945 zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker gehört habe. Schon in viel früherem Alter stand ich nächtelang in wildesten Bombenzeiten an der Staatsoper Unter den Linden Schlange nach einer Karte, ebenso bei dem einen oder anderen Berliner Theater. Für mein Abitur hatten mir die Eltern von der Sexta an in Aussicht gestellt a) einen Volkswagen b) das Ansehendürfen des Pergamonaltars auf der Museumsinsel in der Spree. Das schien ein Wert nur für zu Ende Ausgebildete. Mein Gymnasium, dem ich mich bis heute geistig verdanke, obwohl ich es nur bis zu Versetzung in die Obersekunda besuchte (nach dem Krieg wurde mir nach 12 Sonderkurswochen für Kriegsteilnehmer das Abitur hinterhergeworfen), also diese Gymnasialzeit, die für mich die eigentliche geistige Grundlage gegeben hat, habe ich gespalten in Erinnerung. Wirklich Nazi war in meiner Erinnerung nur eine Geschichtslehrerin, die Angst vor mir hatte, als ich sie kürzlich im Westberliner Telefonbuch aufstöberte und antelefonierte. Die meisten waren vaterlandsbewusst.

Ein Griechisch-Lehrer war ein Schinder, ihn konnte man nur durch Unterwerfung ertragen. Wer Vokabeln nicht konnte, den schrie er an: “Du Kulturbolschewist!“ Vom ersten Krieg her war er einäugig, und wir lasen bei ihm den Polyphemgesang aus der Odyssee, den Gesang vom einäugigen Riesen. Das besaß eine eigene Art von Anschaulichkeit, die ich nicht vergessen kann, die sinnliche Einäugigkeit einer Lehrergewalt. Die Unterwerfung bestand in der Ehrung, die er uns dadurch, gewährte, dass er diesen Gesang Homers wissenschaftlich exegesieren lehrte nach allen Regeln einer hohen Kunst und unter Zuhilfenahme der Materialien, die er aus seiner eigenen Studienzeit an der Berliner Universität erarbeitet hatte. Philologie und Terror, Einäugigkeit, Polyphem und Wegner, so hieß er, und das Wort „Kulturbolschewist“ bilden auf meinem Seelengrund den Knäuel einer Erfahrung. Dagegen hielt der Deutsch-Lehrer Jäne, sicher kein Antinazi, aber ein Opponierender, was man seinem Unterricht anmerkte. Gegen Verbot las er „Tell“ und „Carlos“ mit uns. Von da aus habe ich die Klassiker nicht als Marmorgötzen, sondern als verbotene und subversive Stichwortgeber drauf. Die waren in den letzten Jahren der Nazizeit in der Schule verboten zu lesen; Don Carlos und Wilhelm Tell von Schiller. Humanismus und Klassik waren in dieser allerletzten Phase des Nationalsozialismus, jedenfalls in meinem Erfahrungsbereich und im Horizont meines Alters, Mittel von Selbstbewahrung und Widerspruch. Natürlich nichts anderes als Fluchtmittel. Das meine ich mit der logischen Kehrseite zur Körperunterwerfung: seelische und geistige Flucht.

MAI 1945

Den Mai 1945 und die Selbstmordverlockung habe ich mit auswendig gewusstem Goethe überstanden: „Es scheint die Sonne über Böse und Gute und dem Verbrecher glänzen wie dem Besten der Mond und die Sterne.“ Dass dieser Goethe in Wirklichkeit Jesus ist, habe ich erst viel später gemerkt. Das Gefühl, 2000Jahre Ku1tur brechen zusammen, hatte bei mir diesen Zusammenhang. Ich, war wirklich bass erstaunt, als ich zum ersten Mal, von Radio London gesendet, ein Konzert mit klassischer Musik hörte. Ich dachte wirklich, so etwas gibt es nur in Deutschland. Und als ich im Oktober 1945 beim russischen Verbindungsoffizier in Garmisch um ein Reisevisum zurück in meine Heimat anhielt und er mich für den Entschluss beglückwünschte und erzählte: „Du wirst sehen, in Berlin spielen schon alle Theater wieder“, da begann bei mir langsam die Götzendämmerung. Indem ich dies aufschreibe, geht mir auf: ich bin wahrscheinlich über Hunderte von Jahren hinweg der erste meiner Familie, der im Ausland war. Mein Vater war es nie, meine Mutter erst lange nach 1945, als sie schon über 70 war. Heute glaube ich, dass solche Dinge mit zur Vorgeschichte des Faschismus gehören.

Aber ich möchte noch einmal auf das Bildungsbürgerliche in den letzten Nazimonaten zurück. Deutschlehrer Jäne wollte wissen, wie ich, wie ich gedächte, mein Leben zu „führen“. Wahrscheinlich wollte er einen solchen Gedanken provozieren, nicht wissend oder nurzu gut wissend dass man damals zu schwach war, sein Leben zu „führen“. Ich konnte nur noch leben, indem ich mich einem Vergangenheitszwang hingab. Fluchtartig projizierte ich - das weiß ich noch ganz genau, auch noch in den ersten Monaten im Januar und Februar 1945 - Sinnmöglichkeiten meines Lebens nach rückwärts. Das nazihafte Gelebt-Werden entband nicht unmittelbar den Wunsch, selber leben zu können , sondern den, in ganz anderer Zeit ein ganz anderer zu sein. Meine Identität konnte ich mir in meiner nationalsozialistischen Pubertätszeit nur unter den Masken anderer denken. Ich weiß noch, dass ich um 1941/42 herum am liebsten der Liebe Augustin gewesen wäre, als Waisenknabe und Musikdosenmacher zwischen Mittenwald und Lindau hin- und herträumend; es hat wahrscheinlich eine fassbare seelische Gesetzlichkeit, dass ich später Vikar in Lindau wurde. Das war sozusagen genau der psychologische Gegentyp gegen die Anrede vor dem ersten Gefecht, Ende April 1945, wo unser Kommandeur uns die „letzte germanische Hoffnung“ nannte. Der liebe Augustin wider den Germanensturm.

Etwas unvermittelt steht am 4. Mai 1945 im roten Notizbuch: „Wahrscheinlich nehme ich mein Schicksal jetzt selbst in die Hand.“ Das spiegelt Gespräche vom Abhauen, die wir heimlich führten. Noch waren 4 Tage bis zur Kapitulation.

Das Sich -Herausfinden zur Gegenwart ging auch nach dem 8. Mai sehr langsam. In der Gefangenschaft sowieso nicht, obwohl sie relativ harmlos war. Aber dann kam erst eine Phase von Naturmystik und Naturreligion bei mir, ehe ich zur Vernunft kam. Was ich heute die Befreiung von 1945 nenne, ist das nachträgliche Urteil eines später gewonnenen politischen Wissens und einer höchst komplexen und sehr konfusen Erfahrung, die darin konfus war, dass sie eben keine Selbsterfahrung war.

Treibe ich heute Selbstreflektion, dann komme ich nicht darum herum: Ich werde die Bedingungen meiner Pubertätszeit niemals los. Sie waren von einer Art, die sich nicht hat auswachsen können. Als ich 1938 ins Gymnasium kam, waren wir zwölf Schüler in der Klasse. Drei sind noch gefallen, drei sind lange nach 1945 in den fünfziger Jahren irrsinnig geworden, sie leben noch, aber ich kann nicht mehr mit ihnen sprechen. Ich halte dies nicht für einen Zufall, auch nicht, dass es zehn Jahre brauchte, dass Altersgenossen von mir um den Verstand gekommen sind. Mit dem Rest der Klassenkameraden kann ich mich politisch nicht mehr verständigen. Sie sind nur leicht modifiziert in den Mentalitäten von damals steckengeblieben. Mir fällt eine Neigung zu autoritären Lösungen auf, als hätten sie das damals nicht alles erlitten. Das heißt: Die Macht des Damals zwingt sie heute zur Regression. Ein mir damals besonders lieber Klassengenosse, jetzt Hamburger Rechtsanwalt, fragte mich im vorigen Jahr am Telefon: „Bist du der, der Seminararbeiten als Gemeinschaftsarbeit zuläßt?“ Ich: „Ja freilich, ich fördere es.“ Daraufhin legte er den Telefonhörer auf.

Mein Problem heute ist, die Differenz zwischen meinem hoffentlich einigermaßen befreiten Kopf und jener damals nicht ausgewachsenen Triebstruktur. Es stellt sich heraus: Der Nationalsozialismus war für mich etwas Ganzheitliches, physischer Körperzwang und seelisch-geistige Vergangenheitssucht. Das Aufsatzthema vom Dezember 1944 kommt überall vor in meinem Bewusstsein und in meinem Unterbewusstsein, wie eine Obsession, von der ich nicht loskommen kann: „Wie gedenken Sie Ihr Leben zu führen bis zu Ihrem Tod fürs Vaterland?“ Dies Thema bewirkt inzwischen bei mir: 1. Bloß nicht „Vaterland“, 2. Nie wieder „Tod für“, 3. Was ist zu tun, dass einer sein Leben „führen“ kann, 4. Was kann ich „gedenken“ zu tun? - So klebt man an der Schule.

Mich befreit nur der Gott Israels.

Editorische Anmerkungen

Vortrag beim Mitgliedergespräch der Aktion Sühnezeichen im Herbst 1984

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft Nr. 4, 2002ieser Text wurde zuerst im April 1989 in der Predigthilfe zum Israel-Sonntag der Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste veröffentlicht.