Martin Buber: Ein Land und zwei Völker

Das Problem Israel-Palästina ist in der tragischen Tatsache verankert, daß das „verheißene Land“ eigentlich zweimal versprochen wurde: Einmal, laut der hebräischen Bibel - Isaak, und einmal, nach der islamischen Tradition - Ismael, den beiden Söhnen Abrahams.

Martin Buber: Ein Land und zwei Völker


Das Problem Israel-Palästina ist in der tragischen Tatsache verankert, daß das „verheißene Land“ eigentlich zweimal versprochen wurde: Einmal, laut der hebräischen Bibel - Isaak, und einmal, nach der islamischen Tradition - Ismael, den beiden Söhnen Abrahams. Einer meiner arabischen Freunde hat sogar einen Film mit dem Titel „Das zweimal versprochene Land“ („The Twicepromised Land“) redigiert. Das zweimal versprochene Land, das der Bibel zufolge seine Bewohner auffrißt, steht im Zentrum des hundertjährigen jüdisch-arabischen Konflikts. Beide Völker erheben Anspruch auf dasselbe kleine Stück Erde. Beide Völker lieben dieses Land, beide gehen davon aus, daß sie alleine - und nicht der andere - ein Recht auf dieses Land haben, und sie sind sich nicht darüber im Klaren, daß ihr Recht dort an Grenzen stößt, wo das Recht des anderen anfängt.

Der erste Staatspräsident Israels, Chaim Weizmann, sagte einmal: „Die Tragödie des jüdisch-arabischen Konflikts liegt darin, daß beide Völker Recht haben, aber wir haben mehr Recht.“

Das Dilemma des einen Landes und der zwei Völker stand im Zentrum von Bubers politischer Tätigkeit. Das Leben und Schaffen Martin Bubers ist aufs engste mit der Erneuerung Israels verbunden, was jedoch nicht heißt, daß er die Gründung des heutigen Staates Israel gewollt oder gar vorangetrieben hätte. Sein Kampf für Israel erstreckte sich über mehr als sechs Jahrzehnte. In seinem politischen Engagement erörtert Buber Fragen, die damals wie heute auf die drängenden und ungelösten Probleme im Zusammenleben von Juden und Arabern hinweisen.

Noch vor seiner Einwanderung nach Palestina wurde Buber Mitglied des „Brith Shalom“ (Friedensbund), einer Organisation zur Förderung jüdisch-arabischer Verständigung; ihr gehörten enge Freunde Bubers an wie Hugo Bergmann, Hans Kohn, Gershom Sholem und Ernst Simon. Seit seiner Einwanderung nach Palästina im Jahre 1938 arbeitete er mit großem Engagement für die Verständigung zwischen Juden und Arabern. Nach Bubers moralpolitischer Sichtweise war die arabische Frage ein wesentlicher Teil der innerjüdischen Frage. Er ging davon aus, daß das Verhalten der Juden den Arabern gegenüber ein integraler Bestandteil des Judentums darstellt, ebenso, wie der pathologische Antisemitismus die Glaubwürdigkeit der christlichen Grundsätze in Frage stellt. Mit der Gründung des Staates Israel hat sich die arabische Frage tatsächlich als ein Prüfstein für die Werte des Judentums erwiesen.

Der gläubige Zionismus und die Realpolitik Der gläubige Zionismus Bubers steht in scharfem Gegensatz zu der sogenannten offiziellen „Realpolitik“ (oder „Machtpolitik“, wie Buber es nannte), die die arabische Anwesenheit in Palästina ignorierte. In einer Diskussion über den Zionismus und die Bibel sagte Buber, daß das Buch der Bücher ewig, auch ohne den Zionismus, bestehen werde, es sei jedoch zweifelhaft, ob der Zionismus, der sich auf die Bibel stützt, ohne die Bibel überleben könnte. Die hebräische Bibel stellt laut Buber die größte Forderung an Israel: „Was sie uns zu sagen hat, ist, daß es Wahrheit und Lüge gibt, und daß Sinn und Bestand menschlichen Seins darin liegen, sich für die Wahrheit und gegen die Lüge zu entscheiden; daß es Recht und Unrecht gibt, und daß das Heil des Menschen daran hängt, daß er das Rechte erwähle und das Unrechte verwerfe.“ Buber hat den hebräischen Humanismus besonders auf die palästinensischen Araber bezogen.

Die jüdische Renaissance-Bewegung, der Zionismus, sollte laut Buber im hebräischen Humanismus verankert sein, den er als den „Pfad der Heiligkeit“ bezeichnete, im Gegensatz zum „heiligen Egoismus“ der Welt im ganzen. Bubers Stellung zum Zionismus und der arabischen Frage fand 1921 ihren Ausdruck beim XII. Zionistischen Kongreß in Karlsbad, wo die Frage der zionistischen Haltung gegenüber den Arabern diskutiert wurde. Buber wandte sich in diesem Forum mit folgendem Aufruf an die arabische Welt: „An diesem historischen Scheideweg, da wir in das Land unserer Väter zurückkehren, verkündet das jüdische Volk seinen Wunsch, mit den Arabern in Frieden und Brüderlichkeit zu leben und das gemeinsame Heimatland zu einer Völkergemeinschaft zu entwickeln, in der sich beide Völker frei entfalten können.“

Buber konnte zwischen „langfristiger Politik“ und „engstirniger Politik“ unterscheiden. Seine politische Prognose zu den künftigen Beziehungen zwischen den beiden Völkern spiegelt sich in einem Brief, den er 1929 (mehr als 60 Jahre vor der Intifada) nach dem arabischen Aufruf an die Juden in Palästina, an seinen Freund Hans Kohn schrieb: „Nach dem Aufstand gelang es der arabischen Nationalbewegung, sich zum ersten Male umfassend zu organisieren und das ganze Volk zu ergreifen. Unsere Pflicht wäre gewesen, den offenen Kriegszustand so schnell als möglich durch Friedensvorschläge zu beenden, nicht aber alle möglichen Winkelzüge zu machen. Jedes Hindernis auf dem Weg zu einem Friedensabkommen wird die Kluft zwischen beiden Völkern nur weiter vergrößern.“

Die einseitige Unterstützung der arabischen Angelegenheiten und seine scharfe Äußerung gegenüber den Jishuw, der jüdischen Minderheit in Palästina, machten Buber im eigenen Volk unbeliebt. Man pflegte zu sagen, anfangs hätten Bubers Kenntnisse der hebräischen Sprache nicht ausgereicht, um sich verständlich zu machen, später seien sie jedoch gut genug gewesen, um sich unverständlich zu machen. Buber wurde in Israel als ein ungewählter Botschafter betrachtet. Weiterhin konnte er weder die Juden noch die Araber davon überzeugen, daß er einen realistischen politischen Vorschlag hat.

Martin Bubers enger Freund Gershom Sholem sagte ironisch: Buber, der alte polnische Jude, der ein Zeuge des Holocaust war, identifizierte sich eher mit den Besiegten, also mit den Arabern, als mit dem Sieger. Er befürchtete, wir würden durch unseren Sieg das Gottesbild verlieren, das unsere Feinde uns gelehrt haben, in uns zu bewahren und in den anderen zu respektieren. Wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem orthodoxen Judentum wurde er auch als „religiöser Anarchist“ bezeichnet. Bubers Streben nach einer Nahost-Konföderation, die beide Völker Palästinas umfaßt, hat sich mit der Zeit als eine utopische Auffassung erwiesen. In politischer Hinsicht war Buber von beiden Seiten zur Isolation verurteilt. Seine kritische Haltung zum Zionismus und zum traditionellen Judentum ist, wie es scheint, der Grund, daß Bubers Ruhm im Ausland größer ist als in Israel und sein Einfluß in der christlichen Welt stärker als in jüdischen Kreisen. Christliche Theologen bezeichnen Buber als Hauptinterpreten des Judentums für die nichtjüdische Welt. Das orthodoxe Judentum beschuldigte ihn, er habe das jüdische Bewußtsein unterminiert und so die Assimilation beschleunigt. Zugleich wird er unter liberalen Juden als der herausragendste Sprecher des Judentums in unserem Jahrhundert geachtet.

Man muß allerdings betonen, daß Bubers Opposition dem offiziellen Zionismus gegenüber innerhalb des Zionismus als “kritische Solidarität“ bezeichnet wurde. Im Gegensatz zu Theodor Herzls „Realpolitik“ und übereinstimmend mit Ahad Haam und Chaim Weizmann betonte Buber die kulturelle Ebene des Zionismus mit der Behauptung, ohne geistige Erneuerung existiere keine Chance für nationale Auferstehung.

Trotz der „hervorragenden Isolation“ fand Buber Gesinnungsgenossen in sozialistischen Kreisen, die dem 1942 von Judah Leib Magnes gegründeten „Ichud“ angehörten, der „Union für jüdisch-arabische Annäherung“. Buber wurde der Vorsitzende dieser Union und hatte aktiven Anteil an ihren Sitzungen und Zeitschriften. Politisches Ziel der Union war es, eine Regierungsform auf Grund gleicher politischer Rechte für beide Völker in Palästina auszuarbeiten und damit die Gründung einer Konföderation zu erreichen. Doch waren in der Union auch Mitglieder, die eine binationale Lösung für Palästina bevorzugten.

Mit der Gründung des Staates Israel hat der Ichud eine Monatsschrift für jüdischarabische Verständigung mit dem Namen „Ner“ (Kerze) herausgegeben. In einem Hauptartikel der Erstausgabe von „Ner“ sieht Buber den Staat Israel in Zusammenhang mit der Erfüllung der tausendjährigen Sehnsucht des jüdischen Volkes nach Unabhängigkeit. Das Streben nach Gerechtigkeit in der Beziehung zu anderen Nationen, so Buber, sei aber die größte Forderung an den Staat Israel.

Die Haltung gegenüber der arabischen Frage

Buber war nicht der einzige, der sich mit der arabischen Frage beschäftigte. Eine ganze Reihe von Bubers Freunden und Gegnern befaßten sich mit dem moralpolitischen Dilemma, das durch die arabische Anwesenheit in Palästina ausgelöst wurde. Am Vorabend des XIV. zionistischen Kongresses im August 1925 schrieb Bubers Kollege Robert Weltsch einen vieldiskutierten Artikel in der „Jüdischen Rundschau“, in dem es hieß: „Es gibt ein Volk ohne Land - aber es gibt kein Land ohne Volk. Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein - von Juden und Arabern. Die Verwirklichung des Zionismus ist undenkbar, wenn es nicht gelingt das zionistische Werk in den Rahmen der erwachenden orientalischen Welt einzugliedern.“

David Ben-Gurion, der Gründer Israels, der beschuldigt wurde, gegenüber der arabischen Frage blind zu sein, äußerte auf dem zionistischen Weltkongress, der 1930 in Berlin stattfand, daß eine große Anzahl Araber jahrhundertelang in Palästina gelebt haben, daß ihre Väter und Vorväter dort geboren und gestorben sind, und daß Palästina ihr Land ist, in dem sie auch in Zukunft leben wollten, daß wir dieser Tatsache liebevolles Verständnis entgegenbringen und alle notwendigen Schlüsse daraus ziehen müßten.

Zeev Jabotinsky, Gründer der revisionistischen Partei und Mentor von Menachem Begin, erklärte im Jahre 1921, daß wir, wenn wir Araber wären, den zionistischen Bestrebungen sicherlich nicht zustimmen würden. Er bemerkte, daß die Araber, nicht weniger als wir, gute Zionisten sind und daß er glaube, daß man die Kluft, die zwischen beiden Völkern besteht, überbrücken könne. Der Unterschied zwischen Buber und seinen politischen Gegnern besteht nicht in der moralischen Empfindlichkeit als solcher, sondern in den politischen Konsequenzen, die diese fordert. Während die wesentlichen zionistischen Ziele nicht von der arabischen Zustimmung abhängig waren, machte Buber die Verwirklichung des zionistischen Werkes von der Zusage der Araber abhängig. Er ging soweit, daß er sogar bereit war, die Einwanderung jüdischer Siedler nach Palästina zu beschränken, um die Araber zu beruhigen.

Bereits 1918 erklärte Yizchak Wilkanski, einer der Leiter des „Jishuw“, daß er, um die dringenden zionistischen Ziele zu erreichen, den Arabern Unrecht zufügen würde, im Gegensatz zu den Moralpredigern. Es ist kein Geheimnis, sagte er ironisch, daß die Araber mit den zionistischen Unternehmungen nicht einverstanden sind und daß es ihnen weh tut, wenn ein Fremdkörper in sie eindringt. „Warum“, fragt Wilkanski, „betonen unsere Moralisten nicht diesen Punkt? Entweder sind wir völlige Vegetarier, oder wir essen Fleisch. Halb-, Drittel- oder Viertel- Vegetarier gibt es nicht.“

Die Demarkationslinie

In Wahrheit war Buber nicht utopisch oder naiv. Er war sich bewußt, daß wir nicht im Paradies leben, wo der Wolf beim Schaf wohnt; daß es in unserer unerlösten Welt nicht möglich ist, volle Gerechtigkeit im Leben zu üben; daß wir von Zeit zu Zeit dazu gezwungen sind, Unrecht zu tun. Er warnte jedoch davor, mehr Unrecht zu tun, als es unsere Existenz verlangt und den „Machttrieb“ als „Lebenstrieb“ zu interpretieren. Er betonte, falls Umstände uns zwängen, die göttlichen Gebote zu übertreten, sollten wir es nicht mit Freude, sondern mit Gewissensqualen tun. Israels verzweifelter Überlebenskampf im Nahen Osten macht die Bubersche „Demarkationslinie“ besonders zwingend.

Hinsichtlich der Wiedersprüche der beiden nationalen Bewegungen äußerte Buber, daß es unsere Pflicht sei, die arabischen Forderungen zu verstehen, auch wenn sie unseren eigenen Zielen entgegenstehen. Wir müßten uns bemühen, beide Ansprüche miteinander in Einklang zu bringen. Dort, wo Glauben und Liebe existieren, werde letztendlich eine Lösung gefunden werden, die auf Kompromissen beruht.

Die Verwirklichung des zionistischen Programms nach Bubers Vorstellungen würde unausweichlich mit einem gewissen Maß an Unrecht gegenüber den ansässigen Arabern verbunden sein. Doch er hatte die Vision, dieses Übel so weit als möglich durch jüdisch- arabisches Zusammenleben zu beschränken. Buber litt an dem Dilemma zwischen der Notwendigkeit, die Überlebenden des Holocaust zu retten, und der moralischen Verpflichtung, das Unheil der Araber zu vermindern. Daher forderte er von der zionistischen Bewegung, Grenzen festzusetzen, die nicht überschritten werden dürften.

Der jüdische Staat sollte sich weder auf Kosten der Palästinenser noch durch ihre Verdrängung entwickeln. Buber rief uns ins Gedächtnis, daß wir nicht in das Land unserer Väter zurückkehrten, um ein anderes Volk zu enteignen oder zu beherrschen. Trotz aller Schwierigkeiten forderte Buber von beiden Seiten einen gemeinsamen Weg zu bahnen. Zur Gewaltanwendung durch die arabische Seite äußerte Buber, daß selbst, wenn „homo homini lupus est“, wir uns nicht zu dem Wolfsrudel gesellen sollten.

Trotz Bubers ständiger Verdammung der Gewaltanwendung durch die Juden (die in den meisten Fällen als Reaktion gegen den arabischen Terror ausgeübt wurde) war er kein radikaler Pazifist. Er glaubte, daß es Umstände gibt, in denen wir gezwungen sind, Gewalt anzuwenden. Ironischerweise bestand seine erste Aufgabe in Palästina darin, auf eine antizionistische Aussage Mahatma Gandhis, des indischen Führers des gewaltlosen Wiederstandes, zu reagieren. In seiner Wochenschrift „Harijan“ riet Gandhi den Juden, nicht nach Palästina zu übersiedeln, sondern in Deutschland unter der Naziherrschaft zu bleiben und den Akt des „Satyagraha“ (des Festhaltens an der Wahrheit) zu vollziehen, d.h. gewaltlosen Widerstand bis zum Tode zu leisten.

In „einem Brief an Gandhi“, einem der großen zionistischen Dokumente, schreibt Buber u.a.: “Wir wollen die Gewalt nicht. Wir haben nicht, wie der Sohn unseres Volkes - Jesus - und wie Sie, die Lehre der Gewaltlosigkeit ausgerufen, weil wir meinen, daß ein Mensch zuweilen, um sich oder gar seine Kinder zu retten, Gewalt üben muß. Wir haben von der Urzeit an die Lehre der Gerechtigkeit und des Friedens verkündet; wir haben gelehrt und gelernt, daß der Friede das Ziel der Welt ist und Gerechtigkeit der Weg, ihn zu erreichen. Wir können daher die Anwendung von Gewalt nicht wünschen. Wer sich in die Reihen Israels stellt, kann nicht Gewalt wünschen. Doch ich bin gezwungen, dem Bösen in der Welt so zu widerstehen wie dem Bösen in mir selbst. Ich mag keine Gewalt. Ich kann nur danach streben, keine Gewalt anzuwenden. Doch wenn es keinen anderen Weg gibt, das Böse an der Zerstörung des Guten zu hindern, dann werde ich Gewalt anwenden und mich in Gottes Hände begeben.“

Mit der Gründung des jüdischen Staates im Jahre 1948 zog Buber eine deutliche Grenze zwischen der Existenz des Staates Israel und dem metaphysischen Entwurf „Zion“. Buber definierte den jüdischen Staat nurmehr als ein Mittel - ein schmaler Streifen Land, der dem zerstreuten jüdischen Volk Sicherheit und die Möglichkeit eines normalen Lebens bieten konnte. Buber verknüpfte das Konzept „Zion“ mit der jüdischen Wahrnehmung des Göttlichen, wie sie von den Propheten erfahren wurde: „Zion wird durch Recht erlöst werden und die zu ihm zurückkehren, durch Gerechtigkeit.“ Er hoffte, daß die Gründung des Staates Israel der erste Schritt auf dem Weg nach „Zion“ sei.

Die Rückkehr nach Zion ist nach Buber nicht nur eine existentielle Notwendigkeit, sondern auch die biblische Botschaft des jüdischen Volkes, nämlich: Ein Licht der Völker zu sein, damit Gottes Heil bis an das Ende der Erde reicht (Jesaja 49,6). Buber glaubte, daß die Rückkehr nach Zion sowohl das Land als auch das Volk grundlegend wandeln würde und die Erneuerung von beiden hervorbringen werde. Die Heimkehr des jüdischen Volkes ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie im „Dienste des Geistes steht“. Buber glaubte, daß die Existenz des jüdischen Volkes sinnlos sei, wenn es der Menschheit keine bedeutende Botschaft vermittele.

Nur wenn das jüdische Volk in Israel den Geist der Gerechtigkeit als seinen Führer bewahrt, schrieb Buber, kann es hoffen, etwas Größeres als nur einen weiteren Staat der Welt hervorzubringen. Israels Pflicht sei es „die Welt im Gottesreich zu verbessern“, gemäß der Aufgabe Abrahams: „In dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden.“

Dialog und Frieden

In einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit, nationale Überheblichkeit und Dialogverweigerung wachsen, gewinnt Bubers biblischer Humanismus eine besondere Bedeutung. Bedauerlicherweise wird Bubers Botschaft, das Andersseins des anderen zu akzeptieren, von atavistischem Fremdenhaß und nationaler Überheblichkeit negiert. Die Dialogverweigerung mit dem „anderen“ basiert auf der Angst, daß wir - Gott behüte! - die menschliche Seite unseres Gegners entdecken werden, und daß die Begegnung mit den anderen, mit den Fremden, und besonders mit unseren Feinden unerwünschte Gefühle (wie Empathie) in uns erwecken könnte, deren moralischen Preis wir bezahlen müssen.

Die vertrauliche Beziehung mit dem unheimlichen anderen kann sich tatsächlich nicht nur als eine schmerzliche Erfahrung erweisen, sondern auch als ein gefährliches Unternehmen. Das „Ich“, das das „Du“ sucht kann nicht nur völlig verneint, sondern möglicherweise auch mißbraucht werden. Die Bemühung, unseren Feind zu verstehen, ist nicht nur eine schwierige Aufgabe, sondern kann auch als „Verantwortung für den Selbstmord“ bezeichnet werden. Dennoch ist kein Verstehen möglich, ohne sich dem Feind zuzuwenden, dessen Lebensweg sich mit dem unseren kreuzt. Wir müssen davon ausgehen, daß die Weigerung, mit dem Feind (in unserem Fall den Palästinensern) zu reden und seine legitimen Ansprüche anzuerkennen nicht nur einen Teufelskreis der Gewalt bedeutet, sondern sogar zu der Vernichtung beider Seiten führen kann.

Ein echter Dialog ist tatsächlich ein unentbehrliches Podium für die Konfliktlösung. Es ermöglicht, die Gefühle des anderen zu empfinden und seine Bedürfnisse zu erfahren, ohne uns selbst zu verleugnen oder auf unsere eigenen wesentlichen Interessen verzichten zu müssen. Die Negierung des anderen oder seine Dämonisierung ist sicher leichter als seine Anerkennung. Dennoch ist ein Konflikt nicht lösbar, ohne sich dem anderen zuzuwenden. Ein echtes Gespräch ist laut Buber eines, in dem jeder Partner den anderen, auch dann, wenn er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten anderen wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz, wenn schon nicht aus der Welt geschafft, so doch menschlich ausgetragen und eine Überwindung angestrebt werden.

Buber war überzeugt, daß die Zukunft der Menschen als Menschen von einer Wiederaufnahme des Dialogs abhängt. Er meinte, daß die akuteste menschliche Krankheit die Tatsache sei, daß die gegenwärtigen Menschen nicht mehr imstande seien, ein echtes Gespräch miteinander zu führen. In seinem Vortrag mit dem Titel „Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens“, den er im September 1953 in der Frankfurter Paulskirche anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, sagte Buber: „Die Hemmungen miteinander ins Gespräch zu kommen, sind ganz eng verbunden mit dem Vertrauensverlust der Menschen, denn ich kann nur dann mit jemandem reden, wenn ich davon ausgehen kann, daß mein Wort als wahr akzeptiert wird.“ Er fügt hinzu: „Wo aber die Sprache wieder von Lager zu Lager sich vernehmen läßt, ist der Krieg schon in Frage gestellt.“

Mit der Gründung des Staates Israel stellte Buber fest: „Es besteht für mich kein Zweifel daran, daß es die Schicksalsfrage des Nahen Ostens ist, ob eine Verständigung zwischen Israel und den arabischen Völkern zustande kommt, solange noch eine Möglichkeit dazu besteht. Damit ein so großes Werk gelinge, ist unerläßliche Voraussetzung, daß geistige Vertreter der beiden Völker miteinander in ein echtes Gespräch kommen, in dem sich gegenseitige Aufrichtigkeit und gegenseitige Anerkennung miteinander verbinden.

Der Denker des dialogischen Lebens war sich wohl der traurigen Tatsache bewußt, daß Frieden im Nahen Osten nicht nur durch altruistisches Vertrauen erreicht werden kann, sondern auch durch geschäftsmäßige Verhandlungen. Buber stellte fest, daß weise Staatsmänner, wie gute Händler, ihre Probleme dadurch lösen, daß sie ihre gegenseitigen und gemeinsamen Interessen zu unterscheiden und klar auseinanderzuhalten wissen. „Was wir brauchen“, sagte Buber, „sind Händler des Friedens - jüdische und arabische Friedenshändler.“ So war es doch auch ein arabischer Friedenshändler, der damalige ägyptische Präsident Anwar as-Sadat, der bewies, daß Frieden durch Verhandlungen erzielt werden kann.

Wahrlich, solche arabischen und jüdischen „Friedenshändler“ - zum Teil Bubers Anhänger - haben die Geschichte des Nahen Ostens durch ihre Begegnung in Oslo völlig verändert. Das alle Welt überraschende Osloer Abkommen zwischen den beiden Urfeinden markiert zweifellos einen historischen Wendepunkt in der jahrhundertelangen Geschichte der bewaffneten Auseinandersetzungen. Trotz der ungeheueren Hindernisse auf dem Weg des Friedens ist der israelisch-arabische Friedensprozeß meiner Meinung nach unumkehrbar.

Epilog

Bubers Vorhersage in bezug auf die israelische Machtpolitik hat sich im Sechs-Tage- Krieg, der im Juni 1967 ausbrach, als richtig erwiesen. Der gefeierte israelische Sieg hat sich leider als ein Pyrrhussieg erwiesen. Die israelische Herrschaft über fast zwei Millionen Menschen in den besetzten Gebieten hatte die demokratische Basis der israelischen Gesellschaft erschüttert. Während ein aggressiver Nationalismus sich der israelischen Politik bemächtigt hatte, wurde einem Großen Teil der Israelis bewußt, daß wir nicht ewig über ein anderes Volk herrschen dürfen. Die verschiedenen Friedensbewegungen in Israel, besonders “Shalom Achshaw“ (Peace Now - Frieden jetzt, gegründet im Frühjahr 1978), beschleunigten den heutigen Friedensprozeß. Diese Tendenzen wären ohne Bubers hebräischen Humanismus nicht möglich gewesen.

Der Erzähler Amos Oz, einer der Gründer der „Shalom Achshaw“-Friedensbewegung, konstatierte, daß unser Land unglücklicherweise das Vaterland zweier Völker sei, deren Schicksal es sei, miteinander zu leben, weil „weder Gott noch die Engel herabsteigen werden, um zwischen ‘rechtens’ und ‘rechtens’ zu unterscheiden. Das Leben beider beruht auf dem harten, komplizierten und wichtigen Prozeß, miteinander auszukommen in diesem geliebten Land.“

Buber heute

Was sagt uns Martin Buber heute? Konnte Bubers humanistische Botschaft in unserer pragmatischen Welt wirklich realisiert werden? Würde der Staat Israel existieren, wenn wir Bubers Weltanschauung akzeptiert hätten? Wie würde das heutige Israel ohne Buber aussehen? Es ist klar, daß Bubers Konföderationsvorschläge für die Lösung des Nahost-Konflikts - wie die binationale Formel seiner Kollegen - überhaupt keine Chance hatten (siehe Libanon, Zypern, Tschechoslowakei). Es ist auch klar, daß die arabische Welt Israel nicht anerkannt hätte, falls Israel nicht verteidigungsfähig gewesen wäre.

Bedauerlicherweise haben die beiden Schlüsselfiguren Israels, David Ben-Gurion - der Gründer des jüdischen Staates - und Martin Buber - der wichtigste jüdische Philosoph - ihre Rollen getauscht: Ben-Gurion interessierte sich hauptsächlich für die griechische Philosophie, während Buber sich sein ganzes Leben lang in der Politik engagierte. Dazu paßt die Aussage Sokrates’, daß Philosophen die besten Herrscher seien. Trotz aller seiner unverwirklichten politischen Prognosen war Buber der Mahner und damit das unbequeme Gewissen Israels. Er wurde ein Symbol für den hebräischen Humanismus und für die Sehnsucht nach Frieden.

Einer der wichtigsten politischen Beiträge Bubers war und ist auch heute noch die „Demarkationslinie“ - die niemals zu überschreitende moralische Grenze. Bubers kategorischer Imperativ gilt auch für die jetzigen israelisch-arabischen Friedensgespräche, die nur dann gelingen werden, wenn wir die Bubersche Friedensbotschaft einbeziehen. Ich möchte mit einem Wort von Gustav Landauer, Martin Bubers engstem Freund, enden: „Frieden ist möglich, weil er notwendig ist.“ Dieses Wort ist heute so aktuell wie eh und je. Ich bete, daß wir in der Gegenwart und in der Zukunft mehr von Buber lernen mögen als in der Vergangenheit.

Editorische Anmerkungen

Vortrag auf der Tagung „Martin Buber ... - Brücke zwischen Religionen“, Evang. Bildungswerk J. A. Comenius, Görlitz, 5. Juni 1995)

Quelle: Deutscher Koordinierungsrat