"Lob ihn mit Abrahams Samen"

Die Zeile aus dem Lied Joachim Neanders und die Geschichte ihrer Veränderungen verweisen auf einen teilweise problematischen Umgang mit der Bibel in Verkündigung und Liturgie.

Egon Kapellari

„Lob ihn mit Abrahams Samen“

Das Judentum im christlichen Gottesdienst

Der reformierte Theologe und Dichter Joachim Neander hat in seinem Todesjahr 1690 ein Lied mit starken Bezügen zu Psalm 103 geschaffen, das heute gemeinsamer geistlicher Besitz der deutschsprachigen Christenheit und auch vielen kirchenfern gewordenen Christen noch vertraut ist. Gemeint ist das Lied „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“. In der fünften Strofe dieses an eine gläubige Seele gerichteten Liedes weitet sich die Aufforderung an das Ich des Beters zum Lobe Gottes in eine universale Dimension: „Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen. Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen.“ Der hier zitierte letzte Satz des Psalmenbuches wird von Neander mit Blick auf die Nachkommen Abrahams gesprochen, auf deren grundlegende Bedeutung beim Lobe des Höchsten der Dichter ausdrücklich hinweist.

Eine Variante dieser Verszeile hat nun der Eisenstädter Tagung ein Motto gegeben, das sowohl die positiven und negativen Aspekte des Tagungsthemas anklingen lässt, wie auch im emotionalen und kognitiven Bereich Hintergründe einer Befassung mit den jüdischen Wurzeln christlicher Liturgien zum Schwingen bringt. Der kurze Vers und die Geschichte seiner Veränderungen verweisen auf eine Problemgeschichte, die nicht frei ist von Schuld und Verletzungen, sowie von einem teilweise problematischen Umgang mit der Bibel in Verkündigung und Liturgie. Mit dem gewählten Motto ist auch ein Bedarf an Neuorientierung in der Sprache des Gottesdienstes angesprochen, die sich orientiert an den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils und an der Grundhaltung, die Papst Johannes Paul II. in Erfüllung der großen Leitlinien des Konzils bei seinen Bemühungen um einen Dialog mit dem Judentum, an den Tag legt.

Die genannte Liedzeile kann als Symbol dieser angedeuteten Problemgeschichte und ihrer Lösungsansätze gesehen werden. An ihr kann gezeigt werden, wie jüdische Wurzeln im christlichen Gottesdienst zur Sprache kommen oder auch nicht. Die Originaldichtung Neanders erfuhr gerade in diesem Vers zahlreiche Veränderungen.

Aktuelle Kritik richtet sich gegen die ökumenische Version des Liedes, die in das katholische Gesangbuch Gotteslob von 1975 Eingang gefunden hat. Dort heißt es: „Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen.“ Kenner des Originals bemängeln zu Recht die Tilgung eines konkreten biblischen Bezugs zu einer zentralen Gestalt des Ersten Testaments, zum Stammvater Abraham, als dessen Nachkommen sich auch die Christen bezeichnen dürfen und müssen. Das Konkrete in diesem Lied wurde in eine recht allgemeine Aussage umgewandelt, die den ursprünglichen Sinn zwar nicht verkehrt, aber zumindest doch abschwächt. Wer die Gründe für diese Änderung der frühen siebziger Jahre (1973) bei „Abraham“ sucht, liegt freilich falsch. Man meinte damals, das Wort „Samen“ der singenden Gemeinde nicht mehr vorgeben zu können.

Dies führte eine lange Geschichte von Eingriffen in dieses Lied weiter, denen verschiedene Motive zu Grunde lagen. Beispielsweise sei für das „Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch der evangelischen Gemeinde in den k.k. Österreichischen Erblanden“ (Wien 1783), dem ersten offiziellen Gesangbuch nach dem Toleranzpatent, genannt. Hier heißt es hundert Jahre nach Neanders Tod: „Lob ihn mit allen, die von ihm das Leben bekamen“, was wohl noch weiter vom Original und dessen Intentionen weg führt. Das neue deutschsprachige Evangelische Gesangbuch 1995 hat aber das Original Neanders wieder hergestellt, freilich als Alternative zur ökumenischen Version. Die neuen Schweizer Gesangbücher von 1998 folgen diesem Beispiel nicht.

Ich befasse Sie, meine Damen und Herren, mit der Geschichte und den Hintergründen einer Kirchenliedzeile deshalb so ausführlich, weil dieses Beispiel die volle Problematik des Tagungsthemas aufzeigen kann. Wie es in der Einladung zu dieser Tagung formuliert worden ist, will man sich kritische Rechenschaft darüber geben, wie in den christlichen Liturgien über das Judentum geredet wird, oder noch genauer, wie die jüdische Wurzel des Christentums in den Gottesdiensten zur Sprache kommt oder auch nicht.

Wir haben uns eben ein kleines Beispiel von Verdrängungsgeschichte vor Augen geführt, deren Motive freilich nicht monokausal erklärbar sind. Sicher gibt es aber eine lange Tradition von Versuchen, jüdische Wurzeln christlichen Lebens und Betens aus dem Bewusstsein der Christen auszublenden.

Papst Johannes Paul II. hat dazu 1997 vor der Vollversammlung der Päpstlichen Bibelkommission folgendes gesagt:

„Seit dem zweiten christlichen Jahrhundert war die Kirche mit der Versuchung konfrontiert, das Neue Testament ganz und gar vom Alten zu trennen und das eine gegen das andere zu stellen, indem sie jedem eine unterschiedliche Herkunft zuschrieb. Nach Markion stammt das Alte Testament von einem Gott, der dieses Namens unwürdig sei, da er rachsüchtig und blutrünstig sei, während das Neue Testament den versöhnlichen und großzügigen Gott offenbare. Die Kirche hat diesen Irrtum entschieden zurückgewiesen und alle daran erinnert, dass sich die göttliche Mildherzigkeit bereits im Alten Testament manifestiert. Dieselbe markionitische Versuchung stellt sich uns leider auch in der heutigen Zeit. Dabei zeigt sich immer mehr, welch eine Unwissenheit über die tiefe Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament herrscht. Aus dieser Unwissenheit gewinnt so mancher den Eindruck, die Christen hätten mit den Juden nichts gemeinsam.“

Der Papst führt weiter aus, dass es ganz wesentlich zur Identität der Christen gehört, ihren Glauben an Jesus als einen zu verstehen, der „untrennbar mit dem Alten Testament verbunden“ ist. Er sagt:

„Der Christ muss wissen, dass er durch seine Zugehörigkeit zu Christus ein ‘Nachkomme Abrahams’ geworden ist (Gal 3,29) und dass er in den edlen Ölbaum eingepfropft wurde (Röm 11, 17-24), das heißt, er wurde in das Volk Israel eingegliedert, um so Anteil zu erhalten an der Kraft seiner Wurzel (Röm 11,17).“

Eine solche Sichtweise führt zu Rückfragen an die Konzeption von Liturgie bzw. an die liturgische Praxis. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vaticanums nennt die Liturgie Gipfel und Quelle alles christlichen Tuns. Wenn wir dies ernst nehmen, müssen wir uns fragen, wie im Zentrum christlicher Existenz und Identität das Bewusstsein entstehen kann oder wach gehalten wird, dass auch die Christen Kinder Abrahams und somit jüngere Geschwister der Juden sind. In der Liturgie formiert sich christliches Bewusstsein und artikuliert sich der Glaube der Gemeinschaft. Dem entspricht der Satz: „Lex orandi – lex credendi.“ Was gebetet wird, wird auch geglaubt, Liturgie stellt den Glauben dar.

Es ist daher die Rede vom Judentum gerade in den Gottesdiensten danach zu befragen, ob sie biblischen Intentionen entspricht und zur genuinen Tradition kirchlicher Überlieferungen gehört, oder ob Missverständnisse zu beseitigen, Fehler zu vermeiden und thematische Lücken zu füllen sind. Das Gespräch im und außerhalb des Rahmens der Liturgiewissenschaft dazu weist eine Fülle von Facetten auf.

Zunächst einmal ist darauf zu verweisen, dass im Zuge der Liturgiereform einige fundamentale Weichenstellungen erfolgt sind. Ein großes Skandalon in Form der vorkonziliären Formulierung der Bitte für die Juden in den großen Fürbitten des Karfreitags wurde beseitigt. Die heutige Bitte entspricht dem biblischen Sprachgebrauch, der die Zusammengehörigkeit der Völker betont, die der Herr erwählt hat. Das Erste Testament ist verstärkt in den Blickpunkt der Verkündigung gerückt. Mit der heutigen Leseordnung sollte der „Tisch des Wortes“ gegenüber der bisherigen liturgischen Praxis in reichem Maße gedeckt werden. So gelangen nun größere Abschnitte des Alten Testaments zur Verkündigung in den Leseordnungen der Sonn- und Werktage. Dieses ist grundsätzlich zu begrüßen, doch regt sich Kritik an der Auswahl der einzelnen Perikopen, die nach Meinung der Kritiker den Eigenwert des Ersten Testaments vernachlässige.

Damit sind wir generell bei kritischen Anfragen zur heutigen liturgischen Praxis angekommen. Die Themenpalette ist breit. Neben der Kritik an der Leseordnung werden Einwände gegen die Bundestheologie in einzelnen Hochgebeten formuliert. Eine überzogene Anwendung des Schemas „Verheißung–Erfüllung“ in vielen Texten erscheint als korrekturbedürftig. Die Improperien der Karfreitagsliturgie stehen zur Debatte. Auch im Gemeindegesang sind einige Sätze zu entdecken, die Missverständnisse eher fördern als vermeiden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Was hinter den einzelnen Beispielen steht, sind grundsätzliche Fragen, die das theologische Verhältnis von Judentum und Christentum berühren. Es sind Fragen der je eigenen Identität.

In der Geschichte der Menschen, auch in der Geschichte der Kirchen, wurde häufig versucht, die eigene Identität auf Kosten einer anderen zu bestimmen. Diesen Weg muss meiden, wer es mit dem Dialog ernst meint und versuchen will, Gräben zuzuschütten, Wunden zu heilen, Verständnis zu fördern. Christen werden sich selber besser verstehen, wenn sie sich voll ihrer Wurzeln besinnen. Sie werden die Fülle ihres Glaubens besser erkennen lernen, wenn sie ihre Ursprünge in ihr Glaubens- und Lebenskonzept integrieren. Dazu sagte der Papst 1980 während seiner Pastoralreise nach Deutschland bei einer Ansprache mit Vertretern der Juden in Mainz:

„Die erste Dimension dieses Dialoges, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (Röm 11,29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ihrer Bibel. Hierzu sagen die Richtlinien für die Konzilserklärung Nostra Aetate: „Man muss bemüht sein, besser zu verstehen, was im Alten Testament von eigenem und von bleibendem Wert ist ..., da dies durch die spätere Interpretation im Licht des Neuen Testaments, die ihm seinen vollen Sinn gibt, nicht entwertet wird, sodass sich vielmehr eine eigenseitige Ausdeutung und Beleuchtung ergibt.“

Ein Blick in die Geschichte der römischen Liturgie ergibt, dass fernab von Kontroversen in Traktaten und Predigten diese Dimension des Dialoges zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Bibel vorhanden war. Es kann gezeigt werden, dass viele Texte der Liturgie das Erste Testament in seinem Eigenwert erklingen lassen. Ich nenne hier zuerst die Rezeption des Psalmenbuches in den Gesängen der Messe, im klassischen Proprium Missae.

Es besteht zwar kein Zweifel darüber, dass gerade in den Messformularen der Festkreise der Psalter als Psalmus Vox totius Christi gelesen wird, wie Augustinus gesagt hat. Wir können daneben aber auch zahlreiche Belege dafür anführen, dass Psalmen in der Liturgie das Sprachrohr des Menschen werden, der seine Existenz vor Gott bringt. Augustinus verweist immer wieder auf die locutio propria der Psalmen, auf ihren Literalsinn, der einen festen Bestandteil der Psalmenkommentare ausmacht, die einem liturgischen Interesse verpflichtet sind. Psalmen sind speculum et medicamentum nostrum – Spiegel menschlicher Existenz und Therapie für den heilungsbedürftigen Menschen.

Dies artikuliert sich gerade im Zyklus der liturgischen Gesänge außerhalb des Festkreises, an den gewöhnlichen Sonntagen, die häufig das Ich des Beters und seine Nöte mit sich selber, der Welt und Gott in den Mittelpunkt stellen. Der Psalter – auch in seinem Literalsinn – als das Sprachrohr der singenden und betenden christlichen Gemeinde ist ein gewichtiges Element der klassischen römischen Liturgie. Diese Tatsache bedarf einer Wiederentdeckung. Wir haben es hier mit einer sehr leisen und oft überhörten Stimme zu tun, die ein waches, sensibles Ohr verlangt.

Es ist zu fragen, wie weit sich die heutige Liturgiepraxis gerade in diesem Punkt von ihrer genuinen Tradition entfernt hat. Darüber hinaus jedoch gehört es aber zur Identität christlichen Betens, den Psalter auch als vox Christi zu verstehen und zu deuten, und es ist für Christen legitim, das Psalmengebet mit einer Doxologie an den einen und dreifaltigen Gott zu beschließen. Kardinal Hans Urs von Balthasar hat solche Sachverhalte mit dem programmatischen Buchtitel „Die Wahrheit ist symphonisch“ bezeichnet. In einer Symphonie erklingen verschiedene individuelle Stimmen, aber erst im Zusammenklang ergibt sich die Fülle des Inhalts.

Unsere Liturgie ist zutiefst biblisch grundgelegt. Etwa zwei Drittel ihrer klassischen Gesänge im gregorianischen Choral sind Büchern des Ersten Testaments entnommen. Die oft komplizierten Verflechtungen mit der Septuaginta Tradition und ihrem Weiterleben in den lateinischen Bibelübersetzungen und deren Rezeption in der Liturgie sind nicht allein mit den Maßstäben mancher moderner exegetischer Schulen zu messen. Es ist vielmehr daran zu erinnern, dass auch hier die Wurzeln weit in das Judentum hinein reichen. Dazu und darüber hinaus sprechen neuere Forschungen auch von der generellen Berechtigung christologischer Exegese der Psalmen aus der Perspektive des Alten Testaments selbst. Georg Braulik formulierte 1995 auch mit Hinweis auf Norbert Lohfink:

„Ein ‚christologisches‘ und ‚messianisch-ekklesiologisches‘ Verständnis der Psalmen, vor dem Horizont des rettend kommenden Königs Jahwe und seines endzeitlichen Weltreiches, ist auch literarhistorisch schon im Alten Testament legitimiert.“

Forschungsergebnisse wie diese und die daraus resultierenden Denkansätze berechtigen zur Hoffnung, dass im geduldigen Argumentieren Fronten aufgesprengt werden können, die sich – fernab von legitimen unterschiedlichen Sichtweisen – als sachlich unberechtigt erweisen.

Dialog aus der Kenntnis der eigenen Identität mit ihren tiefen Wurzeln und auch aus Erkenntnissen seriöser theologischer Forschung ist geboten. Diese Tagung will fragen, wie weit solche Erkenntnisse auch in der Praxis der liturgischen Gemeinden realisiert sind. Es ist zu wünschen, dass in der Lektüre des Ersten Testaments die geistliche Fülle seines liturgischen und privaten Betens noch deutlicher zu Tage tritt. Es ist auch zu wünschen, dass offene Fragen an konkrete Gestalten heutiger Liturgie nicht mit dem Gutdünken privater Änderungswilligkeit beantwortet, sondern dass in einer Kirche verschiedener Geschwindigkeiten durch geduldige Argumentation gemeinsame Lösungen gesucht und gefunden werden.

Diese Tagung ist nur eine Station auf einem langen Weg. Möge der Segen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, der der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist, diese Tagung begleiten.

Editorische Anmerkungen

Einleitungsrede von Bischof Egon Kapellari zur Tagung „Das Judentum in den christlichen Liturgien“. 

© Copyright 1999 Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.