Liturgie und Erlösung

Beobachtungen einer Trauerrednerin an Rosenzweigs Konzept von Liturgie[1]

»Gebräuche her! wir haben nicht genug Gebräuche. Alles geht und wird verredet«
(Rainer Maria Rilke, Requiem für eine Freundin)

Einführung

Wenn jemand nach langer Krankheit gestorben ist, sagen die Leute in Deutschland heute oft: „Es war eine Erlösung.“ Aber kann der Tod erlösen?

Wo es um Rosenzweig geht, muss man davon ausgehen, dass all seine Arbeit zur Erlösung sich gegen eine solche Kumpanei mit dem Tod richtet. In diesem Essay möchte ich einige Gedanken zur Liturgie vorstellen, die sich aus zwei Quellen speisen: einerseits aus der Arbeit als Rednerin für weltliche Trauerfeiern in Berlin, andererseits aus meiner langjährigen Beschäftigung mit Rosenzweigs Werk. Ich werde behaupten, dass es gerade die Aufgabe der Liturgie ist, aus diesem hilflosen Einverständnis mit dem Tod heraus und zu einem – in Rosenzweigs Sinne - deutlicheren Begriff von Erlösung zu führen.

Mein Text ist in drei Teile gegliedert: 1. Vom Verlust der Liturgie der Liebe – über das gegenwärtige „Nichts“ der Liturgie; 2. Zurück zur Liturgie? Über die Gefahr einer fundamentalistischen Wende im Prozess der „Re-Religiosifizierung;“ 3. Die erlösenden Kräfte der Liturgie erlösen – über das „Ichts“ der Liturgie.

1. Vom Verlust der Liturgie der Liebe – über das gegenwärtige „Nichts“ der Liturgie

Rosenzweigs Hauptwerk ist immer wieder als ein einziger Aufschrei gegen den Tod beschrieben worden. Buchstäblich vom ersten bis zum letzten Wort soll der Stern der Erlösung (ab jetzt Stern) als ein Geleiter vom Tod zum Leben dienen: „Vom Tode … Stern …ins Leben.“ Beginnt man ein Buch mit dem Tod, so beginnt man mit einem dieser Probleme, die nicht gelöst werden können. Sowohl die Gebürtlichkeit als auch die Sterblichkeit verweisen auf Aspekte der condition humaine, die schlicht ertragen werden müssen. Traditionellerweise hilft die Liturgie den Menschen durch die oft schmerzhaften Übergänge zwischen den verschiedenen Stadien des menschlichen Lebens. Insbesondere der Übergang vom Leben mit einem bestimmten Anderen in ein Leben ohne diesen Anderen bedarf sicher der Begleitung. Aber was tun Menschen an dieser Schwelle, die nicht mehr in religiöse Gemeinschaften eingebunden sind? Die Toten müssen immer noch begraben werden (das ist in Deutschland gesetzliche Pflicht), und die meisten Menschen wünschen sich, in dem entsprechenden Übergangsritual Begleitung durch jemanden und durch etwas.

In der antireligiösen Atmosphäre der ehemaligen DDR (dem weltweit größten Gebiet mit der am wenigsten religiösen Bevölkerung) wurden reduzierte Begräbnisrituale von professionellen Redner: innen ausgeführt. Heute kann eine solche Dienstleistung in ganz Deutschland gebucht werden.[2]

All jene, die wie ich in dieser Branche arbeiten, versuchen, eine Art Liturgie im Wortsinn zu etablieren. Zusammengesetzt aus dem griechischen laos, „Volk“, und ergon, „Werk“ oder „Dienst“, bedeutet Liturgie etwas wie „öffentlicher Dienst“ oder „Dienst am Volk“.[3] Die Abwesenheit jeglicher Liturgie würde eine ziemlich unbehagliche Leere hinterlassen. Ich frage mich oft, ob nicht gewisse familiäre Konflikte, gar Verwerfungen nach Beerdigungen, wie sie immer wieder erzählt werden, auch dadurch mitverursacht sind, dass eine gemeinsame rituelle und liturgische Ordnung, die Trost und Orientierung in dem schwierigen Übergangsprozess hätte bieten können, gefehlt hat. Wenn die Trauer auf den privaten Bereich beschränkt bleibt, führt das nicht zu einer Steigerung der Anspannung, während gerade die öffentliche Anerkennung der Trauer durch die Gemeinschaft etwas Trost spenden könnte?

Wie dem auch sei – Liturgie als integraler Bestandteil religiöser Kultur hat einen Schrumpfungsprozess durchlaufen. Suche ich nach Erklärungen für diesen Niedergang, finde ich im Wesentlichen zwei Narrative. Das erste ist soziologisch. Beginnend mit dem Judentum als erster „rationaler“ Religion, und nicht endend mit dem Protestantismus, werden Prozesse der Rationalisierung, Säkularisierung und Individualisierung als unaufhaltsam fortschreitend dargestellt. In ihrem Gefolge fragen weniger Menschen: „Was ist der Sinn von alledem?“ Das urbane Individuum westlichen Typs ist heute bestens organisiert in dem, was Max Weber die „methodische Lebensführung“ nannte, und man nimmt an, dass es sich vornehmlich mit problemlösender „Selbstoptimierung“ beschäftigt, die mit Dereligiosifizierung einhergehe. Diese gesamte Webersche Fortschrittstheorie schiebt Rosenzweig beiseite, indem er mit dem opaken Problem des Todes beginnt.[4]

Das zweite Narrativ, das den generellen Verlust an liturgischer Kompetenz – also z.B. der praktischen Fähigkeit, eine Feier zu gestalten und Worte in einer rituellen und feierlich-bedeutungsvollen Weise zu sprechen – argumentiert ethisch und oft auch religiös. Kritisch gegenüber einem leerlaufenden Prozess körperlicher und sozialer Rationalisierung, gehört es eher in einen psychomoralischen Diskurs, der die Werte und die Moral sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft zum Inhalt hat.[5] Wo sowohl psychologische als auch pädagogische Theorien darauf bestehen, dass Werte und Tugenden verinnerlicht werden sollen, ist es eine unvermeidbare Konsequenz, dass äußerliche Zeichen der Gemeinschaft, der sozialen Bindungen und des guten Benehmens geringer geschätzt werden. Das „liturgische“ Protokoll als integraler Bestandteil des „öffentlichen Dienstes“ verliert an Bedeutung. Es wird als ein „äußerliches“ Relikt angesehen, das wenig Substantielles zu den Werten der Gesellschaft beitrage. Emmanuel Lévinas ging so weit, es als eine Art Gefahr für die unmittelbare, eigentlich „ethische“ Begegnung zwischen Menschen erscheinen zu lassen: “Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist verschieden von jeder Beziehung … in der die Rede Beschwörung wird wie das zu Ritus und Liturgie werdende Gebet.[6]

Mag im Werk des großen Rosenzweiglesers die Geringschätzung der Liturgie durch andere Gedankengänge ausgeglichen werden, so passt sie doch nur zu gut zu einer zeitgenössischen Neigung, eine Situation, in der „bloße Liturgie“ als überwunden gilt, zu begrüßen. Anhänger des ersten Narrativs von der mit gleichsam natürlicher Unvermeidlichkeit fortschreitenden Rationalisierung glauben, dass die Menschen besser gelernt haben, Problemen, die nicht mithilfe der Vernunft gelöst werden können, aus dem Weg zu gehen. Anhänger des zweiten Narrativs, nach dem die Verinnerlichung äußerliche Übungen und Liturgie überflüssig mache, schauen mehr auf die Begegnung zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ und glauben, dass äußerliche Liturgie einer solchen Begegnung, die ein vor allem inneres Ereignis sei, nicht viel hinzugeben könne.

Die Arbeit einer Trauerrednerin offenbart jedoch in sehr vielen Fällen eine regelrechte „liturgische Sehnsucht“, sobald es um existentielle Probleme geht, also um Probleme, die nicht gelöst werden können, sondern ertragen werden müssen. Wo der liturgische „Trieb“ verdrängt wird, könnte er womöglich an anderer Stelle mehr oder weniger „maskiert“ wieder auftauchen - sogar im weltlichen Leben. Könnte es nicht einem liturgischen Impuls geschuldet sein, wenn zum Beispiel auf irgendeiner akademischen Konferenz ein Gelehrter in feierlichem Ton ein sehr bekanntes Zitat von Walter Benjamin verliest, als ob er es zum ersten Mal entdeckt hätte?[7] Und gerade weil das Zitat in Wahrheit so bekannt ist, kann das Auditorium nicht anders, als es in der einen oder anderen Form zu wiederholen oder durch ein gleichbekanntes zu beantworten? Wenn dies mehr als nur eine Gelegenheitsbeobachtung ist, dann ist es vielleicht ein weiteres Indiz für die Leere, die durch den Niedergang der Liturgie in unseren westlichen Leben geblieben ist. Sie würde sich in verschiedenen Situationen zeigen – und eine von diesen Situationen wäre die besonders emotionale Gelegenheit einer allzu „unfeierlichen“ Beerdigungszeremonie.

2. Zurück zur Liturgie – die Gefahr einer fundamentalistischen Wende im Zuge der „Re-Religiosifizierung“

Wenn der Verlust der Liturgie ein Problem ist, was könnte denn die Alternative sein?

Eine schlichte Rückkehr zur Liturgie, um Trauernde (und Menschen in sonstigen kritischen Situationen) angesichts der unheimlichen Leere, der sie sich gegenüber sehen, zu erlösen? Dies ist nicht Rosenzweigs Antwort. Dennoch war es die liturgische Erfahrung des berühmten Yom Kippur Gottesdienstes 1913, die ihn von dem Versprechen, sich taufen zu lassen (das er Eugen Rosenstock im berühmten Leipziger Nachtgespräch gegeben hatte), erlöste und ihn davon überzeugte, er müsse Jude bleiben. Insofern ist es kein Wunder, dass Rosenzweig im Stern die Liturgie des Versöhnungstages zum Herzstück seiner Interpretation des Judentums macht – hierin übrigens eines Sinnes mit seinem Lehrer Hermann Cohen, der dieselbe Liturgie des Yom Ha-Kippurim an entscheidender Stelle in seiner Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums interpretiert. Anders jedoch als Hermann Cohen, der das aufrechte Stehen der Gemeinde während des Sündenbekenntnisses betont[8], unterstreicht Rosenzweig das Knien der Gemeinde in dem Augenblick, in dem die Erlösung „im Schauen der unmittelbaren Gottesnähe“ vorgestellt wird. „Die gewaltigen Tage […] sind ausgezeichnet vor allen andern Festen dadurch, dass hier und nur hier der Jude kniet.“[9] War Rosenzweig also in die Knie gegangen, um fortan zurückzufallen in eine überkommene, im Grunde auch überholte Lebensweise, in der die Liturgie wieder eine größere Rolle spielte? Ich glaube nicht, dass wir von einem Rückfall reden sollten. Was war es aber dann, was wollte er?

Der dritte Teil des Sterns handelt sehr ausdrücklich von Liturgie.[10] Das Verhältnis von Christentum und Judentum, also der für seine Zeit und seinen Ort wichtigsten Traditionen[11], konstruiert Rosenzweig anhand der Konzepte einer zirkulären Zeit für das Judentum, einer linearen Zeit für die Völker und einer Art spiralförmigen Zeit für das Christentum. Seine Verwendung der Liturgie erlaubt es Rosenzweig, über bloße Apologetik hinauszugelangen. Wenn er universale Relevanz für den partikularen Gottesdienst des „ewigen Volkes“ reklamiert, macht er Gebrauch von seiner wohlbekannten Methode, ein Vorurteil gegen das Judentum in einen Vorteil zu wenden. Wo die Liturgie dem modernen Menschen als ein Relikt aus überwundenen Zeiten erscheint, stets in Gefahr, mit ihren endlosen Wiederholungen und steifen Regeln die geistige Entwicklung in eine Erstarrung zu bannen, da hilft ihr Rosenzweig, indem er anwendet, was er in seinem Essay zum apologetischen Denken einmal als ein brauchbares Verfahren offengelegt hat. Er beginnt mit dem schwächsten Punkt und erklärt diesen zur zentralen Errungenschaft der zu verteidigenden Sache.[12]

Das hat freilich seinen Preis. Die Völker der Welt leben in einem Prozess ständiger Erneuerung, die sie „ins Meer“ führen. Dabei lassen sie eine ständig wachsende Vergangenheit hinter sich, indem sie permanent Zukunft in Vergangenheit verwandeln. Das jüdische Volk hingegen – das ewige Volk – friert den Augenblick ein und steht so dauerhaft zwischen einer „unvermehrbaren Vergangenheit“ und einer unbeweglichen Zukunft. Diese Ewigkeit des „liturgischen“ Moments erzeugt eine unüberbrückbare Distanz zwischen der Teilhabe an der Ewigkeit des jüdischen Volkes und dem Leben der Völker. Tatsächlich spricht er sogar von einer Entfernung vom Leben überhaupt: “Und wieder erkauft sich das ewige Volk seine Ewigkeit um den Preis des zeitlichen Lebens. … So hört der Augenblick auf zu verfliegen. Aber so wird der Augenblick freilich dem Strom der Zeit enthoben, und indem das Leben geheiligt wird, ist es nicht mehr lebendig.“[13]

Während die Völker ihr Leben in Revolutionen führen, während ihre Gesetze ständig ihre alte Haut abstreifen, wird das jüdische Gesetz niemals und durch keine Revolution abgelöst werden. Man kann vor ihm davonlaufen, aber man kann es nicht verändern.[14] Trotz der Modernisierungen des Judentums, trotz Reformjudentum und liberaler Bewegung, behauptet Rosenzweig hier eine Unveränderlichkeit des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Praxis. Mögen die Leute das Judentum als Inbegriff für alles, was erstarrt, verhärtet, unveränderlich, autoritär und „gesetzlich“ verunglimpfen: Rosenzweig sagt, genau, so ist es. Dies sind die Elemente des Judentums. Das hat nämlich seinen guten Sinn und Grund.

Denn die anderen Völker – die haben ihren Tod immer noch vor sich. „Ja, ihre Liebe zum eigenen Volkstum ist süß und schwer von diesem Vorgefühl des Todes.“[15] Und der Tag wird kommen, an dem „ihre Sprache in Büchern bestattet“ ist und ihre Gesetze alle ihre lebensgestaltende Kraft verloren haben. Das jüdische Volk hingegen hat diese Art seines Todes schon hinter sich. “Denn alles, worin die Völker der Welt ihr Leben verankerten, uns ist es schon vorlängst geraubt; Land Sprache Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem Kreise des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Heiligem gehoben; wir aber leben immer und leben ewig….“[16]

Hier könnten sich moderne Leser: innen zu der Idee provoziert fühlen, Rosenzweig betrachte das Judentum als eine Art Zombie, also als einen Glauben, der seinen eigenen Tod überlebt habe. Dem antijüdischen Vorurteil würde das gut entsprechen – Antisemit: innen haben es immer schon gewusst, dass die Juden sich der Zeit verweigerten und sozusagen in der kollektiv narzisstischen Illusion ihrer eigenen „Ewigkeit“ steckenbleiben, anstatt Entwicklungen mitzuvollziehen. Viele Jüdinnen und Juden, die sich der strengeren Religionsausübung zu entziehen wünschen, könnten sich einer solchen Kritik anschließen und die unflexible Liturgie als eine Sackgasse jeder Religion ansehen, die sich den Erkenntnissen etwa der modernen Wissenschaft verweigert. Entwirft Rosenzweig mit diesen Sätzen also eine fundamentalistische Version des Judentums? Verleitet ihn der als notwendig empfundene und durchaus sehr verständliche Widerstand gegen Assimilationsforderungen einer feindlichen Umgebung dazu, eine starrsinnig rückwärtsgewandte Religion zu predigen? Das wäre der Fehler, in den manche sogenannte orthodoxe Auffassung des Judentums verfallen kann, aber es ist sicher nicht Rosenzweigs Problem. Um wieviel mehr würde er, kal vachomer, über christliche Varianten des Fundamentalismus, wie sie sich zu seinen Lebzeiten im Affenprozess in Dayton austobten, gespottet haben.

Was Rosenzweig tut, ist hingegen folgendes: Er zeigt auf, was eine liturgische Ordnung denjenigen bedeuten kann, die den Tod von jemandem oder etwas, der oder das ihnen sehr teuer war, überlebt haben.

3. Die erlösenden Kräfte der Liturgie erlösen – über das „Ichts“ der Liturgie

In der gesamten Geschichte der Religionen und Kulturen mindestens des „westlichen Typs“ gab es eine Spannung zwischen einer ritualistischen, zirkulären Haltung zu den Grundbedingungen des menschlichen Lebens und einer entwicklungsorientierten linearen Herangehensweise, in welcher die spirituelle Verinnerlichung die Hauptrolle spielt. Rosenzweig ist sich sehr klar darüber, dass es für diese dauernde Spannung keine Lösung geben kann.[17]

In vielen westlichen, protestantisch geprägten Perspektiven werden „Gesetzlichkeit“ im Sinne eines Ritualgesetzes und eines mehr oder weniger kasuistisch ausformulierten Sittengesetzes (oft direkt mit dem Judentum assoziiert) als eine Äußerlichkeit wahrgenommen und gering geschätzt. Ihnen gegenüber stehen in diesen Perspektiven Glaube, Haltung und Innerlichkeit (oft direkt mit dem „wahren“ Christentum assoziiert) als das, worauf es eigentlich ankomme. Rosenzweig verschiebt diese Ordnung zugunsten von Liturgie und Gesetz. Bei ihm wird die Liturgie zu einer Kraft, die denen hilft, die gerade eine unmittelbare Zugehörigkeit, ein wesentliches Element ihrer lebensweltlichen Verankerung verloren haben. Ihnen gibt die Liturgie innere Stärke und ein tröstliches Gefühl des Trotz-allem-in-der-Welt-Seins.[18] Eine Vergegenwärtigung von etwas, dessen reale, leibliche Gegenwart so schmerzlich vermisst wird.

Es ist nun nach Rosenzweig keineswegs so, wie oft unterstellt wird, dass Juden es sich am äußerlichen Dienst genügen lassen und also keine „Werte verinnerlichen“ oder dergleichen. Es ist auch keineswegs so, dass Liturgie selbst einem solchen Verinnerlichungsprozess entgegenstünde. Es ist vielmehr so, dass durch die Liturgie und ein System „gesetzlicher“ Vorstellungen von Riten und Alltagsleben die Verinnerlichung erst Maß und Balance erhält. Ohne ein solches Maß würde sie, wie man nicht nur von Rosenzweig lernen kann, auf oft schwierige Weise exzessiv werden. Das möchte ich an kurzen Beispielen erläutern.

Die Gemeinde und ihr vielfältiger, endloser innerer Dialog, mit sich selbst, mit den heiligen Texten und mit Gott, sie verstummen im liturgischen Lesen der Torah.[19] Das ewige Element der Liturgie, ihr Allerheiligstes, das Niederknien in Gottes Gegenwart einmal im Jahr, verändert sich nicht. Diese und andere Elemente mögen von außen betrachtet autoritär erscheinen. Ismar Elbogen jedoch hat vollkommen recht, wenn er betont: “Der jüdische Gottesdienst […] war der erste, der, völlig losgelöst vom Opfer, als Gottesdienst mit dem Herzen, Avodah sh’balev, bezeichnet werden durfte.”[20] Rosenzweig unterstützt diese Auffassung.

Anstatt den „christlichen Weg“ als einen Fortschritt zur Innerlichkeit zu feiern, verwandelt Rosenzweig die Grenzen der jüdischen Liturgie, die ihr christlicherseits als Schwäche ausgelegt werden, in eine Stärke. Er verweist auf die Bedeutung, die gerade das Werk der Begrenzung für die andernfalls unendliche Arbeit des Herzens hat und setzt einen Punkt hinter die von Lévinas (welcher später in seinen Talmudischen Lesungen mit der Liturgie sehr viel mehr anfangen konnte als in früheren Arbeiten) evozierten unbegrenzten Forderungen. Unmittelbarkeit der Begegnung und die Verinnerlichung des Glaubens bedürfen der Begrenzung, wenn sie nicht destruktiv werden sollen. Diese gewinnen sie aus der Liturgie.

Es ist einmal im Jahr, dass Juden in der Gegenwart Gottes knien. Nicht öfter. Es ist einmal im Jahr, dass sie sich in einem Augenblick versammeln, der alle zeitliche und geographische Realität transzendiert. Mit diesem niemals in Frage gestellten Moment der Stabilität, kann die Gemeinde und können in ihr die einzelnen Menschen die übrigen Dinge drumherum vielfältig gestalten. Das gilt ähnlich für die wöchentliche Erinnerung, den Shabbat. Dieser ist als ein kleiner Feiertag festgelegt. Aber wie er dann konkret gefeiert wird, mit Lesungen, Musik, Kommentaren und Gedichten auf Hebräisch oder in einer anderen Sprache – das kann von den einzelnen Gemeinden sehr unterschiedlich interpretiert werden.

Haben es die Juden in Rosenzweigs Konstruktion also besser als die Christen? Diesen mutet er ja zu, dass sie sich über die ganze Welt verbreiten müssen, wozu dann auch gehört, die Unbegrenztheit zu ertragen: “Das Christentum als ewiger Weg muss sich immer weiter ausbreiten (379)…Er darf nicht auf Worte verzichten…das Etwas, woran er glaubt, [muss] kein Etwas, sondern Alles sein. Und eben darum ist er der Glaube an den Weg. Indem er an den Weg glaubt, bahnt er ihn in die Welt. So ist der zeugnisablegende christliche Glaube erst der Erzeuger des ewigen Wegs in die Welt, während der jüdische Glaube dem ewigen Leben des Volks nachfolgt als Erzeugnis.“[21] Müssen sie also ihre herzinnigste Glaubensauthentizität immer und in jedem Augenblick beweisen, endlos, grenzenlos und ohne einen Rhythmus? Gäbe es für sie nur diesen Aspekt der unendlichen Ausbreitung und Entwicklung in linearer Zeit, sähe es schlecht aus in der Christenheit, die Rosenzweig vorstellt. Aber Rosenzweig gesteht ihr dann doch zu, dass sie durch ihre Verankerung in der jüdischen Tradition auch ein bisschen teilhaben an der wohltuenden Rhythmisierung der Zeit durch die Hebräische Bibel und die in vielen Aspekten der jüdischen Liturgie anempfundenen christlich-liturgischen Tradition. Insofern sie einen gewissen Anteil an der jüdischen Liturgie haben, habe ich deswegen die dem Christentum zugeschriebene Zeitgestaltung eine „spiralförmige“ genannt.

Dessen ungeachtet sollte mittlerweile klar geworden sein, dass Rosenzweig die Idee einer sich unerbittlich vollziehenden und unbedingt abzuarbeitenden Entwicklung in die eines unbegrenzten Glaubenmüssens überträgt. Und tatsächlich ist die christliche Geschichte ja eine der unabschließbaren Glaubens- und Gesinnungsprüfungen, verbunden mit einem unerhört starken Drang, die Mission fortzusetzen. Diese Tendenz setzt sich durchaus ins Säkulare hinein fort. Wo eine an Freud und/oder Weber orientierte Religions-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaft die Religionen und ihnen besonders die Liturgien einem „früheren Entwicklungsstadium“ zuordnen, das im Zuge des unaufhaltsamen Rationalisierungsprozesses früher oder später abgelöst und ersetzt werde durch eine angemessenere Weltsicht und besseres Problemlösungsverhalten – da folgen diese Wissenschaften im Prinzip dem Pfad, der ihnen durch eine christliche Tradition, aus der sie mehr oder weniger kommen, eingeschrieben ist.

Dies wird wiederum besonders kenntlich durch den Blick darauf, wie Rosenzweig im Stern das Judentum präsentiert. Um den innersten Kreis der jüdischen Liturgie zu beschreiben, bemüht Rosenzweig eine Metapher aus dem Land Israel, das Tote Meer, an dem er die Idee des „ewigen Volkes“ noch einmal anders anschaulich macht. Das Leben der Völker, so hatten wir schon gesehen, fließt immer weiter dem Meere zu. „Nur ein einziges Gewässer auf Erden steht ewig kreisend in sich selbst, ohne Zufluss scheinbar und ohne Abfluss, nämlich ohne irdischen Zufluss und Abfluss – ein Wunder und ein Anstoß allen, die es sehen; denn es entzieht sich der Aufgabe aller Wässer, ins Meer zu laufen.“[22] Um hier mehr von der Beziehung zwischen Judentum und Christentum zu verstehen, lohnt es sich, noch einmal an den Anfang des Buches zurückzugehen.

Es ist viel darüber geschrieben worden, wie Rosenzweig in seiner Meta-Metaphysik „etwas“ aus „nichts“ entstehen lässt, und wie sich sein Ursprungstheorem zu Hermann Cohens Logik des Ursprungs verhält. Bei Rosenzweig ist das „Etwas“, dessen sich der Jude – anders als der Christ – so sicher ist, ein „Icht[s]“, ein „Nicht-nichts“. Er führt diesen Ausdruck fast als ein Hapaxlegomenon ein: genau dreimal erscheint er in dem Absatz, der den Seitentitel „Zur Methode“ trägt. Noch einmal begegnet er im selben Absatz ein viertes Mal als „Nicht-Icht[s]“. In allen Fällen ist er entweder der Genitiv einer Negation oder von einer Negation begleitet. Seine Negation wird gebraucht, um ein konkretes Nichts, eine bestimmte Leerstelle zu markieren, ohne die nichts Bestimmtes wachsen kann. So leer eine solche Leerstelle auch sein mag, sie ist nicht dasselbe wie das allgemeine Nichts, und dieses, das allgemeine Nichts, hat man keinesfalls zu akzeptieren oder gar zu suchen. Das Nichts Gottes folgt der Grammatik des Konditionalsatzes: „Wenn Gott ist, so gilt von seinem Nichts das folgende. Indem wir also das Nichts nur als das Nichts Gottes voraussetzen, führen auch alle Folgen dieser Voraussetzung nicht über den Rahmen dieses Gegenstandes hinaus.”[23] Das „Ichts“ der negativen Theologie ist Gott. Konsequenterweise werden negativ-theologische Sätze durch einen Prozess der „Entwesung“ gebildet. Entwest werden die positiven Begriffe, die als Theologie etabliert worden sind. Das „Mystikerwort Entwesung“ setzt Rosenzweig dem „natürlicheren“ Wort „Verwesung“ dabei fast gleich.[24]

Akzeptiert man, dass allein diese bestimmte Form der Negation zur Wirklichkeit der Wirklichkeiten durchdringt, der Folge des im gesamten Buch unermüdlich durchgearbeiteten Prozesses der „inneren Umkehrung,“ muss es fast schon natürlich erscheinen, dass das Judentum tatsächlich imstande ist, die alles übrige Leben regulierende natürliche Zeit zu transzendieren. Die jüdische Liturgie erreicht dies, indem sie den totalen Verlust, der an ihrem Beginn steht, verwandelt, den Verlust von „Land Sprache Sitte und Gesetz“ (vier Begriffe, die hier entgegen allen Regeln der deutschen Grammatik ohne Kommata aufeinanderfolgen mit dem Gesetz in einer besonderen Position). Diese sind die Ichts des nationalen und kulturellen Lebens der Völker in der Welt. Nachdem das jüdische Volk sie alle verloren hat, hat es sie in geistige Wesen verwandelt und durch Liturgie wieder zum Leben erweckt. Das heißt, die Juden haben ihren Charakter als „ewiges Volk“ nicht trotz der Liturgie gebildet, sondern durch sie. Und ihre Liturgie trennt sie insofern nicht vom Leben, sondern hilft ihnen, sich lebendig zu erhalten.

Das liturgische Judentum, wie Rosenzweig es beschreibt, führt also keineswegs das Leben eines Zombies. Und deswegen vielleicht ist Rosenzweig auch zuversichtlicher als beispielsweise Gershom Scholem, wenn es darum geht, liturgische Gebete in ein feierliches Deutsch zu übersetzen. Er ebenfalls zuversichtlicher als Scholem mit Blick auf die Einführung der heiligen Sprache als Alltagssprache in Erez Israel. Sein Punkt ist dem Fundamentalismus geradewegs entgegengesetzt. Er sagt nur: Da das Judentum bereits alles verloren und gelernt hat, nach allem weiterzuleben, ist es geradezu lächerlich, wenn irgendwer aus den Völkern der Welt versucht, ausgerechnet den Jüdinnen und Juden beizubringen, wie man recht eigentlich „spirituell“ oder „geistig“ lebt. Wenn je eine Kultur „schon da gewesen ist“ (beim Vater ist dafür nur ein anderer, gleichsam mimetisch für Christ: innen verwendeter Ausdruck), dann ist es die jüdische. Sich in der liturgischen Praxis daran zu erinnern, macht niemanden unsterblich. Aber es hilft bei der Vergegenwärtigung eines Begriffs von Ewigkeit, der von dem weltlichen Schicksal nicht berührt wird. Eine so verstandene liturgische Praxis beansprucht auch keineswegs, in ihrem Innersten, ihrem Allerheiligsten, einen Schlüssel zur Lösung weltlicher Probleme zu haben. Es wird jedoch von einigen Schüler: innen des Frankfurter Lehrhauses berichtet, sie hätten den massiven Anschlag Nazideutschlands auf das Judentum in ihren Exilen geistig nur überstanden, weil Rosenzweig ihnen die Augen für die Reichtümer ihrer liturgischen Kultur geöffnet hatte.

Conclusio

Moderne Städte sind heute oft liturgische Wüsten. Der Rückgang ritueller und liturgischer Praxen hat die Menschen insbesondere auf dem Gebiet von Tod, Trauer und der Seelenarbeit der Erinnerung in oft großer Verunsicherung der Urteilskraft und des Gefühls hinterlassen. Oft viel zu schnell versuchen Menschen, die dem Paradigma von Entwicklung und vermeintlich robuster seelischer Gesundheit folgen, nach traumatischen Verlusten „nach vorn zu sehen“ und weiterzugehen. Allzu oft wundern sie sich dann, warum das nicht funktioniert. Liturgie und Erinnerung wie Rosenzweig sie in seiner Philosophie konzipiert, bieten Möglichkeiten, der erschreckenden Tatsache des Todes zu widerstehen, ohne sich in Illusionen zu flüchten oder in einer Art amor fati zu resignieren. Liturgie, als das Handwerk der Erinnerung, löst das Problem der Sterblichkeit nicht (wie dies alle möglichen Ideologien versprechen), sondern sie hilft der Gesellschaft und der Gemeinde, es zu ertragen. Aufrecht zu stehen im Angesicht der über uns alle verhängten Sterblichkeit. Anstatt zu behaupten, sie erlöse die Menschheit vom Problem des Todes, bietet Liturgie – und die Erinnerung, die durch sie geschützt und bewahrt wird – eine Hoffnung eigener Art auf Erlösung.

Kein falsches Versprechen wird gegeben. Keine wahre Hoffnung wird aufgegeben.

[1] Dieser Essay ist aus meinem Vortrag bei der Konferenz „Back to Redemption“ in Jerusalem, Februar 2019, hervorgegangen. Eine erste Veröffentlichung ist in englischer Sprache im Rosenzweig Jahrbuch Nr. 12, Gebet, Erlösung, Praxis, hg. Von Irene Kajon und Luca Bertolino, Verlag Karl Alber, Freiburg 2021, S. 46-59, erschienen.
[2] Wie entstehen neue Rituale, wie gehen alte unter? Diese Frage ist hochumstritten und stellt sich jeder einzelnen freien Dienstleisterin auf diesem Gebiet neu. Ein Vorschein solcher Auseinandersetzungen um die Erfindung neuer Rituale könnte im Hintergrund stehen, wenn Rosenzweig schreibt: „So sind auch die Völker lebendig, indem sie immerfort ihr Heute in neue Sitte, neues Ewig-Gestriges, verwandeln und gleichzeitig aus ihrem Heute heraus neues Gesetz für das Morgen setzen.“ SE, 336.
[3] Für eine allgemeinere, „untheologische“ Definition vgl. z. B. Thomas Bagatzky, Mythos, Weg und Welthaus: Erfahrungsreligion als Kultus und Alltag, LIT Verlag, 2007, 142f: „Das Wort ‚Liturgie‘ […] ist offenbar geeignet […], die in unserem nachaufklärungszeitlich geprägtem Verständnis eher getrennten Bereiche des politischen Handelns und des Gottesdienstes zusammenzufügen.… Liturgisches Handeln soll […] als ein Handeln verstanden werden, das mythische Substanz in Kultus und Weltgeschehen gegenwärtig setzt. Liturgisches Handeln umschließt auch die liturgische Arbeit als eine ‚Teilmenge‘, so dass jegliche liturgische Arbeit auch liturgisches Handeln ist, aber liturgisches Handeln nicht immer auch liturgische Arbeit.“
[4] In einem Brief aus Heidelberg, wo er im Frühjahr 1919 Max Weber und Heinrich Rickert getroffen hatte, schrieb er an Margrit Rosenstock-Huessy: „Gestern bei Rickert – ich merkte wieder wie grundunsittlich (Hans hatte wirklich einfach simpel recht, Max Weber abzuschreiben) auch schon ein bloßes Gespräch mit so jemandem mit dem man nicht sprechen kann wirkt. Man müsste ganz frei sein, um wieder sprechen zu können auch mit solchen.“ Brief vom ersten Mai 1919, in: Inken Rühle/ Reinhold Mayer Franz Rosenzweig (Eds.), Franz Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe, Tübingen: Bilam 2001, 288. Rosenzweig war generell sehr distanziert gegenüber bloß soziologischen Konzepten von Kultur, Religion und Philosophie.
[5] Vgl. die Theoriebildungen um Lawrence Kohlbergs Modell der moralischen Entwicklung.
[6] Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Aus dem Französischen von Wolfgang Nikolaus Krewani, Alber 1987, 42004, 291.
[7] Vgl. dazu eine Tagebuchnotiz von Franz Rosenzweig vom 20.11.1906 (GS I, 65): „Der Privatgelehrte – der Eremit der Wissenschaft – wird mitleidig belächelt, der Ordinarius – der Abt im Kloster – bestaunt und bewundert! […] Die […] Überschätzung des […] Werts der gelehrten Beschäftigung, der Gelehrtenstolz […]: nur durch diese gepanzerte Überzeugung vom Wert der Gelehrtenarbeit ist es zu erreichen, dass, wenn draußen vor dem Kloster einer fragt: ‚Was tuen sie denn dadrin?‘ der andere mit tief respektvollem Ernst ihm erklärt: ‚Sie beten!‘.“
[8] „Die Auszeichnung des Menschen vor dem Tiere […] besteht in dem aufrechten Gang, und demgemäß bezeugt sich die Würdigkeit des Menschen für seine Erlösung von der Sünde in dem zwar demütigen, aber auch ebenso aufrechten Stehen vor Gott.“ Hermann Cohen, RdV 256.
[9] SE 359.
[10] Gerade deswegen erfährt er neuerdings größere Aufmerksamkeit, vgl. z. B. Ephraim Meir, „Rosenzweig’s Contribution to a Dialogical Approach of Identity“, in: Yearbook 11, The „And“ in Franz Rosenzweig’s Work, Freiburg/ München (Alber), 2018, 38-50, wo er schreibt: „The First Part has a descriptive and epic language, the second Part contains a prescriptive and lyric language and the third Part has hymnal language. In the ‚proto-cosmos‘ silence or monologue reign. The ‚cosmos‘ has the living language of love. The language of the ‚hyper-cosmos‘ is that of the liturgical community.” (42). Die Liturgie ist damit in die höchsten Welten aufgestiegen.
[11] An dieser Einschränkung haben moderne und postmoderne Geister in den letzten Jahren immer wieder Anstoß genommen, vgl. z. B. Bob Gibbs’ Bemerkung: „The whole grand scheme of the work depends on this eternity of life, an eternal life that is emplanted within the Jewish community. No idea is more disturbing because it seems blatantly dogmatic, exclusionary, metaphysical, and ethically dangerous.“ Robert Gibbs, „Rolling a Scroll: Jewish History“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Ed., Franz Rosenzweigs ‚neues Denken‘, Bd. II, Erfahrene Offenbarung – in theologos, 982-987, 982f.
[12] „Aber trotzdem kann Verteidigen eine der edelsten menschlichen Beschäftigungen sein. Nämlich wenn es bis auf den Grund der Dinge und der Seelen geht und, auf die kleinen Mittel der Lüge verzichtend, mit der Wahrheit selbst, der ganzen Wahrheit nämlich, ent-schuldigt. In diesem großen Sinn kann auch literarische Apologetik verteidigen. Sie würde dann nichts beschönigen, noch weniger einen angreifbaren Punkt umgehen, sondern gerade die bedrohtesten Punkte zur Basis der Verteidigung machen“. Franz Rosenzweig. Zweistromland. Kleine Schriften zu Religion und Philosophie, Berlin/ Wien 2001, 63-73, 72f.
[13] SE, 337.
[14] Ebd.
[15] SE 338.
[16] SE, 338f.
[17] Über die die Zeit im engeren Sinne betreffenden Aspekte seines Werkes ist viel gearbeitet worden, auch mit Blick auf die Liturgie, vgl. etwa Hans-Christoph Askani: „Die liturgisch gestaltete Zeit …ist eine unvergleichliche, unvordenkbare Erfahrung von Zeit, die das philosophische System in einen Horizont führt, den es einerseits nur empfängt und der andrerseits doch eben sein eigener ist. Ist es möglich, dies in der bekannten philosophischen Begrifflichkeit zu sagen? Evidenterweise nicht. Ist es möglich, dies zu sagen, indem man nur die Erfahrungen dieser gelebten Zeit nachformuliert? Wiederum eben nicht.“ (H.-C. Askani, „Die Gestaltung der Zeit durch die Liturgie im Judentum und Christentum“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Ed., Franz Rosenzweigs ‚neues Denken‘, Bd. II, Erfahrene Offenbarung – in theologos, 956-981, 956f.
[18] Tatsächlich setzt Rosenzweig den Satz „wir aber leben noch immer und leben ewig“ zwischen ein doppeltes Semikolon. Vor dem ersten steht, dass die verlorenen Güter ihnen schon längst aus dem Lebendigen zu Heiligem erhoben sind, und hinter dem zweiten: „mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer darum, doch tief verwurzelt in uns selbst, in unserm Leib und Blut.“ (SE 338f). Diese und ähnliche Stellen sind Teil einer antizionistischen Lesart Rosenzweigs geworden, etwa in Judith Butlers Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism, New York, 2012. Ich glaube, man missdeutet Rosenzweig damit, aber diese Diskussion kann hier nicht angemessen geführt werden. Ich zitiere die Stelle, um zu belegen, wie sehr Rosenzweig das „Äußerliche“ gerade zum unentbehrlichen Medium der „Verinnerlichung“ macht.
[19] Bruckstein hebt die Bedeutung dessen, was da verstummt, hervor: „Im lauten Verlesen des Textes, der Tora, der fünf Bücher, inmitten der hörenden Gemeinde schweigt die Rhetorik des Widerspruchs und der Wechselrede, die Rosenzweig sonst unter dem Stichwort des Sprachdenkens oder auch des ‚neuen Denkens‘ ins Zentrum seiner philosophischen Aussage stellt. Kommentartradition, Dialogdenken, Widerrede, die für Rosenzweig sowohl neues Denken als auch lebendige mündliche Lehre und Lehrhaustradition charakterisiert, schweigen im Hören des verlesenen Wortes im liturgischen Kontext. … Im Schweigen angesichts des laut verlesenen Textes knüpfen die Hörenden an einen Anfang an, dessen Anbeginn wir nicht erinnern können.“ Almut Sh. Bruckstein, „Zur Phänomenologie der jüdischen Liturgie in Rosenzweigs Stern der Erlösung“, in: Martin Brasser (Hg.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum ‚Stern der Erlösung‘, Tübingen, Niemeyer 2004, 357-368, 363f.
[20] Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 31931 (Reprint Olms 1995), 1.
[21] SE, 380.
[22] SE, 421.
[23] SE 27f.
[24] „Beim Wesen fragt man nach dem Ursprung, bei der Tat nach dem Anfang. … Das Gesagte wird sich … schon etwas erhellen, wenn wir, nur zum Vergleich, den umgekehrten Vorgang, das Werden zum Nichts, betrachten. Hier sind ebenfalls zwei Möglichkeiten gegeben: die Verneinung des, um nun einmal den heute zu stark verengten Ausdruck ‚Etwas‘ durch einen unbelasteten zu ersetzen, - also die Verneinung des Ichts und die Bejahung des Nicht-Ichts, des Nichts. Die Umkehrung ist so genau, dass dort, wo auf dem Hinweg das Ja erschien, jetzt das Nein erscheint und umgekehrt. Für die Entstehung des Nichts durch Verneinung des Ichts hat die deutsche Sprache einen Ausdruck, den wir nur von seiner engeren Bedeutung befreien müssen, um ihn hier einsetzen zu können: Verwesung bezeichnet (genau wie das Mystikerwort Entwesung) die Verneinung des Ichts. Für die Bejahung des Nichts aber hat die Sprache das Wort Vernichtung. In der Verwesung, der Entwesung entsteht das Nichts in seiner unendlichen Unbestimmtheit; der verwesende Leib so wenig wie die entwesende Seele streben nach dem Nichts als einem Positiven, sondern einzig nach Auflösung.

Editorische Anmerkungen

*Gesine Palmer, geboren 1960, ist eine deutsche Theologin, Autorin und Journalistin. Sie studierte Pädagogik, Evangelische Theologie, Judaistik, Allgemeine Religionsgeschichte und Philosophie in Lüneburg, Hamburg und Berlin. In den Jahren 1987/88 verbrachte sie ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1996 Promotion zum Dr. phil. an der FU Berlin ("Ein Plädoyer für Paul. John Tolands Theorie des Judenchristentums"). Von 1995 bis 2001 lehrte sie an der Freien Universität Berlin in der Abteilung für Allgemeine Religionsgeschichte am Institut für Evangelische Theologie (Gollwitzer-Haus). Von 2003 bis 2006 arbeitete sie an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg im Projekt "Religion und Normativität". Lehraufträge an der FU Berlin, Universität Potsdam, Universität Heidelberg, Universität Luzern, Evangelische Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 2004 war sie Mitbegründerin der Internationalen Franz-Rosenzweig-Gesellschaft; seit 2005 ist sie Redakteurin der Zeitschrift der Gesellschaft (Rosenzweig Jahrbuch), seit 2012 ist sie auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats.

Ihr obiger Text erschien kürzlich im Bulletin des Vereins der Freunde und Förderer des Martin-Buber-Hauses 1/2021, mit dessen freundlicher Genehmigung er hier wiedergegeben wird.