In der jüdischen Liturgie nimmt die Jona-Erzählung eine herausragende Rolle ein: Die gesamte Jona-Erzählung wird als Lesung aus den Prophetenbüchern (Haftara) an Jom Kippur in der Synagoge verlesen.[1] Es ist damit das einzige biblische Buch, das ein Gemeindemitglied komplett am höchsten jüdischen Fasten- und Feiertag verliest. Dieser liturgische Kontext rückt das Motiv der Umkehr in den Fokus. Die Umkehr Ninives dient jüdischen Gläubigen dabei als Motivation und »Musterbeispiel für eine vollkommene Verbindung von Fasten, Gebet und Abkehr vom Weg des Unrechts.«[2]
In der katholischen und evangelischen Liturgie sind Auszüge des Jona-Buches als Lesungstexte in der jeweiligen Perikopenordnung vorgesehen. In der katholischen Kirche rückt die Lektüre von Jona 3,1-5.10 während der österlichen Fastenzeit die ninivitische und göttliche Umkehr in den Mittelpunkt. Der sechsjährige Lesezyklus der evangelischen Kirche sieht vor, dass Gläubige das gesamte Jona-Buch in der Liturgie hören und in Predigten reflektieren können. Dabei steht das zweite Kapitel des Jona-Buches aufgrund mehrfacher Wiederholung während des Lesezyklus im Zentrum.
Den meisten Christinnen und Christen ist Jona jedoch (auch) aus vielen verschiedenen Kinderbibeln, aus dem Kommunions- oder Konfirmandenunterricht und aus dem Religionsunterricht bekannt. In einer Längsschnittuntersuchung stellt die katholische Religionspädagogin Elisabeth Hennecke heraus, dass die befragten Schüler_innen keine andere biblische Erzählung »so gut und so ausführlich« kennen wie die Jona-Erzählung.[3]
Darüber hinaus ist die Jona-Erzählung und -Figur aus zahlreichen Büchern und Verfilmungen geläufig und dadurch im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verankert.[4]
Jona scheint aufgrund seiner Bekanntheit und Beliebtheit ein leuchtendes Beispiel für den jüdischchristlichen Dialog zu sein. Auch in den Dialogund Arbeitskreisen der Internationalen Jüdisch- Christlichen Bibelwoche war die Jona-Erzählung bereits zweifacher Gesprächsgegenstand: Im Gründungsjahr und erneut anlässlich der 50. Jubiläumsfeier im Jahr 2018.[5]
Doch zunächst wirft die christliche Auslegungsgeschichte dunkle Schatten auf die Jona-Erzählung. Der evangelische Theologe Friedemann Golka hebt in seinem Beitrag Jonaexegese und Antijudaismus aus dem Jahr 1986 hervor, dass der jüdisch-christliche Diskurs über Jona in der Vergangenheit von christlichem Antijudaismus geprägt war.[6] Und auch zehn Jahre später weist der katholische Theologe Erich Zenger darauf hin, dass das alttestamentliche »Jonabuch von den Christen meist zu schnell mit christlicher Brille gelesen wurde und wird«[7] und die christliche Jona-Auslegung »voll von latenten Antijudaismen«[8] ist.
Erstens sind solche Tendenzen im Kontext der alttestamentlichen Auslegung festzustellen: Die Grenzziehung zwischen »den Juden« und »den Heiden« mit Jona als »dem« Vertreter eines partikularen Judentums führte in der christlichen Theologie zu antijudaistischen Auslegungen und ist eindeutig abzuweisen.[9] Nicht zuletzt, weil die Begriffe Juden und Heiden überhaupt kein Bestandteil der alttestamentlichen Erzählung sind. Stattdessen steht die Rede über Gottes Barmherzigkeit und Jonas Ringen damit im theologischen Zentrum der Erzählung. Golka und Zenger resümieren, dass Jona lange Zeit in der christlichen Auslegung als »Symbol des nichtassimilierten Juden«,»als Repräsentant des unbußfertigen Judentums«,[11] als engstirniger Partikularist und Heilsegoist, der den Heiden Gottes Zuwendung nicht gönnt,[12] tituliert und verschmäht wurde.
Zweitens, und in einem noch stärkeren Maße, führte die Auslegung der Jesu-Worte über Jona im Neuen Testament (Mt 12,38-42; Mt 16,1-4; Lk 11,29-32) zu Degradierungen des Propheten Jona im Kontext einer christlichen Überbietungshermeneutik. Gemäß dieser Logik wurde das mehr als (Mt 12,41; Lk 11,32) als Jesus ist mehr wert als Jona gedeutet. Eine Abstufung von Jona als Typos mit Jesus Christus als dem überbietenden Antitypos ist allerdings fehlleitend.[13] Es gibt keine biblischen Textstellen für eine solche Überbietungshermeneutik,[14] und der Begriff Antitypos kommt weder im Matthäus- noch im Lukasevangelium vor. Auf das mehr als folgt kein Vergleichssubjekt im Nominativ: »Und siehe, hier ist mehr als Jona.« (Mt 12,41; Lk 11,32) Es ist eine Überhöhung ohne Präzision.[15] Typos ist kein Gegenbegriff, stattdessen schafft dieses neutestamentliche Konzept Relation und Kontinuität zu den alttestamentlichen Schriften. Die typologische Verknüpfung von Jona und Jesus betont Jesu Verortung in der Heilsgeschichte Israels. Dabei ist stetig hervorzuheben, dass das Alte Testament als bedeutender Bestandteil des christlichen Kanons Anerkennung erfährt und die Hebräische Bibel zugleich auch als Glaubensdokument für Jüdinnen und Juden von christlichen Gläubigen wertgeschätzt wird.
Der Blick zurück auf die christliche Auslegungsgeschichte kann und muss wertvolle, wichtige Reflexionsanlässe anstoßen. Jesu Umkehrruf in den neutestamentlichen Jona-Perikopen richtet sich über die angesprochenen Erzählfiguren hinaus auch an alle Leser_innen, von ihren eigenen bösen Wegen umzukehren. Die Schreckenserfahrungen derSchoah verpflichten Christ_innen in besonderem Maße, von vergangenen Überlegenheitsansprüchen umzukehren.[16] Jona ist Zeichen der Versöhnung und Umkehr, wie sowohl die jüdische als auch die christlichen Liturgien durch eine Platzierung der Lesung am jüdischen Fasten- und Versöhnungstag Jom Kippur und während der christlichen Fastenzeit unterstreichen.
Eine christliche Lektüre der Jona-Erzählung und der Bibel insgesamt muss Tendenzen von Überbietung, Verwerfung und Vereinnahmung der alttestamentlichen Schriften entgegenwirken. Die dialogische Form der zwei-einen-Bibel führt Christ_innen als »ein Wink Gottes«[17] vor Augen, dass sie die eigene christliche Religion immer auch in Begegnung und Austausch mit anderen Religionen verstehen. So eröffnet die Jona-Erzählung und -Figur eine herausragende Chance im jüdischchristlichen Dialog, an die in einem nächsten Schritt auch im jüdisch-christlichen-muslimischen Trialog angeknüpft werden kann, da Jona nicht nur eine beliebte und bekannte Erzählung in der Bibel, sondern auch im Koran ist.[18]