Ernst Ludwig Ehrlich
Leo Baeck – der Mensch und sein Werk
Leo Baeck, geboren am 23. Mai 1873, gestorben am 2. November 1956, kann man nicht adäquat ohne den Blick auf seine Zeit und sein Werk darstellen. Die Bedeutung seiner Persönlichkeit tritt erst ans Licht, wenn man versucht, ihn als einen der großen Lehrer des Judentums zu beschreiben – der er gewesen ist. Nur so ist auch seine Wirkung und Ausstrahlung zu verstehen und die Stärke der Erinnerung, die die Menschen an ihn haben, die mit ihm zusammengetroffen sind. Daher soll hier der Versuch unternommen werden, einige Seiten seines Wesens und seiner Arbeit, seiner Leistung und seines Schicksals zu beschreiben. Alles gehört zusammen. Das Heraustrennen nur des Schicksals würde der Persönlichkeit nicht gerecht. Nur die Darstellung seiner Schriften hingegen, würde ein unvollkommenes Bild von dem Menschen vermitteln, der aus diesen Schriften auch heute noch zu uns spricht.
Seine Persönlichkeit enthielt all das, was das Beste des deutschen Judentums in sich aufgenommen und ausgedrückt hat. Wenn wir hier die Größe seiner Persönlichkeit andeuten wollen, so meinen wir damit nicht, dass er etwa einfach und geradlinig gewesen wäre. Gerade die Paradoxe kennzeichnen dieses eine Leben und damit auch diese geistige Epoche der Juden am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Leo Baeck bekannte sich zwar zum deutschen Judentum; er wurde aber, als Nachkomme mährischer und ungarischer Juden, 1873 in Lissa in der Provinz Posen geboren. Posen war damals das Eingangstor zum lebendigen, pulsierenden ungebrochenen osteuropäischen Judentum, das den Bewohnern dieser preußischen Provinz ständig vor Augen stand, und das sie zugleich anzog und abstieß. Das deutsche Judentum hatte eine offene Grenze nach Osten: Ein Fünftel der so genannten ,deutschen Juden‘ hatte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit; kein geringer Teil der Studenten der deutschen Rabbiner kam aus Osteuropa.
Baeck wurde zwar später ein so genannter ,liberaler" Rabbiner, aber er hatte in seinem Vaterhaus die jüdische Tradition in ihrem Tiefsten ernst zu nehmen gelernt, so ernst wie nur einer, der sich nicht ausdrücklich zur liberalen Richtung bekannte. Baeck war seiner ganzen geistigen Gestalt nach ein deutscher Jude – Feldrabbiner im 1. Weltkrieg – aber er hatte es stets vermieden, sich den Zweideutigkeiten dieses deutschen Judentums anzuschließen. Als einer der wenigen politischen Nichtzionisten der Zwanzigerjahre wirkte er führend im Keren Hajessod, dem Aufbauwerk Palästinas, weil er eine tiefe Liebe zum Lande der Väter empfand. Baecks Bekenntnis zu Palästina erfolgte schon früh, früher jedenfalls als man vielleicht vermuten könnte. In dem bereits im Jahre 1917/18 in Bubers Zeitschrift „Der Jude“ erschienenen Aufsatz „Lebensgrund und Lebensgehalt“ heißt es:
„Man hat bisweilen draußen und drinnen gespottet über den Gedanken des freien jüdischen Hauses im Lande der Väter; aber er hat doch, wenigstens, den großen Zug, und es wäre ein großer Tag, wenn die Stätte entstünde, welche suchende Körper und suchende Seelen aufnehmen will. Ja, mag das jüdische Dasein sich in ihm betonen wie immer – wenn es nur eben ein großer Gedanke, der aus dem Engen und Kleinlichen herauszuführen vermag, um eine Zukunft zu zeigen. Wir brauchen ihn, um unseres Lebens und unseres Weiterlebens willen.“
Wir sprachen vorhin von den Paradoxen in Baecks Leben und Denken. Dazu gehörte auch, dass man ihn in eine Rolle gedrängt hatte, die seiner Persönlichkeit eigentlich nicht entsprach, der des ‚Kirchenfürsten‘. Was er eigentlich sein wollte, hat er sich auf seinen Grabstein setzen lassen: „mi gäsa rabbanim“,ein Zweig in der Reihe rabbinischer Generationen, einer in der langen Kette von vielen: ein Rabbiner. Baeck war mit jeder Faser seines Seins Rabbiner, in einer solchen Totalität, wie nur irgend ein Amtsbruder des Ostens es gewesen sein kann, in einer bei ihm sonst eher seltenen Intoleranz gegen Berufskollegen, die nicht dem Ethos genügten, das er für einen Rabbiner des jüdischen Volkes aufgestellt hatte. Aber er war zugleich, zumal auch für die nicht-jüdische Welt, ein Grandseigneur, der gentleman, der sich niemals einem geistigen Ghetto zugehörig fühlte und die Frömmigkeit nicht nach der Länge des Gebetsmantels und der Größe des Käppchen maß.
Baeck hat wie selten ein Jude vor ihm ohne jede Scheu seine kritische Haltung gegenüber christlichen Gedankengebäuden geäußert, und er war zugleich ein gerade von Christen anerkannter und gesuchter Partner im christlich-jüdischen Gespräch, das er bereits im Jahre 1901 begonnen hatte. Damals trat er auf den Plan, als er erkannte, dass Harnack in seinem Buch „Wesen des Christentums“ die jüdische Wurzel des Christentums zu bestreiten versuchte.
Baeck war ein Wissenschaftler, Dozent an der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, aber in der Stunde der Gefahr berief man ihn an die Spitze der höchsten politischen Vertretung, die man im Jahre 1933 den Juden in Deutschland zugestand, und noch im Konzentrationslager Theresienstadt glaubten seine Mithäftlinge des Rates des zunächst abseits Stehenden nicht entbehren zu können.
Baecks Lebensweg als ‚deutscher‘ Jude
Baecks Lebensweg begann zunächst wie der eines begabten jungen Juden in Deutschland. Es war die Zeit, in der man eine Synthese zwischen Deutschtum und Judentum schaffen wollte, in der das Wort ‚und‘ für viele noch keine Problematik in sich zu bergen schien. Baeck hat später diese Epoche mit einem Wort Rankes gekennzeichnet: „Das Größte, was dem Menschen begegnen kann, ist es wohl, in der eigenen Sache die allgemeine zu verteidigen.“ Das war der Weg der deutschen Juden in den Jahrzehnten vor dem Untergang.
Versuchen wir kurz am Leben Leo Baecks diesen Weg aufzuzeigen: Studium in Breslau an der Universität und am dortigen Rabbinerseminar, das eine konservative, nicht orthodoxe Richtung aufwies. Dann, wenige Jahre später, Übersiedlung nach Berlin, wo er an der Universität und an der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ (1872 gegründet) studierte. 1895 Promotion bei Dilthey und Paulsen mit einer Arbeit über „Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland“. Zwei Jahre später Rabbiner in Oppeln, 1907 Rabbiner in Düsseldorf, schließlich ab 1912 Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin und Dozent an der Lehranstalt. Diese war nicht nur eine Rabbinerausbildungsanstalt, sondern in ihr sollte für Interessierte das weite Feld der Wissenschaft des Judentums behandelt werden.
Wir haben hier kurz Stationen eines Lebensweges verzeichnet; es muss aber noch ein Wort über die erwähnten Institutionen in Breslau und Berlin gesagt werden. Im Zuge der bürgerlichen Emanzipation der Juden und des geistigen Strebens nach den europäischen Kulturgütern entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland die so genannte ‚Wissenschaft vom Judentum‘. Ihre vorzüglichsten Pflegestätten waren die beiden genannten Anstalten in Breslau und Berlin sowie das orthodoxe Berliner Rabbinerseminar.
Wissenschaft vom Judentum
Was bedeutet Wissenschaft vom Judentum? Es bedeutet zunächst die Beschäftigung mit dem Judentum als Gegenstand der Wissenschaft. Das sollte an sich eigentlich selbstverständlich sein, war es jedoch nicht, da die Juden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch in einem geistigen Ghetto lebten und weder den Willen noch die Möglichkeit hatten, das Judentum wissenschaftlich, das heißt historisch-kritisch, zu erforschen. Bis zum 19. Jahrhundert hatte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum meist in christlichen Händen gelegen. Das ergab nicht selten eine Verzerrung des Bildes, gelegentlich aus Unkenntnis der hebräischen Quellen, gelegentlich auch aus christlich-apologetischen Motiven, wenn nicht gar aus verhülltem oder unverhülltem Antisemitismus – man sah im Judentum oft nur eine Vorstufe zum Christentum. Grätz und Frankel in Breslau, Zunz, Steinschneider und Geiger in Berlin waren die großen Forscher jener frühen Epoche jüdischer Wissenschaft, deren geradlinige Nachfolge auf seine Art Baeck angetreten hat. Wissenschaft vom Judentum war für diese Menschen nicht ein toter Gegenstand, nicht, wie Nietzsche es einmal formuliert hat: „antiquarische Geschichte“, sondern sie alle wollten mit ihrem Suchen und Forschen Antwort auf die Fragen geben, die in ihnen hervorgebrochen war: Wer bist du? Und wodurch bist du der geworden, der du bist? Und um wessentwillen und wofür bist du es? Die Geschichte war so zu neuem Leben erwacht. Hier wurde also die Modernisierung des Judentums vorgenommen. Philologie und Edition von Texten standen am Anfang im Vordergrund. Damit stellte sich auch das Problem des Geschichtlichen. In einer sich säkularisierenden Welt sollte die Wissenschaft des Judentums eine Affirmation des Jüdischen schaffen. Gerade aus der Beschäftigung mit der Wissenschaft ergab sich für Baeck ein vierfaches Verständnis des jüdischen Phänomens: Geschichte, Glauben, Gerechtigkeit und Hoffnung.
Die Beschäftigung mit der Geschichte zog ein sehr schwer wiegendes Problem nach sich: nämlich das der geschichtlichen Entwicklung des Judentums, ein Problem, dem strenggläubige Geister aller Religionen nicht eben wohlgesinnt sind. Darf die Offenbarung Gottes als zeitlichem Wandel unterworfen gedacht werden? Es war die Frage nach dem Substanziellen und dem Akzidentiellen, dem der Veränderung notwendig Unterworfenen. Für das Judentum war es eigentlich keine völlig neue Frage: Sie hatte sich indirekt bereits dem alten Israel gestellt, als es in die Welt Kanaans hinein gewachsen war; sie tauchte erneut auf in der persischen, in der hellenistischen, in der römischen und in gewisser Weise auch in der arabischen Epoche. Baeck versuchte eine Antwort darauf als moderner Jude zu geben: Er erkannte, dass Starrheit Erstarrung bewirkte, Entfremdung zwischen jenen teilweise aus mythischem Denken stammenden Begriffen und dem modernen, nicht mehr im mythischen Weltbild lebenden Menschen. Und so erkannte Baeck, dass in all der Vielgestaltung jüdischen Denkens, Glaubens und Erfahrens im Grunde zwei Gedanken das Judentum charakterisieren: Das Eintreten des einen Gottes in die Welt der Vielheit, und das Gebot dieses einen Gottes – oder wie Baeck es formuliert:
„Glauben ist kein gebotener Glaube, sondern ein gebietender Glaube. Er ist nicht ein gefordertes Fürwahrhalten, weder Orthodoxie noch Ekstase, sondern er ist die Wahl des Standortes und damit des Weges: ‚So Du willst, wahrst Du das Gebot; Glauben ist, seinen Willen zu tun‘, wie es in dem alten jüdischen Weisheitsbuch des Jesus Sirach heißt.“
Oder in einer anderen, späteren Formulierung, die sich in seinem letzten Werk findet, dessen Erscheinen er nicht mehr erlebt hat:
“Der Mensch erwartet gleichsam Gott, und Gott erwartet den Menschen. Die Verheißung spricht hier, und die Forderung spricht hier, beides in einem: die Gnade des Gebotes und das Gebot der Gnade. Beides ist eines in dem einen Gotte. Um den einen Gott ist die Verborgenheit; Er offenbart sich nicht selbst, aber er offenbart das Gebot und die Gnade, und Er, der Ewige, hat damit den irdischen Menschen eine Freiheit des Willens gegeben und ein Ziel des Willens gezeigt. Aber das Letzte bleibt dem Menschen verhüllt. Um Gott ist das Geheimnis. Er ist nicht der offenbarte Gott, aber er ist der offenbarende Gott. Und wo immer in einem Menschen die große Ehrfurcht und aus ihr erwachsend die große Bereitschaft lebt, dann ist er und dort ist er in einer Nähe zu Gott. Durch jene zwei Sätze hat dieses Volk sich zu Gott und zu sich selber bekannt: Höre, Israel: Er, der ist, ist unser Gott, Er, der ist, ist Einer. Das ist der Satz der großen Ehrfurcht, in der die Gewissheit des Glaubens wohnt. ‚Und liebe Ihn, der ist, Deinen Gott, mit Deinem ganzen Herzen und mit Deiner ganzen Seele und mit Deinem ganzen Können‘, das ist der Satz der großen Bereitschaft, in der sich der Mensch für Gott entscheidet. Gott ist unser Gott, das ist die Verheißung, die Gnade, in der das Gebot seinen Grund hat. Liebe Ihn, Deinen Gott, das ist das Gebot, aus dem neue Gnade wieder zuströmt. Zwei Sätze sind es, aber sie sind nicht nur Sätze, sie sind die Geschichte des Volkes.“
Geheimnis und Gebot
Wollen wir die Baeckschen Grundgedanken in drei Worte zusammenfassen, so können wir das mit dem Titel eines seiner wichtigsten Aufsätze aus den zwanziger Jahren tun: “Geheimnis und Gebot“. Um diese beiden Begriffe kreist das gesamte Denken Baecks. Er hat erkannt, dass jedes biblische Gebot unvollständig ist, jedes “Du sollst!“ seinen eigentlichen Sinn verliert, wenn man den ihm nachfolgenden Satz nicht beachtet, der lautet: „So spricht der Ewige!“ Die Ethik des Judentums hat ihre Wurzel in Gott. Das Judentum hört auf, wo sich das Gebot mit sich zufrieden gibt und es nur ‚Gesetz‘ ist, wo der Mensch alles gesehen zu haben meint, wenn er nur den Weg des Gesetztes sieht. In der Geschichte des Judentums hat der Weg des Gesetzes oft eine Antwort auf die Stunde geben können. Es ist die Antwort, die man in dem großen mittelalterlichen Gesetzeskodex des Schulchan Aruch findet. Aber der tief in der Tradition des Judentums wurzelnde Baeck hat zugleich erkannt, dass die Wirkung, die der Schulchan Aruch ausübte auch bedenklich sein kann. Obwohl er das Festhalten am Judentum weitgehend erleichtert, ja in der Vergangenheit sogar ermöglicht hat, ist es doch ein Buch der Antworten, der abschließenden Bescheide. Das jüdische Volk hingegen ist ein fragendes Volk. Es ist ein Volk, vor dem, wie Maimonides gesagt hat, die Tore des Suchens und Forschens niemals verschlossen sind.
Ein Buch der abschließenden Bescheide bildet für jede Religion eine Gefahr, die Gefahr nämlich eines rechtgläubigen Stillstands oder eines rechtgläubigen Hochmuts. Das Gefühl einer geistigen oder moralischen Saturiertheit konnte sich bisweilen einschleichen. Man möchte im Religiösen und im Geistigen meinen, am Ziel angelangt zu sein. Aber Judentum ist auch nicht dort, wo der Glaube sich mit sich selber, mit dem Geheimnis begnügt – gebotlose Religion ist nicht Judentum. Von hier ergibt sich ohne weiteres Baecks Abgrenzung vom paulinischen Christentum. Paulus hatte den Weg des Judentums verlassen, als er das sola fide predigte und damit zu Sakrament und Dogma gelangte. Da ihm das Geheimnis alles sein sollte, nicht nur das Verborgene, sondern auch das Offenbarte, so ist es schließlich zu Sakrament und Dogma geworden. Mit dieser Auffassung hat Baeck Ärgernis bei christlichen Theologen erregt, denn er zog einen klaren Trennungsstrich zwischen dem alten Evangelium, das von dem Juden Jesus von Nazareth spricht, und der paulinischen Predigt. In dem erwähnten Aufsatz „Geheimnis und Gebot“ heißt es bereits – Baeck hat das später in seinem Evangelienbuch noch näher begründet:
„Das Evangelium, jenes alte Evangelium, das noch nicht zum Kirchlichen und zum Gegensatz gegen das Judentum überarbeitet war, gehört noch ganz in das Judentum hinein und zum Alten Testamente hin, so wie es in der Sprache des jüdischen Landes geschrieben war und in das jüdische Schrifttum hinein gehört. Jesus und sein Evangelium können nur aus dem jüdischen Denken und Fühlen heraus, vielleicht ganz darum nur von einem Juden verstanden werden, ähnlich wie seine Worte in ihrem ganzen Inhalt und Klang gehört werden, nur wenn man sie in die Sprache, in der er sprach, zurückführt. Die Grenze, die das Judentum scheidet, beginnt bei der paulinischen Predigt, dort, wo das Geheimnis nur ohne das Gebot, der Glaube nur ohne das Gesetz sein will.“
Der genannte Aufsatz stellt den Extrakt von Baecks Hauptwerk dar, das er einst als Antwort an Harnack geschrieben hatte: „Wesen des Judentums“. Es ist, seit dem Jahre 1925 nicht mehr verändert, in mehrere Sprachen übersetzt worden und darf als klassische Selbstaussage des modernen Judentums gelten. Es ist ein Buch über den einen Gott und sein Gebot, aber auch ein Buch über die große Hoffnung, denn neben die Gedanken von der Geschichte und der Gerechtigkeit tritt jener der Hoffnung, die Zukunft des Judentums. Denn diese hat Baeck dem Judentum immer vorbehalten, und eigentlich nur ihm allein. Da das Judentum eine Zukunft hat, so hat es auch eine Mission; Mission jedoch nicht im Sinne einer Proselytenmacherei, wohl aber als Botschaft an die Welt, dass am Ende der Tage Gott als Einziger König über die ganze Erde sei, wie es im Alenu-Gebet heißt. Christlich-jüdische Zusammenarbeit verstand Baeck so, dass der jüdische Partner darin ganz und ohne jeden Kompromiss das Eigene vertritt. So scheute er sich auch nicht, vor Kreisen zu sprechen, denen Missionsabsichten gegenüber Juden nicht fremd waren. Er legte darauf Wert, bei denen, die das Judentum als überholt betrachteten, Botschaft und Bekenntnis abzulegen: In einer solchen Rede heißt es u.a.:
„Judentum und jüdisches Volk sind das Mysterium. An ihnen kann man begreifen lernen, was in der Menschheit und ihrer Geschichte das Geheimnis ist. Wer aber das Mysterium ahnt, der wird nur mit Ehrfurcht vom Judentum und vom jüdischen Volk sprechen. Er wird nie meinen, im Rate des ewigen Gottes zu sitzen, er wird nicht seine kleinen, irdischen Gedanken als die Gedanken Gottes hinstellen. Er wird auch nicht, um etwas, was verübt worden ist oder verübt werden soll zu legitimieren, von göttlichen Schöpfungsordnungen reden. Er wird sich auch nicht vermessen, wenn sich die Sünde in der Welt erhebt und ihr rohstes und erstes Verbrechen immer wieder gegen das jüdische Volk begeht, dann hochmütig lästernd zu sagen, dass Gott dieses Volk verworfen, es als Zeichen der Verdammnis hingestellt habe; wer so redet, müsste dann auch die, die für den Glauben, den er selber bekennt, verfolgt, getötet worden sind, als die von Gott Verworfenen, die Verdammten erklären. Juden mussten vieles erdulden, Märtyrer, Zeugen Gottes sind sie immer wieder geworden, und wenn die Wunden tief waren und bluteten und zuckten, so war doch eines immer nur bewiesen worden, welch satanischer Geist in den Foltermeistern und ihren Knechten gewesen ist. Man kann in der Tat nicht Jude sein, ohne den Willen zum Martyrium, ohne diesen Willen, vor den kleinen Menschen auch als Verworfene dazustehen.“
Es war von der Zukunft die Rede, von der Hoffnung, die neben dem Geheimnis und dem Gebot das Judentum konstituiert. Die Hoffnung des Juden erwächst aus der Gerechtigkeit, der Liebe und der Demut. Ist der Mensch Gottes Ebenbild und ist ihm aufgetragen, das Gute zu verwirklichen, dann folgt daraus, dass das Gute in der Zukunft siegen wird. Was Gott von dem Menschen verlangt, muss ausführbar sein. Die messianische Spannung des Judentums liegt im Wissen um die Verheißung und in der Erwartung der Erfüllung. Das Messianische ist die Vollendung und Erfüllung im Ringen um die Verwirklichung, die dem Heute ihre Rechtfertigung gibt. Glaube ohne Tora (hier im Sinne einer von Gott dem Menschen gestellten Lebensaufgabe), wäre Einkapselung: Es gibt einen unfruchtbaren Glauben, der sein Messianisches bald verliert. Tora ohne Glauben wäre äußerliches Hin und Her. Es gibt eine Vielgeschäftigkeit, ein Tun ohne Inhalt, und darin verschwindet das Messianische. Das Messianische ohne Tora würde zur bloßen Schwärmerei, zur Flucht vor dem Gebot. Aber, so müssen wir nun fragen: Was bedeutet eigentlich dieser Begriff des ‚Gebots‘, was beinhaltet er, kann man ihn in irgendeiner Weise konkret fassen? Gibt es ein Gebot, das alle mit einschließt, alles umfassen könnte? Bei dem Versuch nun, die ethische Grundkategorie zu finden, steht Baeck auf dem Boden der jüdischen Tradition, die im Pentateuch beginnt, von den Propheten weitergeführt wurde und in der auch zum Beispiel Jesus stand. Die Antwort auf diese alte Frage lautet: Im Gebote war die Gerechtigkeit gefordert. Für das Judentum bedeutet Gerechtigkeit die religiöse Dynamik des Lebens. Gerechtigkeit ist keine Methode, sondern ein Ziel, sie muss immer wieder erworben, wieder geboren werden. Sie kann nicht allein durch Regeln festgelegt werden, noch erschöpft sie sich in bloßer Mildtätigkeit, gerade diese kann so oft den Sinn für Gerechtigkeit einschläfern; äußerliches Mitleid dient zur Beruhigung des Gewissens derjenigen, die in Wahrheit die Ungerechtigkeit bejahen.
Der charakteristische Unterschied israelitisch-jüdischer Gerechtigkeit zu derjenigen der Israel umgebenden Völker lag darin, dass biblische Gerechtigkeit vom Standpunkte und im Hinblick auf den Kleinen, den Schwachen, den Gebeugten konzipiert wurde. Wogegen das Judentum im Laufe seiner Geschichte gekämpft hatte, war nicht allein der Polytheismus, sondern die zweifache Moral: die Moral für den Mächtigen und Großen und die Moral für den Kleinen, den Gebeugten, den Abhängigen. Gewiss gibt es in der göttlichen Schöpfungsordnung Geheimnisse, wovon eines ist, dass Menschen auf Erden ungleich sind, obwohl sie geboren wurden, um gleich zu sein. Die jüdische Antwort darauf ist, dass es nur eine Gerechtigkeit im Namen des einen Gottes gibt. Diese Gerechtigkeit jeden Tag neu zu bezeugen ist der jüdische Anruf an die Welt. Aus dem Begriffe der Gerechtigkeit folgt der des Mitmenschen. Es ist das Wissen um die historische Größe des Judentums, wenn Baeck feststellt, dass erst das Judentum den Mitmenschen wirklich entdeckt hat. Das Ich und das Du, Ich und der Andere werden im Judentum zu einer religiös-ethischen Einheit. „Wer dem Geringen Gewalt antut, der lästert desselben Schöpfers, aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott!“, heißt es in den Proverbien. Das bedeutet doch, dass der Andere mir so anvertraut ist, dass er „mein Anderer“ wird. Im Zeitalter des moralischen Verfalls könnten diese Gedanken eine gewichtige Botschaft an die Welt sein. Baeck ist hier zweifellos von einem Begründer der neukantianischen Schule, von Hermann Cohen, beeinflusst, wie überhaupt seine ganze Denkstruktur Cohen ähnlich ist.
Wege im Judentum
Derartige Vorstellungen über Judentum aus der Geschichte Israels her zu begründen, dienten eine Reihe historischer Arbeiten Baecks. Vor allem ist sein Büchlein über die Pharisäer zu nennen. Es gibt leider auch heute noch das Vorurteil, die Pharisäer seien Menschen oberflächlicher Religion oder – wie der Volksmund sie nennt – ‚Heuchler‘ gewesen. Baeck weist die tendenziöse Färbung dieses Begriffes und dieser jüdischen Volksbewegung zurück und zeigt die Frömmigkeit der jüdischen Lehrer auf, die selbst schon, längst vor der Polemik gegen sie in den Evangelien, sich gegen die ‚Gefärbten‘ in ihrer eigenen Mitte gewandt hatten. So heißt es in Baecks Pharisäer-Buch:
„Im Pharisäertum ist der großartige Versuch gemacht worden, die Religion ganz zur Religion des Lebens zu machen, des Lebens des Einzelnen und der Gesamtheit, damit die Religion nicht nur neben dem Menschen, neben der Gemeinschaft, neben dem Staate einhergeht. Mit dem Gedanken der Heiligkeit ist hier Ernst gemacht worden, unbedingter Ernst mit der Forderung, jeden Tag, auch den Alltag zur Idee hinzuführen mit der Forderung, in der die Pharisäer ihre Aufgabe und ihr Recht fanden: ‚Ihr sollt euch heiligen und heilig sein‘ – ‚ihr sollt peruschim, Abgesonderte, sein!‘ Der heroische Versuch ist hier unternommen worden, dem Gottesreiche den Boden zu bereiten. Der Name gehört einer Vergangenheit an; was er in seinem Gebote, das er enthält, bezeichnen wollte, ist ideale Wirklichkeit geblieben.“
An der Behandlung der Pharisäer in der modernen historischen und theologischen Wissenschaft kann man ersehen, ob ein Autor historisch kritisch denken kann, oder nur überkommene Vorurteile abschreibt. In seiner Arbeit: „Das Evangelium als Urkunde der Jüdischen Glaubensgeschichte“ versucht Baeck, die ursprünglichen jüdischen Schichten der Evangelien bloßzulegen und zu zeigen, dass Jesus noch in den weiten Rahmen des Judentums hinein gehört. Erst Spätere, und hier vor allem Paulus, hätten nicht nur den Schritt aus dem Judentum vollzogen, sondern auch in entscheidender Weise das jüdische Jesusbild den eigenen Bedürfnissen angepasst: diese Bedürfnisse ergaben sich durch das Eindringen der Heiden in die junge Christengemeinde. Ein trennendes Moment musste nun dadurch gefunden werden, dass man den Gegensatz zwischen Jesus und den Pharisäern betont, die jüdischen Züge Jesu mindert und nicht die Lehre Jesu in den Mittelpunkt stellt, sondern eine Lehre von ihm, einen Glauben an ihn. Mit dieser jüdischen Jesusinterpretation steht Baeck nicht allein. Seinen Standpunkt teilen im wesentlichen Martin Buber und Joseph Klausner und hier hat sich überhaupt im Laufe der letzten Jahrzehnte ein Wandel innerhalb der jüdischen Forschung bemerkbar gemacht.
Baecks Lehrfach an der „Lehranstalt“ war vor allem der Midrasch, die rabbinische Deutung der hebräischen Bibel, verbunden mit der spätantiken jüdischen Religionsgeschichte. Die Arbeiten über die Pharisäer und die Evangelien stehen im großen Zusammenhang von Baecks Forschungen über den Midrasch. Er sah in der Haggada nicht etwa, wie man meinen könnte, eine literarische Gattung des Erzählgutes, sondern die spezifisch jüdische Ausdrucksform der weltanschaulichen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Für ihn tritt im Judentum an die Stelle des Dogmas, beziehungsweise einer ausgearbeiteten Theologie, die Haggada, die erzählerisch-legendenhafte Deutung. Neben diesen wissenschaftlichen Arbeiten über die Religionsgeschichte Israels ist hier vor allem ein Werk zu nennen, das in mancher Beziehung vielleicht Baecks persönlichstes ist. Es sind die „Wege im Judentum“. Diese eher philosophischen Abhandlungen wurden für die Zeitschrift des Grafen Kayserling verfasst; in dessen Kreise hatte Baeck versucht, Aufgabe und Gestalt des Judentums darzustellen, mit den Themen: „Vollendung und Spannung“, „Tod und Wiedergeburt“, „Geheimnis und Gebot“. In diesem Bande ist auch ein 1932 geschriebener Artikel „Das Judentum“ enthalten. In ihm finden wir einen Satz, der offenbar die kommende Katastrophe schon ahnen läßt:
„Im Judentum ist eine Kunde aus alten Tagen, dass auch Völker und Staaten vor den Richterstuhl Gottes gerufen werden für das, was sie getan, für das, was sie versäumt, dass die Völker der Erde werden Rechenschaft ablegen müssen für das Geschick des Judentums in ihrer Mitte.“
Blättern wir weiter in diesem Buche! Es findet sich darin ein Artikel über Spinoza: „Motive in Spinozas Lehre“. Baeck war Spinoza seit seiner Dissertation trotz aller Verschiedenheit immer verpflichtet geblieben. Er versucht darzulegen, dass Spinozas Pantheismus notwendigerweise nicht mit der Lehre von dem einen Gott im Widerspruch zu stehen brauche. Und in einem hat Baeck ganz offenbar sich mit Spinoza verwandt gefühlt: In der Einheit zwischen dem eigenen Leben und der vertretenen Lehre. Spinozas asketische Züge sind Baeck immer vorbildlich erschienen. Das den Menschen in seinem freien Tun beschränkende Gebot soll Teil einer jeder Religion innewohnenden Askese sein, einer freiwilligen Beschränkung, um im Genuss und in der Maßlosigkeit das eine Ziel und den einen Weg nicht zu verlieren. „Sein Leben war Zeugnis für seine Lehre“, so schrieb Baeck über Spinoza. Und auch Baecks Leben darf man diesen Zeugnischarakter zubilligen.
Dann finden wir einen Aufsatz über Moses Mendelssohn. Er steht für das europäische Judentum der Neuzeit am Anfang. Typisch für Baeck ist in diesem Zusammenhang der Satz:
„Ein bestimmter Schritt ins Neue hinaus und eine konservative Zurückhaltung brauchen nicht zueinander im Widerspruch zu sein.“
Heute pflegt man eine solche Haltung ‚Weltkonservatismus‘ zu nennen. Wir erinnern uns dabei einer häufig wiederholten Bemerkung Baecks: „Es gibt kein Judentum ohne die jüdische Tradition.“ Weltweiser und Jude zu sein ist Mendelssohns Anliegen gewesen. Er vereinigte Philosophie und Frömmigkeit, wollte Philosoph und Jude sein. Er war nicht bloß der Aufklärer und auch der Jude, sondern er war ohne Einschränkung und ohne Zugeständnis das eine wie das andere, der europäische Philosoph und der „Stockjude“. Nicht ein Kompromiss, sondern die Bildung einer neuen Persönlichkeit, eine Selbstschöpfung offenbart sich uns hier. Mendelssohn hatte gezeigt, wie ein Jude, der sich treu blieb, der von seinem Judentum nicht abdankte noch von ihm etwas fortnahm, im neuen Europa aufrecht auf seinem Platz stand. Baeck legt seinen eigenen Zeitgenossen dar, was auch sie von Mendelssohn lernen können: Von ihm sollten sie lernen, dass sie dem großen Ganzen dienen, nicht indem sie ihr Innerstes und Tiefstes, den besonderen Charakter und den Wert aufgeben, begrenzen oder mindern, sondern dadurch erst, dass sie ihr Eigenstes mit seinem ganzen Reichtum in das Ganze, in den Staat, in die Menschheit einfügen. Ganz an sich festhalten und dadurch erst sich hingeben können, niemals von sich fortgehen, und dadurch es eben vermögen, aufrichtig und aufrecht in der Gemeinschaft zu stehen!
Im geistigen Zusammenhang mit diesem Mendelssohn-Aufsatz steht ein anderer über Franz Rosenzweig, den großen jüdischen Religionsphilosophen aus den Zwanzigerjahren. Der Aufsatz gilt ebenso dem Gedächtnis Franz Rosenzweigs als auch vor allem einer Auseinandersetzung mit einem falsch verstandenen jüdischen Liberalismus, von dem Rosenzweig einst ausgegangen war. Der Liberalismus hatte gesiegt und wusste nun nicht mehr, wofür er eigentlich gesiegt hatte. Die scheinbar so erwiesene und so erledigte Frage nach der Bildung, und darüber hinaus nach der Religion und nach dem Judentum trat nun vor jeden, der nachzudenken begann, als eine neue Frage, als die Frage hin. Und Baeck zeigt, wie Franz Rosenzweig als Antwort auf die entscheidende Frage den Weg zum jüdischen Lernen, zur inneren Sicherheit und zur Lehre gegangen ist. Und wieder kommt Baeck, nun von einem ganz anderen Punkt her, zu der Erkenntnis, dass nur der Jude, der im Bunde Gottes lebt, innere Kraft und inneren Halt erfährt. Aus der Religion heraus wird er wahrhaft der Mensch seiner Heimat, seiner Geschichte. Auch darum hat es seine Bedeutsamkeit, dass Franz Rosenzweig, wenn er von seinem Deutschtum nachdenkend sprach, zuletzt immer von seinem Judentum gesprochen und gedichtet hat. Das Jahr des Erscheinens der „Wege im Judentum“, 1933, kennzeichnet den Beginn des Untergangs des deutschen Judentums.
In der Zeit der Verfolgung
Baecks Leben in den Jahren der Katastrophe ist sinnbildlich für das Leben der Judenheit seiner Zeit. Man versteht die Geistesgeschichte des Judentums nicht ohne die Betrachtung des Schicksals des jüdischen Volkes. Und es ist daher ein notwendiges Unternehmen, wenn wir hier in unserer Darstellung biographische Züge Leo Baecks erwähnen. Man pflegt ja gern, sich an den großen Gedankengebäuden Israels zu erfreuen, an jenem Buche, das Christen Altes Testament nennen, das von Israel in die ganze Welt gegangen ist, an den Lehren jüdischer Ethik, die man nicht umhin kann, auch im Talmud zu finden, an den Gedanken jüdischer Religionsphilosophie und Mystik, an den Geschichten der Chassidim, die durch Bubers Verdienst populär geworden sind und heute nicht selten die Predigten von Pfarrern zieren. Das alles aber bleibt blutleer, wenn man von den Menschen absieht, die solche Gedanken hervorgebracht haben, wenn man das Schicksal ignoriert, das sie erlitten. Wer das Werk Baecks betrachtet, hat auch sein Schicksal als Jude zur Kenntnis zu nehmen! Sein Schicksal war dasjenige eines Juden in Deutschland zur Zeit der nationalsozialistischen Verbrechen. Er stand an der Spitze der jüdischen Vertretung, war vor 1939 mehrmals kurz inhaftiert, musste mit ansehen, wie seine Mitarbeiter, einer nach dem anderen, im Konzentrationslager verschwanden, aus dem sie nicht zurückkehrten.
1935 wurde Baeck kurze Zeit verhaftet, weil er in seiner Eigenschaft als Präsident der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ folgendes Gebet verfasst und in allen Synagogen Deutschlands verlesen ließ:
„In dieser Stunde steht jeder in Israel aufrecht vor seinem Herrn, dem Gott der Gerechtigkeit und der Gnade, um sein Herz dem Gebet zu öffnen. Vor Gott wollen wir unsere Wege befragen und unseren Taten nachsinnen, den Handlungen, die wir getan und solchen, die wir unterlassen. Wir wollen öffentlich unsere Sünden bekennen und den Ewigen bitten, dass er sie verzeihe und vergebe. Indem wir unsere Übertretungen anerkennen, die individuellen und die allgemeinen, lasst uns die Verleumdungen und Lästerungen verachten, die gegen uns und unseren Glauben gerichtet werden. Wir wollen sie als Lügen entlarven, zu gemein und bedeutungslos, als dass wir sie zählen.
Gott ist unsere Zuflucht. Lasst uns Ihm vertrauen, unsere Quelle der Würde und des Stolzes. Danket dem Ewigen und preiset Ihn für unser Schicksal, für die Ehre und die Beharrlichkeit, mit der wir ausgehalten und Verfolgungen überlebt.
Unsere Geschichte ist die Geschichte der Größe der menschlichen Seele und der Würde des menschlichen Lebens. An diesem Tage der Sorge und des Schmerzes, umgeben von Niedertracht und Schande, wollen wir unsere Augen in die Vergangenheit richten. Von Generation zu Generation hat Gott unsere Väter erlöst, und Er wird auch uns und unsere Kinder in den Tagen, die kommen, erlösen. Wir beugen unsere Häupter vor Gott und bleiben aufrecht und gerade vor Menschen. Wir kennen unseren Weg und wir sehen den Weg zu unserem Ziel. In dieser Stunde steht das Haus Israel vor seinem Gott. Unser Gebet ist das Gebet aller Juden: unser Glaube ist der Glaube aller Juden auf Erden. Wenn wir einander ins Gesicht sehen, so wissen wir, wer wir sind, und wenn wir unsere Augen gen Himmel erheben, so wissen wir, dass die Ewigkeit mit uns ist. Denn der Hüter Israels schlummert und schläft nicht. Trauer und Elend überfließt unsere Herzen. Aufrichtig wollen wir in die tiefsten Tiefen unserer Seelen schauen, und lasst das, was nicht ausgesprochen werden kann, in das Schweigen des Nachdenkens versinken. Amen.“
Dieses Dokument spiegelt eindrücklich die Situation von Juden im Jahre 1935 wider, als die Diffamierungen fortschritten und die Juden aus der Gemeinschaft des deutschen Volkes eliminiert wurden.
Baeck blieb. Er blieb auf seinem Posten als Rabbiner und Dozent. Bis Juni 1942 konnte er, nun fast als einziger Dozent, jedenfalls aus dem alten Lehrerkollegium, an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums lehren. Dann wurde auch er Ende Januar 1943 verschleppt. Rückblickend schrieb er über die Zeit seiner KZ-Haft in Theresienstadt:
„Manches, was in der schwarzen Zeit verübt wurde, könnte überschrieben sein: Die Bosheit als experimentatum. Ein solches Experiment des Willens zum Bösen war in ganz besonderer Weise das ausschließlich für Juden bestimmte Konzentrationslager Theresienstadt. Mit einem Minimum der Möglichkeit, gesund zu bleiben, wurde dort ein Maximum an Erkrankungsmöglichkeit verbunden; der Daseinsraum wurde durch den Sterbensraum ersetzt. Das war das Eine. In einem immer mehr verengten kleinen Bezirk wurden immer mehr Menschen hineingepresst, so dass einer am anderen sich rieb und stieß: jede Selbstsucht und Gier sollte aufwuchern und jede Anständigkeit verkümmern. Das war das Andere.“
Wirkungen
Als Baeck 1945 von den sowjetischen Truppen befreit wurde, siedelte er nach London über. Aber er blickte auf seine ehemalige deutsche Heimat. Er war sich bewusst, dass das Verhältnis der Juden zu Deutschland weder durch die Sentimentalität der Zuneigung noch durch die der Ablehnung bestimmt sein darf. Und er schrieb in einer deutschen Zeitschrift:
„Der Jude, der sehen und hören will, sieht die Schatten, die auf sein Dasein gefallen sind, und hört die Stimme der Schatten; und es ist als würfen die Schatten noch ihre Schatten; und als sprächen auch diese. Sie sind ein Teil seines Lebens geworden. Es gibt ein Wort in der Bibel, das Gott zu Israel gesagt hat – nur Er, der Eine, durfte es sagen: ‚Ein Volk harten Nackens bist du‘. Harten Nackens sind auch diese Schatten. Sie lassen sich nicht beugen und fortweisen, sie gehen mit jedem Juden und bleiben bei ihm, wenn er auf neuen Boden tritt, Verachtung ist das Gefühl, das einst die in Deutschland duldenden Juden erfasst hatte. So befremdlich es zunächst klingen mag, es gibt eine Verachtung auch für die Tüchtigkeit, und es muss sie geben können, wenn es einen Respekt vor der Tüchtigkeit geben soll. Die Entscheidung, ob jeweils das eine oder das andere zu zollen ist, zieht eine Scheidelinie zwischen Menschen.“
Baeck hatte, wie manche andere Juden in Deutschland – nicht nur, um ein Wort aus dem Buche Daniel zu verwenden – den „schikkuz schomem“, „den Greuel der Verwüstung“ erlebt. Über jene deutschen Freunde, die sich bewährten, schreibt er folgendes:
„Juden hatten immer wieder die Treulosigkeit erfahren, ganz unmittelbar, die Unmenschlichkeit ganz an sich selbst erduldet, und in ihrem Herzen war immer neue Bitterkeit aufgestiegen. Aber sie hatten doch auch an so manchem Tage das andere erfahren: Eine tapfere Treue, eine tapfere Liebe von dem einen und vielleicht auch dem anderen, eine menschliche Anständigkeit von einem Gekannten und einem Ungekannten. Und als sie dann hinausgerissen wurden, haben sie wieder unter anderer Roheit und Bosheit gelitten, deren Spur sie vielleicht noch an ihrem Körper tragen. Sie haben die einzelnen ausgesonnenen Untaten bestehen müssen. Doch immer haben sie an jene Treue einzelner und jenen Anstand einzelner gedacht. Und als sie zum Leben zurückkehrten, ist diese Erinnerung mit ihnen gegangen und zu einer Sehnsucht geworden, dankbar zu sein und zu bleiben.“
Neben einzelnen Zeitschriftenaufsätzen, vor allem über Probleme der Haggada, sowie einer größeren Arbeit über Paulus hat Baeck sich während der letzten Jahre seines Lebens mit der Fertigstellung eines in zwei Bänden erschienenen Werkes beschäftigt: „Dieses Volk. Jüdische Existenz“. Es handelt sich dabei in seinem ersten, und teilweise noch in seinem zweiten Teile um Reflexionen über die Bibel. Als Motto des 1. Bandes setzte er das Wort des Propheten Jesajas: „Dieses Volk, das Ich mir gebildet habe, meinen Ruhm wird es künden.“ Über dem 2. Band steht der Exodusvers: „Bis hindurchgeschritten sein wird, Dein Volk, Du, der Du bist, bis hindurchgeschritten sein wird dieses Volk, das Du zu eigen genommen hast.“ (Ex 15,16).
Beide Bände stellen, wenn natürlich auch nicht wörtlich, die Wiedergabe von Vorlesungen dar, die er in der langjährigen, genau 30-jährigen, Tätigkeit an der Lehranstalt gehalten hat. Über den Bund, den Auszug, die Offenbarung, Wüste und Boden handelt der 1. Band. Anhand der einzelnen Stationen Israels verfolgt Baeck den Weg dieses Volkes durch die Geschichte, die er als eine Geschichte der Offenbarung erkennt. Der Auszug aus Ägypten in seinem Wege und seinem Wunder ist die Einleitung zu ihr, die Offenbarung hat dieses Volk eigentlich zu diesem Volke werden lassen. Denn blieb sie ihm lebendig, so lebte das Volk in sich selber, in seinem Eigenen. Das Land schließlich, das verheißene, ist das Ziel dieses Volkes, das durch die Wüste zu ihm gelangt. Die Wüste wurde zum Prägestock des Volkes, dort stand der Sinai, dort war der Offenbarung Raum gelassen und Widerhall gegeben worden. In der Wüste lenkte nichts ab, keine kanaanäische Zivilisation, keine fremden Götter. Nicht zufällig haben später die großen Propheten sich nach dieser Wüste zurückgesehnt, weil dort der Sinn für das Eigentliche geschärft worden ist: „Habt ihr etwa Opfer und Speise in der Wüste mir dargebracht die vierzig Jahre, Haus Israels“, fragt Amos. Und dann zeichnet Baeck, liebevoll und kritisch zugleich, das Bild dieses Volkes, das ewig gleiche Bild eines Volkes in der Geschichte und in der Gegenwart:
„So ist dieses Volk kein ‚glattgeschrieben Buch‘. Es ist ein Volk mit seiner Paradoxie und ihrer Spannung: das verbundenste und das einsamste Volk der Väter und das Volk der Kinder; das lebensfrohe und das asketische; das Volk des aufnehmenden Humors und der abweisenden Ironie, das Volk des Weges und das Volk der Hecke, das Volk, das mehr als andere nach außen und weit mehr als andere nach innen horcht und blickt, fast möchte man sagen, Volk des Landes und Volk der Wüste in einem. Es kann in dieser Paradoxie leben, weil es, und solange es in dem Glauben an das Eine und Ganze lebt. Hier ist kein wahres Fortschreiten ohne die Verbundenheit mit der Vergangenheit, keine wahre Verwobenheit mit dem Früheren, ohne den Mut zur Zukunft, keine Gewissheit ohne die Frage und keine Frage ohne die Gewissheit, kein Vertrauen ohne das Suchen und kein Suchen ohne das Vertrauen, keine Abgeschlossenheit, ohne die Erschlossenheit und keine Kraft sich zu öffnen, ohne die Fähigkeit abzulehnen.“
Nach diesen Worten versuchen wir zu verstehen, warum und wie Baeck ein sogenannter liberaler Jude sein konnte und an der Spitze dieser Bewegung stand.
„Wir sind fortschrittliche, liberale Juden,“ sagte er einmal, „nicht um des liberalen Judentums willen, sondern um des Judentums als einem großen Ganzen willen. Liberales Judentum kann seine Stärke nur inmitten des ganzen Judentums haben, inmitten kelal Jisrael. Wir wollen keine Partei sein, keine große oder kleine, sondern eine Bewegung, keine Sekte, sondern eine Kraft innerhalb des Judentums. Das liberale Judentum sollte das lebendige Gewissen des Judentums sein. Aber wir müssen auch immer wissen, dass der jüdische Standpunkt erst durch die große Geschichte geworden ist, die Geschichte der Offenbarung und des Geistes. Judentum hat seine geschichtlichen Wurzeln, es ruht auf der Tradition. Es gibt keine Tradition ohne Überzeugung, so wie es keine Überzeugung ohne die Tradition gibt. Wir Juden von heute dürfen nicht den Boden unter uns verlieren, so wie wir nicht den großen Ausblick vor unseren Augen verlieren dürfen. Tradition darf nicht zum bloßen Worte werden, denn sie steht auf einem heiligen Boden. Daher müssen wir auch für die Disziplin und sogar für die asketischen Züge der Tradition Verständnis haben, selbst Verständnis für die manchmal in Unordnung gekommene Würde der Tradition. Verständnis und Ehrfurcht sollen das Wesen des Liberalen Judentums ausmachen. Jüdisches Lernen und das Wissen um den Bund zwischen Israel und seinem Gott sind die beiden Aufgaben, die dem Judentum unserer Tage gestellt sind.“
Aus diesen Worten ersieht man, dass hier nicht von einem Judentum die Rede ist, das man als ein kleines Judentum bezeichnen könnte, als ein Gebilde, das ohne den Ballast der Tradition es sich leicht machen wollte. Es ist das große Verdienst Leo Baecks gewesen, den Versuchungen des liberalen Judentums entgegen getreten zu sein, eines Judentums, das nur noch eine Karikatur gewesen wäre, in denen die Verkürzungen vorgeherrscht hätten. Jede geistige Bewegung hat ihre Gefahren, und auch innerhalb des Judentums hat es zu allen Zeiten in meist sehr ähnlicher Weise diese Gefahren gegeben. Das Grundproblem des historischen Judentums war seine geistige Schwäche – die hat nichts mit dem Intellekt zu tun. Die geistige Schwäche, die sich vor dem großen Ausblick, vor der Schau, der Vision fürchtet, welche Angst vor der Zukunft, dem Neuen, hat und die zu indolent ist, ausgefahrene Wege zu verlassen. Das führt zur Philosophie des „als ob“, als ob es noch eine Zeit gäbe, in der die alten Formen und Formeln noch ihren Sinn hätten. Die realen Tatsachen der Gegenwart werden ignoriert, man tut so, als ob es sie nicht gäbe. Man lebt in einem luftleeren Raum. Die andere Gefahr, die sich heute im Judentum zeigt, ist nicht mehr wie im 19. Jahrhundert ein Judentum, das seine religiösen Formen der christlichen Umwelt anpasst, sondern ein religiös überhaupt entleertes Judentum. Zwei verschiedene, ja scheinbar gegensätzliche Spielarten zeigen sich hier, die beide auf eine gleiche Wurzel zurückgehen: Ein Judentum, das seine Aufgabe allein im Nationalen sieht, also ein Körper ohne Seele, und Menschen jüdischer Abstammung, die nur die bloße Schicksalsgemeinschaft verbindet, vor allem also das Bewusstsein, dass sie von der nichtjüdischen Umwelt sozial nicht voll akzeptiert werden. Dieser religiöse Indifferentismus ist das Kennzeichen unserer Tage. Es wäre eine grob oberflächliche Betrachtungsweise, einen solchen Prozess mit der religiös-liberalen Bewegung des Judentums identifizieren zu wollen. Ihr ging es gerade darum, die echten Werte des prophetischen Judentums zu retten, ein durch Jahrhunderte der politischen Demütigung und geistigen Inzucht erstarrtes Judentum in die lebendige Gegenwart Europas einzuführen, dessen Werte also den Juden zu erschließen, ohne dabei das eigene zu verlieren. Dieser große geistige Versuch ist gewiss oft misslungen, weil man sich um das Eigene nicht klar genug war und weil man das große Ziel verlor; man wurde frei, frei aus der Knechtschaft bürgerlicher Diskriminierung, frei aus den Fesseln erstarrter Religion, die nur Praxis, nicht aber lebendiger Inhalt war. Aber man wusste dann bald nicht mehr, worin eigentlich der Inhalt bestand, welchen Weg man nach Erlangung der bürgerlichen Freiheit einzuschlagen hatte. Man zog zwar aus Ägypten aus, fand aber nicht den Weg zum Sinai, wusste nicht mehr, wo das heilige Land lag, in das man eigentlich ziehen sollte. Man hatte vergessen, wozu man auch geistig frei geworden war.
Was lehrt uns nun Leo Baeck zu den Problemen, zu den Sorgen und Nöten unserer geistigen Existenz als Juden heute? Worin, so fragen wir abschließend, liegt die geistesgeschichtliche Bedeutung Leo Baecks? Sie liegt vor allem darin, dass er dem modernen Judentum Aufgabe und Ziel gestellt hat. Ausgegangen ist er zwar von der im 19. Jahrhundert formulierten Idee des sogenannten ‚Ethischen Monotheismus‘, aber er gab dieser dürren Formel einen neuen, lebendigen Inhalt. Dadurch wurde Baeck zu dem, was im Judentum von jeher die Aufgabe des Rabbiners gewesen ist: Lehrer seines Volkes zu sein. Denn das Judentum kennt weder den Begriff des Geistlichen, noch den des Theologen.
Generationen von Schülern haben Baecks Gedankengut in alle Welt getragen und versucht, lebendiges Judentum zu gestalten. Gewiss lehrte Baeck das Primat des Ethischen, es steht auch bei ihm im Mittelpunkt. Aber Ethik ist für ihn nie nur reine Spekulation gewesen, sondern Bewährung im Alltag. Im Sittlichen kann jeder Mensch Genie bewähren. Von Gott wissen und das Gute üben sind gleichbedeutend. Auserwählt zum Ärger des Philisters, diesem Gegensatz zum Gläubigen, sind die Juden als immer Unzeitgemäße nur, um die Welt zum Gottesreich zu verwandeln. So ist das Judentum für Baeck Weltreligion, denn alle können Kinder des Frommen werden. Die jüdische Religion ist nie fertig, sie ist eine dynamische Religion. Als Aufgabe weist sie dem Menschen die Entdeckung des Nächsten, des Armen, des Fremden und der Menschheit zu. Das Judentum kann nicht widerlegt werden, man kann ihm nur entgegengesetzt leben. Es ist undogmatisch, die dynamische Ethik ist auf das messianische Ziel vorwärtsgerichtet.
Aber Baeck unterscheidet sich nun sehr entscheidend von gewissen Denkern besonders des 19. Jahrhunderts in seiner Konzeption des jüdischen Volkes und des jüdischen Landes. Sein Bekenntnis zu Israel ist auf der Geschichte gegründet, auf der Geschichte des Bundes des einen Gottes mit dem einen Volke.
„Es gibt kaum ein zweites Beispiel solch beständiger und standhafter Treue eines Volkes gegen den Boden, auf dem seine Jugend und seine Eigenart aufgewachsen waren, kaum ein anderes Beispiel dafür, wie ein Volk körperlich von dem alten Lande getrennt, seelisch mit ihm verbunden bleibt und seelische Kraft aus ihm zieht. Es war eine Treue, die sich nicht fürchtet treu zu sein, die sich nicht scheut, im Symbol auch eine Wirklichkeit mit ihren Forderungen zu sehen, und darum in jeder Wirklichkeit ein Symbolhaftes auch, etwas, das über sie hinausweist, zu erkennen. Vielleicht ist die Treue der entscheidende Charakterzug in diesem Volke.“
Damit hat Baeck zugleich auch im Religiösen den Weg gewiesen. Es gibt im Hebräischen nicht den Begriff des ‚Glaubens‘. Jenes Wort, das man gewöhnlich mit ‚Glauben‘ zu übersetzen pflegt, hat viel eher die Bedeutung: ‚Treue‘. In der Sprache Israels sind Treue, Wahrheit und Glaube ein und dasselbe Wort, sie sind untrennbar. Wahrheit und Glauben kommen aus einer Treue hervor, und alle Treue wird wieder zur Wahrheit und zum Glauben. Und lebendige Kraft steigt in ihnen auf, wenn sie aus der Treue gegen Gott aufwachsen.
Was die Aufgabe des modernen Juden ist, hat Baeck klassisch so formuliert:
„Das Wissen zuerst um eine Besonderheit, um diese Gottesebenbildlichkeit durch das Persönliche. Das Bewusstsein sodann, in jedem Tage eine Antwort geben zu können, eine Antwort aus dieser Individualität hervor, diese eigene, persönliche Antwort an Gott, und das ist doch das Letzte und Tiefste aller Freiheit. Die Gewissheit schließlich, dass über allen Widersprüchen ein Ewiges ist, so dass der Mensch von Gott sein göttliches Wort, Gottes Antwort gleichsam, erwarten darf, und das ist doch das Letzte und Tiefste aller Hoffnung. Und dieses Dreifache ist in seiner Wurzel eines. Es ist die große Treue: die Treue gegen den Grund unseres Lebens, die Treue gegen das Gebot, das jeden Tag zu uns spricht, die Treue gegen das, was von uns ausgeht, was werden und weiterreichen soll. Der Bund Gottes ist hier das Prinzip, die Verbindung von Anfang und Ziel.“
Fragen wir abschließend nach dem Einfluss und der Wirkung von Leo Baeck in seiner Zeit. Es dürfte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts keine andere Persönlichkeit im deutschen Judentum gegeben haben, die eine ähnliche Ausstrahlung gehabt hätte wie er. Das hängt natürlich vor allem mit seiner Persönlichkeit zusammen, dann aber auch mit der Vielzahl seiner wichtigen Ämter: Gemeinderabbiner zuerst in Oppeln, dann in Düsseldorf, schließlich in Berlin; Dozent an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums; Präsident des allgemeinen deutschen Rabbinerverbandes; Präsident des deutschen Distrikts des B"nai B"rith; in Theresienstadt schließlich die Verkörperung des moralischen Gewissens. Nach dem Kriege wirkte er bis ein Jahr vor seinem Tode 1956 am „Hebrew Union College“ in Cincinnati. Daneben gab er regelmäßig Kurse in London für seine dorthin emigrierten ehemaligen deutschen Kollegen und Schüler. Organisatorisch hat sich Baeck auch nach dem Kriege vielfach betätigt: Als Präsident des „Council of Jews from Germany“, als Vorsitzender der „World Union for Progressive Judaism“ und als Ehrenpräsident des im September 1955 gegründeten Distrikts Continental Europe des B"nai B"rith, der größten humanitären jüdischen Organisation der Welt. Wer eine derartige Fülle von Funktionen in seinem Leben über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren ausgeübt hat, musste Macht, Einfluss und Wirkung besitzen. Leo Baeck war sich seiner Stellung in der Welt bewusst, insbesondere auch der Anerkennung, die er bei Juden und Nichtjuden genoss. Baeck war kein Stubengelehrter, der sich aus der Politik fernhielt und sich in seine Klause zurückzog. Als der erste Band der deutschen Bibelübersetzung von Buber-Rosenzweig erscheinen sollte, dekretierte er einfach von sich aus als Präsident des deutschen B"nai B"rith, dass jedes der 12.000 Mitglieder ein Exemplar zu erwerben habe. Auf diese Weise wurde die Herausgabe dieser deutschen Übersetzung der Tora überhaupt erst möglich. Als im Jahre 1948 der Terror im damaligen Palästina herrschte, vereinte Baeck sich mit Albert Einstein in dem Appell an Juden und Araber, sich von Terror fernzuhalten, und rief die Juden auf, ein Gemeinwesen auf einer friedlichen und demokratischen Basis zu errichten.
Sein Hauptwerk „Das Wesen des Judentums“, 1905 zuerst in deutscher Sprache erschienen, wurde auch ins Englische übersetzt und erschien im Jahre 1948 in den USA. Es ist noch heute auch im anglo-amerikanischen Sprachraum eines der Grundwerke des Judentums und wird es noch für lange Zeit bleiben. Wenn auch nicht mehr allzu viele seiner Kollegen und Schüler am Leben sind, so ist seine Botschaft an die Juden nicht vergessen. Dazu hat er doch sehr stark, gerade nach 1945, in England und in den USA gewirkt und keine andere Gestalt im Judentum seiner Epoche hatte eine derart vielfältige Aktivität ausgeübt. Es ist im übrigen schon ein einzigartiges Phänomen, dass er seinerzeit in Deutschland Präsident des allgemeinen Rabbinerverbandes war, obwohl er nicht der orthodoxen Richtung angehörte, diese ihn jedoch gleichwohl respektierte. Als es dann nach dem Zweiten Weltkrieg darum ging, aus den Trümmern des untergegangenen deutschen Judentums überall auf der Welt ein neues jüdisches Leben aufzubauen, war er wiederum führend beteiligt. Es hat einen hohen Symbolwert, dass die Ausbildungsstätte für nichtorthodoxe Rabbiner in Europa seinen Namen trägt: Das Leo Baeck College in London. Damit ist nicht nur sein Name verbunden, sondern zugleich wird auch sein Geist jungen Menschen weitergegeben, die sich den Rabbinerberuf erwählt haben. Eine Anzahl der zum Beispiel im deutschsprachigen Raum heute wirkenden Rabbiner sind im Leo Baeck College ausgebildet worden. Einheiten der erwähnten jüdischen Organisation B"nai B"rith in New York, London und Berlin tragen seinen Namen. Sie haben damit eine Verpflichtung übernommen, deren sie sich auch bewusst sind. Wir kennen daher keine andere Persönlichkeit in jener Epoche, die bis zum heutigen Tage im Bewusstsein jüdischer Menschen ist und vor allem einen Maßstab für ein Leben als Jude in Würde gesetzt hat. Nicht zuletzt trägt dazu auch das nach ihm benannte Leo Baeck Institut mit seinen Zweigstellen in New York, Jerusalem und London bei. Seine Aufgabe besteht in der Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert. Mit allen diesen Gremien wird der Name Leo Baecks auch in der Zukunft in steter Erinnerung derer bleiben, denen es darum geht, eine große Epoche im europäischen Judentum lebendig zu erhalten.