Kurz erklärt…: Die sieben noachidischen Gebote

Wie andere Religionen macht sich die jüdische Lehre Gedanken über die Zeit nach dem Tod über eine Zeit, die sie die zukünftige Welt (‘olam habbah) nennt. Anteil an dieser zukünftigen Welt haben zunächst einmal Juden, die ihr Leben so gestaltet haben, dass sie als gerechte Menschen gelten. Doch über die Angehörigen des jüdischen Glaubensbekenntnisses hinaus können – und dies ist wohl eher außergewöhnlich – alle Menschen Anteil an der Welt, die kommt, erlangen, wenn sie bestimmte Gebote und Verbote einhalten. Eine solche Zusicherung findet sich freilich nicht im Alten Testament selbst: Sie ist (späteren) talmudischen Ursprungs.

Im Traktat Sanhedrin [1] auf den Seiten 56 ff. werden mehrere solcher Gebote und Verbote diskutiert, und auf Seite 56a werden die sieben maßgeblichen in folgender Reihenfolge genannt:

• Gerichte aufstellen, Normen des Privatrechts (Zivilrechts) und des Strafrechts schaffen
• Gott nicht fluchen[2]
• Götzen nicht anbeten (Verbot der Idolatrie)
• keine verbotenen sexuellen Beziehungen unterhalten wie Inzest, niemanden sexuell vergewaltigen
• keine Menschen töten, außer als Strafe nach Maßgabe und unter den Bedingungen einer gesetzlichen Vorschrift oder im Krieg zur Verteidigung
• nicht stehlen
• nicht Glieder lebender Tiere verzehren

Die ersten sechs dieser Vorschriften wurden nach der Überlieferung[3] bereits dem ersten Menschen Adam gegeben, die siebente erst Noach, weil, wie sich aus Genesis 9,3 im Vergleich mit Genesis 2,16 ergibt, die Menschen vor der Sintflut nicht das Recht hatten, Fleisch zu essen, also Vegetarier waren. Möglicherweise spielte auch nach der Sintflut Fleisch als Nahrungsmittel nur eine bescheidene Rolle: Das Alte Testament erwähnt nur an zwei Stellen den Genuss von Fleisch.[4] Und in Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 8, Vers 8 werden die vortrefflichen landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Landes Kanaan gerühmt: ausschließlich pflanzliche Produkte!

Die sieben Vorschriften werden Die sieben noachidischen Gebote genannt. Warum diese Bezeichnung? Die Sintflut vernichtete alles Leben mit Ausnahme der Insassen der Arche Noach, die Glieder der Familie Noach und die Tiere, die in ihr geborgen wurden. Da nach der biblischen Überlieferung zwangsläufig alle Menschen von Noach abstammen, werden sie etwa als Noachiden (Söhne Noachs) bezeichnet; daher auch die Bezeichnung Noachidische Gebote.

Einige dieser Gebote finden sich ausdrücklich in den Zehn Geboten (Exodus 20,2ff.); das Verbot, Teile eines lebenden Tieres zu essen, wird aus Genesis 9,4 abgeleitet. Das Verbot des Inzests findet sich in Leviticus 18,6ff. und das der sexuellen Gewalt im Talmudtraktat ‘Eiruwin 1 ul00b.

Die Torah wie auch der Talmud sind vorzüglich auf das Leben in dieser Welt ausgerichtet. Sie spornen den Menschen an, Gutes zu tun und die göttlichen Gebote zu befolgen. Dementsprechend sind auch die Aussagen zum Jenseits, zur zukünftigen Welt, vage. Zwei Beispiele:

In den Sprüchen der Väter (Pirkei Awot)[5], Kapitel 4 steht:

21: Rabbi Jakob sagte: Diese Welt ist gleichsam der Vorhof der künftigen Welt. Bereite dich im Vorhof auf sie vor, dass du in den Speisesaal eintreten kannst!

22:Er pflegte zu sagen: Besser eine Stunde Busse und guter Werke auf dieser Welt als alles Leben in der künftigen Welt. Besser eine Stunde der Erquickung in der künftigen Welt als alles Leben in dieser Welt.

Maimonides schreibt in den Regeln für die Buße (Hilchot Teschuwah), Kapitel 8, Ziffer 1:

Das Gute, verborgen für die Gerechten, ist das Leben in der zukünftigen Welt. Es ist das Leben, mit dem sich kein Tod verbindet, das Gute, mit dem sich nicht das Böse vereinigt. […] Die Belohnung für die Gerechten ist, diese Wonne zu verdienen und an diesem Guten Teil zu haben, die Strafe für die Bösen, dieses Leben nicht zu verdienen, von ihm ausgeschlossen zu werden und zu sterben.

Aus dem Talmudtraktat Awodah sarah (Götzendienst) 2b ergibt sich: Die Völker weigerten sich, die Gebote Gottes zu erfüllen, ja nicht einmal nur die sieben Noachidischen Gebote. Einzig das jüdische Volk erklärte sich bereit.

Und dennoch stellt derselbe Talmud den Menschen, die die sieben Noachidischen Gebote einhalten, ohne Rücksicht auf ihr Glaubensbekenntnis in Aussicht, dass sie Anteil an der zukünftigen Welt erlangen.

[1] Sanhedrin: Lehnwort von griechisch συνέδριον, synedrion, Zusammensitzen. Das Traktat handelt von der Organisation und von den Befugnissen der verschiedenen Gerichte.
[2] Im Text steht: »Gott lobpreisen.« Doch ist dieses Verb, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, ein Euphemismus. Der Talmud setzt nicht voraus, dass jemand an Gott glaubt. Er soll ihm nur nicht fluchen.
[3] Maimonides Regeln für die Könige und ihre Kriege (Hilchot Melachim umilchoteihem) 9,1. Diese Regeln sind Teil seines Werkes Mischneh Torah (Wiederholung der Torah).
[4] Genesis 18,7;1. Könige 19,21.
[5] Die Sprüche der Väter bilden einen Teil der Mischnah und damit des Talmuds.

Editorische Anmerkungen

Dr. iur. Herbert Plotke arbeitete bis zu seiner Pensionierung an leitender Stelle in einem Departement (Ministerium) und als Dozent in der Lehrerausbildung. Er ist weiterhin wissenschaftlich im öffentlichen Recht tätig.
Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 1/2022.