Krisenerprobt und doch störanfällig. Das aktuelle jüdisch-christliche Verhältnis

Durch die Nahostkrise hat es nach den Irritationen der vergangenen Jahre jüngst abermals Verwerfungen in den jüdisch-katholischen Beziehungen gegeben. Ungeachtet aller Krisen geht der Dialog zwischen Christen und Juden über religiöse Fragen jedoch weiter, nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland.

Hans Hermann Henrix

Krisenerprobt und doch störanfällig

Das aktuelle jüdisch-christliche Verhältnis

Das jüdisch-christliche Verhältnis hat in diesen Monaten zwei Kontexte, die von besonderem Gewicht sind und auf die Beziehung zwischen katholischer Kirche und jüdischem Volk einwirken. Es ist zum einen der mit kriegerischen Mitteln ausgetragene Israel-Palästina- Konflikt, der hierzulande bis in kirchliche Milieus hinein kontrovers diskutiert wird. Die dort bisweilen anzutreffende Kennzeichnung dieses Konflikts als Unterdrückung des armen gedemütigten palästinensischen Volkes durch den reichen Aggressor Israel ist nicht frei von der Gefahr, judenfeindliche Einstellungen in der Form der Israelkritik zu verlängern. Umgekehrt kann nicht jede Kritik der Politik Israels unter Antisemitismusverdacht gestellt werden.

Den anderen bedeutenden Kontext hat das aktuelle christlich-jüdische Verhältnis in der Spätphase des Pontifikats von Johannes Paul II. Trotz aller körperlichen Beeinträchtigung trägt der Papst die ihm wichtigen Anliegen durch. Dazu gehört sehr zentral die Gestaltung des Verhältnisses der Kirche zu den Religionen und insbesondere des von ihm mit eigenem Nachdruck bedachten Verhältnisses zum Judentum. So hat er nach dem ersten Assisi-Treffen vom 27. Oktober 1986 einmal mehr die Initiative zu einem Welttag des Gebets für den Frieden ergriffen.

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit verpflichteten sich die Vertreter der Religionsgemeinschaften am 24. Januar 2002 in Assisi in zehn Punkten, „auf der großen Baustelle des Friedens zu arbeiten“ (vgl. HK, März 2002, 109 ff.). Neben der Bereitschaft zur Selbstkorrektur und der Aufforderung, „einander die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen“, kamen sie auch in der Auffassung überein: Friede und Gerechtigkeit sind nicht voneinander zu trennen - eine Überzeugung, die im gegenwärtigen Papst einen der engagiertesten Verfechter hat.

Neben der offiziellen Ebene sind informelle Vorgänge wichtig

Das christlich-jüdische Verhältnis bleibt seit der großen Öffnung durch das Zweite Vatikanische Konzil von Krisen und Kontroversen umstellt. Manchmal scheinen alle Fortschritte wie widerrufen, und doch reißt das Gespräch nicht einfach ab. Es ist krisenerprobt und bleibt zugleich störanfällig. Diese Erfahrung stellt sich auch im Sommer 2002 pointiert ein. Mehrere Facetten prägen das gelebte Verhältnis, unterschiedliche Themen und Agenten drängen sich dem Gespräch auf. Neben der offiziellen Ebene sind informelle Vorgänge wichtig. Binnenreflexionen laufen parallel zum Gespräch im faktischen Gegenüber. Theologische oder religionsphilosophische Denkanstrengungen in der stillen Kammer werden oft durch politische Spannungen der Öffentlichkeit verstellt.

Die offizielle Beziehung zwischen der katholischen Kirche und dem jüdischen Volk hat auf der völkerrechtlichen und politischen Ebene mit dem Grundlagenvertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Staat Israel vom 30. Dezember 1993 (Text in: Hans Hermann Henrix und Wolfgang Kraus [Hg.], Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn/ Gütersloh 2001, 80-85) eine appellable Instanz. Dass ein vergleichbarer Vertrag mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) am 15. Februar 2000 im Vatikan unterzeichnet wurde (Text: L’Osservatore Romano, dt., 3. März 2000, 4), hat israelischen Protest nach sich gezogen, der jedoch das Verhältnis nicht nachhaltig trübte.

Eine erhebliche Belastung des vatikanisch-israelischen Verhältnisses drohte mit dem Vorhaben des Baus einer Moschee in der unmittelbaren Nachbarschaft der Verkündigungsbasilika zu Nazareth; Israel hatte zunächst mit zwei staatlichen Baugenehmigungen 1998 und 1999 das Projekt gebilligt, ehe es mit einem Kabinettsbeschluss vom 3. März 2002 der mehrfachen Intervention des Vatikans Rechnung trug, der die Einstellung der Arbeiten anordnete und mehrere alternative Bauplätze anbot.

Diese Entlastung wurde überlagert durch die Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts, der mit dem Einmarsch israelischer Truppen in die Westbank vom 29. März 2002 als militärische Antwort auf eine Reihe palästinensischer Selbstmordattentate mit vielen unschuldigen Zivilopfern eine kriegerische Dimension angenommen und mit der Räumung der mehrwöchig besetzten und belagerten Geburtskirche in Betlehem am 10. Mai 2002 eine gewisse Zäsur erfahren hat.

Irritationen durch „Dominus Iesus“

Auf die Verschärfungen des Konflikts hat Johannes Paul II. vielfach Bezug genommen. Er verknüpfte bei seinen Interventionen und Reaktionen die Klarheit der Position mit der Aufrechterhaltung der Beziehungen nach beiden Seiten (vgl. HK, Juni 2002, 281 ff.). Und es kann kein Zweifel sein, dass die eine oder andere päpstliche Äußerung der Unterstützung palästinensischer Belange in Israel nicht populär ist. Dass die Achtung dem Papst gegenüber auf jüdischer Seite aber nicht aufgekündigt wird, dürfte eine Folgewirkung seines historischen Besuchs vom 21. bis 26. März 2000 in Israel und Jerusalem sein. Mit diesem Besuch wurde eine hartnäckige Ambivalenz in der jüdischen Reaktion auf Johannes Paul II. konstruktiv überwunden.

Freilich ist nicht zu verkennen, dass neuere Kommentare in „L’Osservatore Romano“, die Israels Politik heftig angriffen und dabei die Rede von Erniedrigung und Vernichtung des palästinensischen Volkes nicht scheuten, großen Unmut im Umfeld der jüdischen Gemeinde Roms auslösten. Auch angesichts dieser Verstimmung bewertete Israels Botschafter beim Hl. Stuhl, Yosef Lamdan, das beiderseitige Verhältnis als „gut und eng“ (vgl. HK, Mai 2002, 221 f.). Bereits bald nach der päpstlichen Israelreise vom März 2000 war einiges geschehen, das für Aufregung sorgte - nicht nur auf der dramatisch veränderten politischen Bühne, sondern auch im religiös-kirchlichen Spektrum.

Da war es zunächst am 3. September 2000 zur Seligsprechung nicht nur von Johannes XXIII., sondern auch von Pius IX. gekommen. Die jüdische Gemeinde Roms, Historikerkommissionen und christlich-jüdische Gremien hatten nach Bekanntwerden des Seligsprechungstermins protestiert und danach gefragt, welche „Botschaft“ Rom denn mit der Seligsprechung von Pius IX. senden will (vgl. HK, September 2000, 452 ff.). Die damalige Irritation im katholisch-jüdischen Verhältnis wurde durch die auch jüdischerseits aufmerksam gelesene Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre Dominus Iesus (DI) über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche vom 6. August 2000 verstärkt. Wenn auch dieses Dokument in seiner interreligiösen Dimension ad gentes ausgerichtet ist und keine ausdrückliche Aussage über das Verhältnis der Kirche zum Judentum trifft, so gab es doch pointierte kritische jüdische Stimmen.

Immerhin konnten diese beim offiziellen Jahrestreffen des Internationalen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees vom 30. April bis 3. Mai 2001 in New York zur Geltung gebracht werden. Der amerikanisch-orthodoxe Gelehrte David Berger bezog sich in einem Hauptbeitrag des Treffens auf die Aussage des Vatikandokuments, dass sich die einzelnen Nichtchristen in einer schwer defizitären Heilssituation befinden; im Blick auf die Aussagemitte des Dokumentes, derzufolge alles Heil allein von dem einen und dreifaltigen Gott und seinem Fleisch gewordenen Wort her kommt, sei es seiner Meinung nach inkohärent, wenn die Juden in dieser Aussage nicht eingeschlossen seien. Unter Hinweis auf Schriften von Kardinal Joseph Ratzinger las er DI im Licht eines zwar freundlichen, aber klassischen Supersessionimus, der Israel - freilich ohne antijüdische Polemik früheren Stils - durch Christus und die Kirche für überholt und ersetzt glaubt.

Der Pulverdampf nach dem Streit um die Historikerkommission ist verzogen

Im Übrigen dachte er darüber nach, ob eine jüdische Kritik der theologischen Positionen von DI zum dreifaltigen Gott oder zur Inkarnation nicht umgekehrt eine Einladung an Christen bedeuten könnte, nun ihrerseits Änderungen der jüdischen Theologie zu fordern; und dies lehnte er als Instrumentalisierung des Dialogs für externe Einmischung ab. Als äußerst problematisch empfand Berger die Position von DI, dass der Dialog nur eine der Tätigkeiten der Kirche innerhalb ihrer missionarischen Sendung sei. Die Auffassung, Mission und Dialog müssten sich gegenseitig durchdringen, rechtfertige den Argwohn orthodoxer Juden gegenüber dem theologischen Dialog mit Kirche und Christentum.

In seiner Antwort auf diese Ausführungen reagierte Kardinal Walter Kasper als neuer Präsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden mit dem hermeneutischen Hinweis, es sei nicht möglich, Artikel von Kardinal Ratzinger anzuführen, um das aufzufüllen, was DI nicht sagt. Vielmehr sei DI von den Aussagen des Konzils und den zahlreichen Äußerungen von Johannes Paul II. zum Verhältnis der Kirche zum Judentum her zu lesen. Die Kirche glaube, dass das Judentum eine gläubige Antwort des jüdischen Volkes auf Gottes unwiderruflichen Bund sei und deshalb für dieses heilvoll, da Gott seinen Verheißungen treu sei. Die katholische Kirche unterhalte keine judenmissionarischen Organisationen. Aber nicht nur auf der Ebene der Praxis, sondern auch in der Theorie sei das Verhältnis der Kirche zum Judentum von einmaligem Rang: Der in der Bibel bezeugte Glaube der Juden sei für die Kirche keine andere Religion, sondern Fundament des eigenen Glaubens. „Juden und Christen gehören auf eine Seite.“

Insgesamt hole DI den gegenwärtigen Stand der theologischen Reflexion in der Kirche nicht voll ein. Die argumentative Entgegnung auf vorgetragene Einwände durch Kardinal Kasper beeindruckte die jüdische Delegation, und vielleicht ist es diesem freimütigen Austausch von New York zu verdanken, dass „Dominus Iesus“ das offizielle katholisch-jüdische Verhältnis nicht weiter belastet. Freilich ist damit die Hermeneutik des Misstrauens und Argwohns, mit der jüdischerseits kirchliche Dokumente und Vorgänge gelesen werden, nicht einfach überwunden.

Kardinal Kasper brach vorzeitig von der New Yorker Konsultation auf, um in seiner Funktion als Präsident des Rats zur Förderung der Einheit der Christen den Papst bei seinem Besuch nach Griechenland, Syrien und Malta vom 4. bis 9. Mai 2001 zu begleiten (vgl. HK, Juni 2001, 277 ff.). Von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde die Tatsache, dass eine Begebenheit während des Papstbesuchs in Syrien auf das jüdisch-katholische Verhältnis durchschlug. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hatte in seiner Ansprache an den Papst Israel und die Juden beschuldigt, heute genauso gegen die Palästinenser und die heiligen Stätten der Christen vorzugehen, wie die Juden des ersten Jahrhunderts den Tod Jesu verursacht hätten. Der Papst ist bei seiner Antwort nicht auf die Rede des Präsidenten und ihren antijüdischen Ton eingegangen, was von amerikanischen Juden mit großer Enttäuschung registriert wurde (vgl. Freiburger Rundbrief NF 8, 2001, 284 ff.).

Wie sehr die Last der Vergangenheit gegenwärtig ist, wurde auch bei der Kontroverse um die Beendigung der Arbeit der Internationalen katholisch-jüdischen historischen Kommissionerfahrbar. Diese Kommission war im Herbst 1999 gemeinsam von der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden und dem Internationalen jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen (IJCIC) nach dem kontroversen Echo auf die Vatikanische Erklärung „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“ vom 16. März 1998 ins Leben gerufen worden. Auftrag der Kommission war eine Bewertung der Rolle des Hl. Stuhls in der Zeit der Shoa und zwar auf der Basis der veröffentlichten Dokumente des Vatikans aus den Jahren 1939 bis 1945. Ein Zugang zu weiterem Archivmaterial war der Kommission ebenso wenig in Aussicht wie ein Hilfsstab oder eine Infrastruktur zur Seite gestellt. In der internen Diskussion der Kommission gab es unterschiedliche Positionen darüber, ob sich mit dem veröffentlichten Material eine zwar nicht endgültige, aber doch weiterführende Bewertung vornehmen ließ. Eine öffentliche Auseinandersetzung, die über viele Wochen immer bitterer und persönlicher wurde, ließ Kardinal Kasper in einer öffentlichen Erklärung vom 24. August 2001 resigniert feststellen, eine weitere gemeinsame Arbeit sei praktisch unmöglich (vgl. HK, September 2001, 436 f.).

Der Pulverdampf ist verzogen. Zurückgeblieben sind wechselseitige Vorwürfe: jüdischerseits der Eindruck, der Vatikan habe etwas zu verbergen, katholischerseits der Vorwurf, das Projekt sei durch Vertrauensbruch und -mangel gescheitert. Die Frage nach den Gründen des Scheiterns steht noch immer im Raum. Die Ursache des Scheiterns ist ähnlich komplex wie es die Aufgabenstellung der Kommission war. War sie eine „unmögliche Mission“, weil sie fast zwangsläufig zerrieben wurde zwischen einer begrenzten Aufgabenstellung und einem Bündel von überschießenden und gegenläufigen Erwartungen? Fachhistorische Kommentare in Deutschland sprachen vom „blamablen Wissen der Experten“ und wiesen nicht zuletzt durch eine Detaildiskussion, deren leitendes Ziel nicht so recht erkennbar wurde, den Kommissionsmitgliedern den Schwarzen Peter zu.

Die Kommissionsmitglieder hatten gewiss unterschiedliche Optionen, kamen aber im Bestreben fachhistorischer Integrität ebenso überein wie in der Grundintention, mit ihrer Arbeit die öffentliche Diskussion zu versachlichen. Hier ist ihnen in der Öffentlichkeit manch unberechtigter Vorwurf gemacht worden. Es hat weiterhin einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der Öffentlichkeit gegeben; die römische Voraussetzung einer wissenschaftlich orientierten Arbeit im internen Forum ist im Vorfeld offenbar zu wenig mit dem amerikanischen Stil von Öffentlichkeit abgeglichen worden.

Nicht zu verkennen sind archivtechnische Schwierigkeiten, aber in einigen Phasen der Debatten schien sich doch auch eine Differenz aufzutun zwischen dem vatikanischen Staatssekretariat, welches die Hoheitsrechte über das Archivmaterial restriktiv handhabt, und der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden.

Politische Kontroversen lassen den Dialog über religiöse Fragen in den Hintergrund treten

Diese Differenz betraf sowohl den Rückhalt für eine unnötig scharfe und polemische Stellungnahme von Peter Gumpel, Gesprächspartner der Kommission bei einem vatikaninternen Treffen und Relator des Seligsprechungsprozesses von Pius XII., als auch den Spielraum für die Frage, ob dem Begehren der Kommissionsmitglieder nach Klärung weiterführender Perspektiven der gemeinsamen Arbeit Rechnung getragen werden könne. Offenbar gab es innerhalb der vatikanischen Behörden unterschiedliche Bewertungen des Ausmaßes und der Mittel der „Reinigung des Gedächtnisses“ der Kirche.

Kardinal Kasper hatte sein Verständnis der Archivfrage in seiner Erklärung vom 24. August so formuliert: „Der Wunsch vieler mit der Sache befasster Historiker nach einer Öffnung der vatikanischen Archive für die Zeit der Päpste Pius XI. (1922-39) und Pius XII. (1939-58) ist (. . .) verständlich und berechtigt“ (vgl. KNA - ÖKI 36, Dokumentation vom 4. September 2001). Immerhin hat eine zwischenzeitliche Mitteilung des Vatikans, seine Archive über Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland aus den Jahren 1922 bis 1939 für Wissenschaftler zu öffnen, die Teilöffnung der Sackgasse angezeigt. „Auch die vatikanisch-deutschen Dokumente aus der Pontifikatszeit Pius’ XII. (1939-1958) sollten auf Wunsch von Papst Johannes Paul II. vorzeitig freigegeben werden. Dem Papst liegt die Klärung jenes Zeitabschnitts mit dem Weltkrieg, den Judendeportationen und der Tragödie der Shoa sehr am Herzen, betont die von den Archivleitern unterzeichnete Erklärung“ (L’Osservatore Romano, dt., 22. Februar 2002).

Die nun doch mögliche vorzeitige und offenbar vom Papst selbst veranlasste Öffnung von Archivteilen darf als ein weiterer Beleg dafür gelesen werden, dass die katholisch-jüdische Beziehung eine solche Haltbarkeit hat, dass ihr Fortschritt auch Krisen wie die um das Projekt einer Internationalen katholisch-jüdischen historischen Kommission überwinden kann. Das schließt Folgerungen aus Enttäuschungen nicht aus. So scheint Kardinal Kasper den Radius der jüdischen Gesprächspartner über den Kreis des IJCIC hinaus erweitern zu wollen. Dabei denkt er weniger an politisch Interessierte und mehr an akademisch-theologisch Geprägte.

Die „politischen“ Kontroversen lassen zu oft die Reflexion und den Dialog über religiöse Fragen in den Hintergrund geraten. Diese aber gehen weiter und wechseln vom Dialog im christlich-jüdischen Gegenüber zur Vergewisserung in der eigenen Kammer. Dort wird dann gefragt, welche Folgen die Dialogerfahrung für das je eigene Selbstverständnis oder für die von der eigenen Tradition her vorgegebene Sicht des Anderen haben könne. Dass das Letztere in den zurückliegenden Jahrzehnten fast ausschließlich innerchristlich geschah, zeigt noch einmal die Asymmetrie in der geschichtlichen Last des christlich-jüdischen Verhältnisses an. Das Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ vom 24. Mai 2001 kann man unter anderem als einen Beitrag der Päpstlichen Bibelkommission zu solcher Selbstvergewisserung lesen; es hat eine aufmerksame und anerkennende jüdische Lektüre erfahren und die Hoffnung ausgelöst, dass künftig jüdische und christliche Exegeten ihr gemeinsames Studium der Midrasch- und sonstigen jüdischen Kommentarliteratur zur Hebräischen Bibel verstärken (vgl. HK, März 2002, 115 ff.).

Nun aber hat sich innerjüdisch eine bemerkenswerte Selbstvergewisserung im Verhältnis zum Christentum eingestellt. Die Bemühungen um eine Theologie nach Auschwitz waren in den siebziger Jahren mit dem Programmwort einer christlichen Theologie des Judentums verbunden. In diesem Kontext wurde gegenläufig die Frage nach der Möglichkeit einer jüdischen Theologie des Christentums diskutiert und im Allgemeinen auf die Position einer strukturellen Asymmetrie hingewiesen: Das Christentum beziehe bei der theologischen Auslegung seiner Identität notwendigerweise das Judentum ein. Für die Mehrheit der Juden dagegen sei das Christentum eine geschichtliche Größe, ohne eine religiöse Herausforderung darzustellen; „eine eigentliche jüdische Theologie des Christentums gibt es nicht und kann es nicht geben“, wie es einmal Zwi Werblowsky formulierte (Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Band 3, München 1991, 46-53, 47). Noch schärfer spitzte Jeshajahu Leibowitz zu: „Schon die Existenz des Judentums ist (. . .) für das Christentum ein schreckliches Problem; uns dagegen - geht das Christentum überhaupt nichts an“ (Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt 1990, 73).

Allerdings gab es auch andere jüdische Stimmen. Sie besagten, es genüge nicht mehr, auf die Möglichkeit rabbinischer Reaktion gegenüber Nichtjuden als Söhnen der „noachidischen Gebote“ oder als „Gerechten unter den Völkern“ hinzuweisen; es sei auch für die heutige Zeit zu wenig, die Einschätzung des Christentums (und des Islam) durch Maimonides als Wegbereiter des wahren Messias zu zitieren und die Tradition christentumsfreundlicher Haltung im jüdischen Mittelalter von Menachem Meir (13./14. Jh.) bis Jakob Emden (1697-1776) nachzuzeichnen. Vielmehr sei eine authentischere jüdische Reaktion auf das Christentum zu formulieren; der Pluralismus der Gegenwart verlange nach einer zeitgenössischen jüdischen Sicht des Christentums über die traditionelle Zweiteilung von „Israel und den Völkern“ hinaus. Aber solche Stimmen blieben etwa ein Vierteljahrhundert lang Einzelstimmen. Nunmehr haben sie eine korporative Verdichtung erfahren, die im innerjüdischen Ringen nicht mehr zu leugnen ist.

Das jüdische Dokument „Dabru Emet“

Am 10. September 2000 - also fünf Wochen nach Veröffentlichung von DI und wenige Tage nach der Seligsprechung von Pius IX. - erschien in zwei überregionalen Zeitungen Nordamerikas eine Anzeige unter der Überschrift „Dabru Emet: Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“. Ihr Text beginnt mit einer kurzen Einführung und enthält im Hauptteil acht Leitsätze, welche kurz erläutert wurden. Mehr als 170 Gelehrte, Frauen und Männer aus den verschiedenen Strömungen des amerikanischen Judentums, hatten diese Anzeige gezeichnet. Das Dokument ist die Frucht eines intensiven Diskussionsprozesses von acht Jahren in einer Gruppe jüdischer Gelehrter, die sich wissenschaftlich mit dem Christentum und näherhin mit der Frage befassten, welche Antwort das gegenwärtige Judentum auf die dramatischen Veränderungen innerhalb der Christenheit geben könnte. Die Autoren -Tikva Frymer-Kensky, Peter Ochs, David Novak und Michael Signer - sind eine Bibelwissenschaftlerin, ein Theologe und zwei Rabbiner; sie gehören den unterschiedlichen Flügeln des Judentums von der Reform über den konservativen Flügel bis hin zur Orthodoxie an.

Sie haben diesen Text etwa 300 Rabbinern, Gelehrten und Theologen in den USA und Kanada zugeschickt und sie gebeten, den Text zu lesen und ohne Änderung eines Wortes zu unterzeichnen - ein ungewöhnliches, aber erfolgreiches Verfahren. Einige der Unterzeichner hatten erhebliche Bedenken zu dem einen oder anderen Leitsatz, unterzeichneten aber trotzdem, weil sie den Vorgang für bedeutsam hielten, wie es auch in der Einleitung heißt:

„In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und unvorhersehbarer Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen. Während des fast zwei Jahrtausende andauernden jüdischen Exils haben Christen das Judentum zumeist als eine gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert, die dem Christentum den Weg bereitete und in ihm zur Erfüllung gekommen sei. In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit jedoch dramatisch verändert (.. .) Wir sind davon überzeugt, dass diese Veränderungen eine wohl bedachte jüdische Antwort verdienen. Als eine Gruppe jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen - die nur für sich selbst spricht - ist es unsere Überzeugung, dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat.“ So ist die Überschrift „Dabru Emet - Redet Wahrheit!“ ein Signalwort und hat programmatischen Charakter.

Der Hauptteil hat in der Anlage seiner acht Leitsätze so etwas wie eine theozentrische Grundlegung. Die Leitsätze lauten: „(1) Juden und Christen beten den gleichen Gott an. (2) Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch - die Bibel (das die Juden ,Tenach‘ und die Christen das ,Alte Testament‘ nennen). (3) Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. (4) Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Torah. (5) Der Nazismus war kein christliches Phänomen. (6) Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien. (7) Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen. (8) Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen“ (Zitate nach: Henrix/ Kraus, 974-976).

Der wichtigste Leitsatz dürfte der erste sein, impliziert er doch die Aussage, dass das christliche Verständnis von Gott als dem Dreieinen dem biblischen Monotheismus nicht kontradiktorisch widerspricht. In der ersten Phase der innerjüdischen Debatte hat die fünfte These den schärfsten Widerspruch erfahren, weil sie der geschichtlichen Wirklichkeit widerspreche und unter Christen den Sinn für die Verantwortung der Shoa mindere.

Dabei wird der Leitsatz in der Entfaltung folgendermaßen kommentiert: „Ohne die lange Geschichte christlichen Antijudaismus’ und christlicher Gewalt gegen Juden hätte die nationalsozialistische Ideologie jedoch keinen Bestand finden und nicht verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten sie. Andere Christen wiederum protestierten nicht genügend gegen diese Grausamkeiten.“ Dies ist innerjüdisch weithin konsensfähig, anders der dann unmittelbar folgende Satz: „Dennoch war der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums.“

Die deutsche Situation unterscheidet sich von der amerikanischen Gesprächslage

Die Rezeption des Dokuments „Dabru Emet“, dem ein wissenschaftlicher Kommentarband „Christianity in Jewish Terms“ (Westview Press 2000) an die Seite gestellt ist, steht noch in den Anfängen. Sie ist kaum über die amerikanische Diskussion hinausgegangen. Die nordamerikanische Bischofskonferenz hat unter dem Motiv „Die Macht der Worte: Eine katholische Antwort auf Dabru Emet“ ihre Wertschätzung ausgedrückt. Sie erinnerte daran, dass eine Gruppe von Christen bei einer Konferenz in der Schweiz vom August 1947 die zehn „Seelisberger Thesen“ veröffentlichte und ohne Rückhalt in ihren Institutionen auf das Gewicht der Worte vertraute, um in der christlichen Unterweisung zu tiefgreifenden Änderungen der Behandlung des Themas Judentum zu kommen; ähnlich prophetisch wie die Seelisberger Thesen könnte auch „Dabru Emet“ wirken. Kardinal Kasper würdigte „Dabru Emet“ ebenfalls als wichtigen vorwärtsweisenden Schritt.

„Dabru Emet“ ist in Entstehung und Inhalt ein Ergebnis sowohl des amerikanischen Judentums als auch des dortigen jüdisch-christlichen Dialogs, der ohne die Vitalität der amerikanisch-jüdischen Partner auf institutioneller und persönlicher Ebene so nicht möglich wäre. In Deutschland fehlen zum Beispiel nicht nur jene zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen, die es in den USA für die christlich-jüdische Forschung gibt, sondern auch vergleichbare Möglichkeiten christlich-jüdischer Begegnung an der Basis, die sehr wohl am amerikanischen Austausch beteiligt ist.

Gleichwohl gibt es „Agenten“ des christlich-jüdischen Verhältnisses in Deutschland, die das Gespräch auch unter der Erschwernis des Israel-Palästina-Konflikts weiterführen. Auf theologisch-wissenschaftlicher Ebene sind es vor allem Exegeten, welche das Gespräch mit jüdischen Kollegen suchen. Die systematischen Fächer halten sich zurück. Hier sollte ein ambitioniertes Forschungsprojekt „Judentum - Christentum. Konstituierung und Differenzierung in Antike und Gegenwart“ unter Leitung des Bonner Dogmatikers Josef Wohlmuth einen internationalen und interdisziplinären Diskurs anstoßen; Wissenschaftler aus den Bereichen Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, katholischer sowie evangelischer Theologie gingen in einer ersten verheißungsvollen Phase der Frage nach, wie die Prozesse der Ausbildung und Ausdifferenzierung jüdischer und christlicher Identität in Antike und Neuzeit aufeinander bezogen sind. Nun droht dem Projekt das Aus. Finanzielle Schwierigkeiten werden ins Feld geführt.

Auf der Kommunikationslinie von Wissenschaft und kirchlicher beziehungsweise allgemeiner Öffentlichkeit arbeiten kirchliche Akademien mit Beharrlichkeit an theologischen Themen des christlich-jüdischen Verhältnisses (Aachen, Berlin, Loccum, Mülheim, Stuttgart u. a.). Sie beteiligen dabei jüdische Dialogpartner und -partnerinnen aus Israel und den USA. Die Tagungen und Konsultationen finden nach wie vor ihre Zuhörer und bilden ein Forum der Vergewisserung für jene engagierte Dialogminderheit, die sich auch im aktuellen politischen Meinungsstreit zu Wort meldet. Ähnliches gilt für die beiden Zeitschriften „Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung“ (NF 1993/94 ff.) und „Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift“ (1985 ff.). Das stark nachgefragte christlich-jüdische Programm der Deutschen Evangelischen Kirchentage und der Katholikentage soll beim Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin seine Fortsetzung und Verbreiterung erhalten (vgl. auch die gerade erschienene Broschüre des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken: Auschwitz. Geschichte und Gedenken, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2002).

Der Deutsche Koordinierungsrat und seine mehr als 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit bemühen sich um die Begegnung an der Basis, wobei die thematische Arbeit stärker politischen, historischen und kulturellen Fragen gilt. Die jährliche „Woche der Brüderlichkeit“ hatte mit den Preisträgern der Buber-Rosenzweig-Medaille (in diesem Jahr Edna Brocke, Johann Baptist Metz und Rolf Rendtorff) und mit ihren Jahresthemen über viele Jahre hin der gesellschaftlichen Diskussion und der kulturellen Gedächtnisarbeit wichtige Namen und Stichworte gegeben. Sie ist jedoch in der Talkshow-Kultur und ihrer medialen Vermittlung in eine Krise geraten. Einen Bruch in der Weitergabe des christlich-jüdischen Engagements an die junge Generation wollen die Gesellschaften mit eigenen Foren für junge Erwachsene vermeiden. Ein beträchtliches Handicap für die hiesige Zusammenarbeit ist die Belastung der jüdischen Gemeinden durch die Herausforderung, ihre Mitglieder aus der früheren Sowjetunion zu integrieren.

So unterscheidet sich die deutsche Situation sehr von der amerikanischen Gesprächslage. Aber auch für sie sollte jene Überzeugung gelten, welche die Autoren und Unterzeichner von „Dabru Emet“ geäußert haben, nämlich dass jüdische und christliche Frauen und Männer und ihre Gemeinschaften eine gemeinsame Zukunft haben, welche der Welt Segen bringen kann. In der Vergangenheit haben die Auseinandersetzungen um religiöse Lehren unendlich viel Misstrauen und Gewalt nach sich gezogen. Heute bedürfen sie der Hoffnung und Zuversicht. Diese Hoffnung wird eine solche des „zweiten Mutes“ sein, welche um die Störanfälligkeit des jüdisch-christlichen Verhältnisses weiß und sich auch angesichts neuer Spannungsfelder nüchtern bewährt.

Editorische Anmerkungen

Quelle: HERDER KORRESPONDENZ 56, NR.7, 2002