Sehr geehrter Herr Bischof Neymeyr,
sehr geehrter Herr Professor Heil,
meine sehr geehrten Herren und Damen,
ich begrüße Sie alle sehr herzlich.
Ich kann direkt an das Gesagte anknüpfen. Denn auch ich sehe in dem Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ eine Riesenchance. Weil es neugierig macht auf die reiche jüdische Geschichte, weil es Lust macht, den jüdischen Glauben und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland heute näher kennenzulernen. Deshalb habe ich mich auch persönlich sehr gefreut, dass der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, das Jubiläum mit angestoßen hat.
Für uns Christen und Christinnen ist das Festjahr die Einladung, den jüdisch-christlichen Dialog noch einmal zu verstärken. Das Projekt #beziehungsweise ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Chance auch genutzt wird.
Nach katholischem Verständnis ist der jüdisch-christliche Dialog kein „Add on“, also etwas, was Kirche auch tut, sondern er gehört gleichsam zur DNA unseres Glaubens: Denn gemäß dem Zweiten Vatikanische Konzil versteht sich die Kirche nur dann selbst richtig, wenn sie mit dem gegenwärtigen Judentum im Gespräch ist; wenn sie das „Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes“– so hat Papst Johannes Paul II. das Judentum in Mainz 1980 genannt – immer mit im Blick hat.
Genau um diesen Dialog auf Augenhöhe zu führen, wurde vor 50 Jahren der „Gesprächskreis Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken gegründet. Seit 1971 arbeiten hier Juden, Jüdinnen, Katholiken und Katholikinnen kontinuierlich zusammen und sparen dabei auch heiße Eisen nicht aus. Ein solches Forum ist weltweit noch immer einmalig.
Natürlich hat das Festprogramm „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ auch zum Ziel, Vorurteile zu überwinden und dem wachsenden Antisemitismus entgegenzutreten. Es ist zutiefst bedrückend, dass am Jom Kippur in der letzten Woche wieder ein Anschlag auf eine Synagoge vereitelt werden musste. Und es ist zutiefst beschämend, wenn Juden und Jüdinnen in Deutschland 76 Jahre nach der Schoa Angst haben, wenn sie zum Gebet gehen oder sichtbar eine Kippa tragen. Die Gefahr ist real. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland nimmt seit Jahren kontinuierlich zu; trotz des Corona-Lockdowns lag sie 2020 sogar höher als 2019.[1] Und Antisemitismus ist ein fester Bestandteil von Verschwörungsmythen, wie wir es im Blick auf Corona erleben. Dass die Corona-Verschwörungsideologie gefährlich, ja mörderisch sein kann, haben wir in Idar-Oberstein auf grausame Weise gesehen.
Antisemitismus zu bekämpfen ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte in unserem Land. Denn Judenhass tritt das Versprechen unserer Verfassung mit Füßen, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist und dass alle Menschen in Deutschland das Recht haben, ihren Glauben frei zu leben.
Und auch für eine Theologie, die sich Nostra aetate verpflichtet weiß, widerstreitet jede Form von Antisemitismus ganz klar dem Geist des Christentums und der Würde des Menschen.[2] Deshalb engagieren sich auch viele Christen und Christinnen und Bistümer gegen Antisemitismus und für den Dialog.
Ich nenne hier stellvertretend das neue ökumenische Siegel „Zusammen gegen Antisemitismus“, das die Schulstiftung im Bistum Osnabrück entwickelt und gemeinsam mit der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen auf den Weg gebracht hat.[3]
Nun könnte man hoffen, dass Kirchenmitglieder weniger anfällig für antijüdische Einstellungen sind, weil die kirchliche Lehre so klar gegen Antisemitismus Position bezieht. Doch so einfach ist es leider nicht. Schon weil Gläubige und Amtsträger zugleich Teil der deutschen Gesellschaft sind, wo antisemitische Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist davon nicht automatisch auszugehen. Antijüdische Denkweisen sind deshalb nicht nur ein Problem der „Anderen“, Katholik:innen sind nicht nur Mahner:innen in die Gesellschaft hinein. Wir müssen uns vielmehr auch immer wieder selbst kritisch den Spiegel vorhalten.
Was aber können Christen und Christinnen zur Überwindung von Judenfeindschaft in Kirche und Gesellschaft tun?
Natürlich ist immer die Aufgabe, antijüdische Muster aufzudecken und bewusst zu machen. Zu erklären. Zivilcourage zu zeigen. Dies geschieht vielerorts, ermutigt auch durch kirchliche Schulungs-Programme gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Ich will aber noch drei Hinweise ergänzen, die mir persönlich wichtig sind.
Erstens: Innerhalb der Kirche muss es entschieden weiter darum gehen, Denkmuster zu überwinden, die ein überlegenes christliches Wir gegen ein jüdisches Anderes setzen. Die Gegensätze, die jahrhundertelang zur Judenverfolgung durch Christen und Kirche beigetragen haben, sind bekannt: alt und neu. Verheißung und Erfüllung. Gesetz und Evangelium.
Wie schwer es ist, sich von vorkonziliaren Traditionen loszusagen, sehen wir nicht zuletzt in der Debatte um die sogenannte Alte Messe. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass ich sehr dankbar bin, dass Papst Franziskus im Juli unmissverständlich klargestellt hat, dass die in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlichten Messbücher von Papst Paul VI. und Johannes Paul II. die einzige Ausdrucksform für die Gebetsordnung des Römischen Ritus sind.
Damit kann auch die 2008 von Papst Benedikt XVI. für den Außerordentlichen Ritus formulierte Karfreitagsfürbitte für die Juden, die im katholisch-jüdischen Verhältnis zu so viel Enttäuschung und Verletzung geführt hat, nicht länger beanspruchen, als Ausdruck der lex orandi zu gelten. Der Wunsch der katholischen Kirche für die jüdischen Glaubensgeschwister ist nun endlich wieder klar und eindeutig: Nicht für die Erleuchtung jüdischer Herzen wird gebetet, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen erkennen, sondern dass Gott sie bewahre in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen.
Auch für den gesellschaftlichen Diskurs – und das ist mein zweiter Punkt – können Christen und Christinnen einen kritischen Beitrag leisten, indem sie Denkmuster des christlichen Antijudaismus in Formen des säkularen Antisemitismus' entlarven. Damit können sie helfen, den Kern antisemitischer Argumentationen zu erkennen und offenzulegen.
Und drittens können Christen und Christinnen insgesamt in unserem Sprachgebrauch dafür sensibilisieren, keinen Gegensatz zwischen einem nichtjüdischen Wir und einem jüdischen Gegenüber aufzubauen. Wenn etwa in einer öffentlichen Ansprache zwischen „uns“ und „unseren jüdischen Mitbürgern“ unterschieden wird, so schließt das sprachlich die, die eigentlich als Teil – nämlich als „Mitbürger“ – angesprochen werden sollten, aus diesem Wir schon wieder aus. Noch augenscheinlicher wird das Sprachmuster, wenn – wie so oft – von „Deutschen und Juden“ die Rede ist. Dass Deutsche Juden sind und Juden Deutsche – das wird dabei nicht mitgedacht.
Das komplexe Problem Judenhass wirksam zu bekämpfen, ist schwer. Doch Bildung und Begegnung wirken nachweislich Vorurteilen und antisemitischen Einstellungen entgegen. Dieses Festjahr kann also auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass „Gerücht über die Juden“, wie Adorno den Antisemitismus nannte, weiter zum Verstummen zu bringen.