Jüdische Vorbehalte gegen die Messianität Jesu aus der Sicht eines christlichen Theologen

Referat bei der christlich-jüdischen Bibelwoche Graz-Mariatrost, Österreich, 2000 (leicht gekürzt)

Jüdische Vorbehalte gegen die Messianität Jesu aus der Sicht eines christlichen Theologen

Friedrich Wilhelm Marquardt

Dass ich bei unserem Wochenthema „Der Kommende – Jüdischer und christlicher Messianismus” den Anfang mache – und mit diesem Thema – ist ein Notbehelf, zu dem Erika Horn und Karl Mittlinger sich entschlossen hatten, als die Absage des treuen Freundes und Bibel-Lehrers Zwi Weinberg kam. Ich wusste, dass es durchaus eine jüdische Zurückhaltung dagegen geben kann, eine Woche lang – mit und unter Christen – über „den” Messias, „einen” Messias oder auch nur einen oft so genannten „jüdischen Messianismus” zu reden.

Es könnte nur deswegen schon zuviel des Guten sein, weil da mit allzu vielen christlichen Selbstverständlichkeiten, Selbstgewissheiten, Rechthabereien und geistlichen Begehrlichkeiten gerechnet werden muss, wodurch wir Juden leicht in die Verlegenheit bringen können, uns ständig zu korrigieren, falsche Vorstellungen und dogmatische Behauptungen richtig stellen zu müssen. Und zu so etwas lässt man sich nicht gerne einladen, besonders wenn das messianische Thema für einen selbst womöglich gar nicht so eine wesentliche Rolle spielt, wie „die Christen” es gerne hätten. Fast unvermeidlich könnte man als Jude zu einem Projektionsziel sei es nackter christlicher Neugierde, sei es eingewurzelter christlicher Vorurteile, sei es sogar offener oder wenigstens unterschwellig zu spürender Absichten werden – gerade beim messianischen Thema noch stärker, als man es als Jude unter Christen ohnehin schon ist.

Darum ist es dann vielleicht doch gut, einen Christen etwas von möglichen Peinlichkeiten sagen zu lassen, die ein Jude empfinden könnte, wenn er zu und mit Christen über Messianisches sprechen soll. Gershon Scholem, der Jerusalemer Kabbala-Forscher, hat es bereits im ersten Satz seiner großen Arbeit über „die messianische Idee im Judentum” gesagt: „Eine Erörterung des messianischen Problemkomplexes betrifft einen delikaten Bereich.”( Judaica 1963,7) Und obgleich er in seinem Aufsatz gar nicht auf ein christliches Messiasverständnis zu sprechen kam und sich ganz im Jüdischen hielt, nannte er das Thema „delikat”: „Ist es doch hier, dass der essentielle Konflikt zwischen Judentum und Christentum sich entscheidend entwickelt hat und fortbesteht”.

Das heißt doch: Selbst eine rein innerjüdische Darstellung der „messianischen Idee” ist umwittert von der christlichen Usurpation des Messias, und selbst eine rein historische, gar nicht religiös motivierte Betrachtung, wie die Scholemsche, muss mehr als einmal erzählen, wie ein innerjüdisches Messiasverständnis, angreifend oder verteidigend, von der Macht und Wirksamkeit der christlichen Umwelt mitbestimmt ist und sich oft gar nicht nur aus eigenen jüdischen Wurzeln und Bedürfnissen entwickeln kann.

Freilich ist das in der Welt des historischen Geistes meistens und überall so, aber im Falle des jüdischen Messianismus gibt es ja bis heute (und nicht nur in der Vergangenheit) den Druck des Christentums und seiner Macht, die wohl jedes christliche Gemeindeglied kennt (und womöglich selbst noch ausübt) in dem Gedanken: „Die Juden haben Jesus nicht als ihren Messias erkannt”, und darum leben sie uns Christen gegenüber mit oder in einem religiösen Defizit. Gerade ihnen seien wir Christen darum das Zeugnis von ihrem Messias schuldig und verpflichtet sie von ihrer Selbstverblendung zu befreien. Müssen wir uns wundern, wenn ein Jude das nicht mag und lieber zuhause bleibt?

Denn was sollte eigentlich das schon heißen: Jesus als Messias „erkennen”? Woran könnten denn Christen Jesus „alsMessias” erkennen? Das setzt ja voraus, dass man von vornherein Maßstäbe be-

sitzen würde für das, was ein Messias ist, bringen oder bedeuten soll. Alles, was wir Christen von Jesus zu wissen meinen, wissen auch wir nur von Hinterher, wenn wir überhaupt einigermaßen gewiss und einigermaßen übereinstimmend sagen können, was wir uns eigentlich z.B. unter einem „Sohn Gottes”, oder einem „Menschensohn”, einem „Heiland” oder einem „Herrn” und dann gar einem „Messias” vorstellen. In der Regel doch nur etwas, was uns die Kirche vorgesagt hat und aus 2000 Jahren starrer Gewöhnung kommt, jedenfalls nicht aus spontaner und unmittelbarer Erfahrung und Sprachgebung einer persönlich zu verantwortenden Erkenntnis und Begegnung mit Jesus.

Nach meiner Beobachtung lassen uns hier auch die meisten Gelehrten aus der Neutestamentler-Zunft in der Luft hängen, die zwar viel über die Herkunftsbereiche der sog. „Hoheitstitel” Jesu herausgepusselt haben, aber so gut wie nichts auf die Frage antworten können: Was ist eigentlich den frühen Zeugen Jesu widerfahren, als sie ihn einmal „Sohn Gottes”, einmal „Davidssohn”, einmal „Herr” oder „Hirte" und ein andermal wieder „Messias” nannten? Welcher Inhalt, welche Beziehung spricht sich in ihnen aus? Solange wir das weder fragen noch beantworten können oder wollen, sieht"s je so aus, als bedeuteten alle diese Namen dasselbe – Nuancen der historischen Herkunft hin und her: irgend etwas Besonders.

Wenn wir wissenschaftlich von „Hoheitstiteln” Jesu reden, dann meinen wir: Es sind alles Namen, die Gemeinden von Gläubigen ihm „beigelegt” haben, also rein von Menschen gewählte Nenn-Namen, die irgendeine menschliche Vorstellung und Wertschätzung in Jesus hineinprojizieren: „Uns ist so” als könnten wir ihn „Sohn Gottes” oder „Messias” oder was auch immer nennen, aber „fragt mich nur nicht wie" (Heinrich Heine) und warum. Aber selbst wenn wir Jesu Titel als Namen „von oben” begreifen wollten – dann erst recht wäre ja gut zu wissen, warum Gott ihn so verwirrend vielgestaltig nennt, und leicht könnten wir auch da zu der Ansicht kommen: Freilich, sie meinen alle etwas Besonderes, jetzt etwas göttlich-Besonderes, was immer das auch im Einzelnen sei.

Die Kirche hat 400 Jahre dafür gebraucht, um so ein göttlich-Besonderes Jesu herauszufinden und zur Sprache zu bringen. Da fällt uns auf, dass sie dabei mit der Zeit die alten biblischen Namen nicht etwa ausgelegt, sondern abgestoßen und eine völlig andere Sprache gebildet hat, in der wohl noch der eine Name „Sohn Gottes” vorkommt, freilich der Bibel gegenüber – in völlig verwandeltem Sinn –, aber nichts mehr von einem „Davidsohn”, „Menschensohn”, „Herrn”, „Hirten”, „Freund”, und schon gar nichts von einem „Messias”, der im christologischen Dogma der Kirche nicht ein einziges Mal vorkommt, von „wahrer Mensch” und „wahrer Gott”, von göttlicher und menschlicher „Natur”, von göttlichem „Wesen” bis zur Unkenntlichkeit überblendet. Das aber heißt: Auch wir Christen haben Jahrhunderte gebraucht bis wir gemeinsam Jesus „erkennen” konnten. Jesus ist als irgendwie erkennbarer „Messias” in der Christologie der Kirche untergegangen oder jedenfalls unsichtbar geworden, d.h. auch wir in der Kirche haben bisher Jesus gar nicht als „Messias” erkannt.

Für unser persönliches „Erkennen” Jesu bedeutet das, dass auch wir an Jesus gar nichts „erkennen”, weil die Kirche uns gelehrt hat, an ihn zu glauben, alle Erkenntnis aber dem Glauben unterzuordnen. Glaube ist aber von niemandem einklagbar. Kein Christ kann auch nur sich selbst zum Glauben überwinden, geschweige denn einen anderen und schon gar nicht einen Juden. Denn Glauben heißt und ist immuna, fiducia, personales Vertrauen im Ich-Du-Wir-Verhältnis. Da steht kein anderer für mich ein und ich kann auch für keinen anderen einstehen.

Solch persönlich begrenztes und bestimmtes Vertrauen hat Jesus wohl bei einigen Juden gewonnen, bei der Mehrzahl der Juden – wie auch bei der Mehrheit aller anderen Menschen – aber nicht. Bei den Juden u.a. deswegen nicht, weil die Kirche ihn als Messias Israels in der Predigt und Lehre zum Verschwinden gebracht und ihm statt dessen auf einer völlig anderen Ebene des Hoffens und des Erkennens nur allzu eindeutig gemacht hat, so dass er schon allein wegen dieser Gotteseindeutigkeit für Juden jedenfalls als Messias unerkennbar ist.

Christliche Verengung einer vielgestaltigen Tradition

Von allen Juden – abgesehen von den wenigen sog. Judenchristen – kann man wohl sagen, dass sie (gelinde gesagt) „Vorbehalte” gegen einen „Messias” Jesus haben, genauer: dass sie Jesus als Messias tatsächlich nicht „erkennen”, geschweige denn anerkennen können. Mir ist da eine Szene auf dem Kölner Evangelischen Kirchentag 1965 unvergesslich und lehrreich. Der Jerusalemer Pädagoge und Religionslehrer Ernst Simon antwortete da auf eine naive Frage aus dem Publikum: „Warum sind Sie Jude?” lakonisch, in mancher Beziehung sehr rätselhaft, aber sehr bestimmt: „Ich bin Jude, weil ich nicht Christ bin.” In späterer schriftlicher Fassung hat er dann diesen Satz ein klein wenig erweitert: „Ein Jude nimmt Jesus nicht als den Christus, den ,Gesalbten` oder Messias an; deswegen zählt er sich zu den Juden.” (Ernst Simon: Das gespaltene Gottesvolk, 1966, 161) Sein Nein zu Jesus Christus macht den Juden. Ich will das jetzt nicht kommentieren. Mich erschreckt es tief. Wir werden aber das zwischen Christen und Juden bestehende Problem begreifen, wenn wir uns dem Ungeheuren dieses Satzes annähern und lernen, darüber zu erschrecken.

Doch auch abgesehen von einem jüdischen Nein zu einem Messias Jesus, ist im Laufe der Jahrhunderte die Erwartung eines Messias-in-Person immer schwächer geworden. Sie ist heute schon nicht mehr „typisch-jüdisch”. Neben die Hoffnung auf einen Messias-in-Person trat die auf eine messianische Zeit im Gang der Weltgeschichte oder auch die auf eine messianisch durchleuchtete und geordnete Welt, in der Gottes Zielwillen auf eine gerechte und freie Friedensgesellschaft wenn nicht gleich vollendet, dann doch auf einen ganz neuen 0lam habba, einen ganz neuen Himmel über einer ganz neuen Erde hin wenigstens in Gang gebracht wird. Wir haben es also mit einer geschichtlichen Differenzierung messianischer Hoffnungen im jüdischen Volk zu tun, die, wie das immer bei großen geistigen Prozessen der Fall ist, sich leicht auch auf verschiedene Gruppen verteilt. Und nicht selten finden wir innerhalb eines geistigen Zusammenhanges gleichzeitig Altes und Neues beisammen, z.B. einen persönlichen Messias, eine messianische Zeit, eine neue Welt.

Es scheint fast nicht möglich, eine innerlich zusammenhängende Entwicklungsgeschichte des messianischen Gedankens zu schreiben: vom Werden einer messianischen Hoffnung in der Bibel, ihrer Entfaltung sei es durch Erweiterungen des Hoffnungsreichtums und seiner Bilder, sei es durch Verwandlungen dessen, was das jüdische Volk jeweils erhofft hat und unter immer neuen Lebenserschwernissen gerade noch hoffen konnte oder musste. Christen ist z.B. wenig bewusst, dass wir in der hebräischen Bibel keine einzelne klar ausgeprägte Messiasgestalt haben. Messiasse, das heißt für ihren Dienst zu höherer Würde Gesalbte, gab es mehr als einen und zwar aus ganz verschiedenen Berufen und Nationalitäten: gesalbte Priester, zum König gesalbte Herrscher, ab und zu auch einmal einen gesalbten Profeten, und gar nicht immer nur Juden, z.B. auch Cyrus von Persien wurde wegen seiner bedeutenden Rolle bei der Entlassung von Juden aus der babylonischen Gefangenschaft „Gesalbter”, also Messias, genannt (Priester z.B. Hab 4,9; Könige z.B. 2 Sam 22,21; Cyrus Jes 45,1; Profet Jes 61,1). Ja, das ganze Volk Israels hat nach jüdischen Berichten Gottes Salbung empfangen (Ez 16,9). Und wir Christen müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass uns, biblisch gesehen, das ganze jüdische Volk messianisch begegnet, also „Messias” angesehen werden kann.

Wichtig ist im Augenblick aber nur die Vielfalt des Messianischen in der hebräischen Bibel – wozu auch gehört, dass nicht alle, von denen erzählt wird, dass sie gesalbt wurden auch mit dem Namen eines Messias benannt worden sind. Und schon gar nicht werden sie alle mit einer über ihren Tod hinausreichenden Wirkung und Zukunftshoffnung verbunden. Rein quantitativ können wir abzählen, dass der König David am häufigsten mit der göttlichen Salbung ausgezeichnet erscheint und auf ihm, besser, seiner Nachkommenschaft, richtet sich auch ausdrücklich große Zukunftshoffnung: Ein Davidsohn soll und wird einst das Reich für Israel wiederherstellen. Die Zeugen Jesu standen noch in dieser Hoffnung und meinten, ihren Meister damit in Verbindung bringen zu können.

Aber die Kirche hat Jesu Davidsmessianität entweder nicht mehr wahrhaben wollen oder nicht mehr wichtig gefunden, hat die biblische Vielfalt der Messiasse abgewehrt und Jesu Werk mit einer Lehre von drei Ämtern beschrieben, die alles beinhalten, was er gewirkt hat: Er war in einer Person Priester, Profet und König zugleich und hat so alte messianische Zeugnisse des „Alten“ Testaments in sich vereinigt. Freilich gehörte dazu nicht auch Jesus der Jude, also nicht: Jesus als Glied seines messianischen Volkes. Erst durch die Kirche wird also aus einem unter mehreren biblischen Messiassen, die Figur „des”, des einen Messias angeblich jüdischer Erwartung.

Dass uns im Neuen Testament die noch ganz offene Messiasfrage überliefert wird: Bist du, der da kommen soll, oder: sollen wir auf einen anderen warten? (Mt 11,3), dass auch die Frage ganz offen gestellt wird: Wer sagen die Leute, dass ich sei?– und dann kommt eine ungeordnete Vielzahl verschiedener Möglichkeiten, wer oder was Jesus alles sein könnte: der Täufer Johannes, Elia, der nach bestimmten Vorstellungen Vorläufer des Messias werden soll, irgendein Profet (Mt 8,28), dies alles hat die Kirche nicht mehr lange offen gelassen. Sie hat sich auch nicht an Jesus selbst gehalten, der das Messias-Bekenntnis des Petrus mit dem „strengen Befehl” versah, sie sollten zu niemandem über ihn reden (Mt 8,39) Jesus wollte da unbesprochen, unausgesprochen namenlos und titellos, er wollte (können wir sagen) im Offenen bleiben, oder sich für alles offen halten.

Gerade das war aber, wie so vieles andere, gut jüdisch an ihm.

Damit wären wir nun bei einem Vorbehalt gegen messianische Verhandlungen mit Christen, den ich mir als jüdisch gut vorstellen könnte: Als Jude wäre mir unbegreiflich, dass Christen die reiche Namen- und Sinnvielfalt jüdischer messianischer Hoffnungen in diesen einen Jesus hineingepresst und dabei – unvermeidlich – das, was zu ihm nicht „passte”, wofür in der Erinnerung an ihn keine Anknüpfungspunkte zu finden waren, einfach verdrängten, mit der Folge, dass nur noch der Glaube an ihn bestimmen konnte, was mit dem Wort „Messias” und mit messianischer Hoffnung überhaupt gemeint sein könnte. Was Juden außerdem noch mit ihrer Messiashoffnung erwarteten – z.B. „Schwerter zu Pflugscharen” (Jes 2,4) – wurde dann als allzu „fleischliche” Schlaraffenland-Phantasie lächerlich gemacht und der Definitionsgewalt des christlichen Glaubens, der heidenchristlichen nichtjüdischen Mehrheit der Kirche unterworfen.

Offenheit als Vertrauensbekenntnis zum Gott Israels

Dabei ist neben dem „Davidssohn” der „Messias” der einzige rein jüdische und nur jüdische Hoffnungsname, der nicht wie die anderen Nenn-Namen Jesu auch aus anderen Kulturen und Religionen stammt. Einen „Messias” gab und gibt es nur in Israel. Genau diesen auf Israel zentrierten Sinn des Namens Messias hat die Kirche abgestoßen und universal verallgemeinert zu einer Heilshoffnung für alle, die gut und gerne an Israel vorbeigehen und es aus der Mitte seiner ureigensten Hoffnungen hinausstoßen kann. Dies vor Augen, bin ich ziemlich unzufrieden mit der Benennung des Messias als eines Heils-Bringers, Heils-Vermittlers oder auch mit der Schilderung der messianischen Zeit und Welt als „Heil”. Mit dem Namen „Messias” zusammen ist auch das Wort „Heil” so allgemein geworden, dass sich darin alles oder nichts unterbringen lässt, beliebigste Projektionen von Wünschen, Kampfzielen, gesellschaftlichen oder seelischen Interessen, denen aber allen das schlechthin Messianische, nämlich das jüdisch Messianische, das Glück und der Friede dieses Volkes in der Mitte der Völker fehlt.

Doch nun würde mich, wäre ich Jude, nicht nur diese Jesus-Festlegung des Messias und diese Israel-Vergessenheit beim sog. Messianischen bedrängen. Beides ist ja gleichbedeutend mit dem Absperren der grundsätzlichen Offenheit der messianischen Hoffnungen des jüdischen Volkes, die sich in ihrer dogmatisch nicht aufzulösenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit äußert: Wird ein Messias für Israel kommen oder eine neue Zeit oder eine neue Welt, in der alles Alte zur Makulatur wird? Ich sehe die Offenheit als ein Vertrauensbekenntnis zum Gott Israels an. Es liegt allein an seinem Wohlgefallen ob, wann und wie er Israels Sehnsucht stillen wird: ob durch einen wie David oder einen wie Mose oder gar nicht nur durch einen, sondern durch ihrer mehrere, ja viele: durch das ganze jüdische Volk unter den Völkern, oder dann vielleicht auch durch einen wie Jesus, sei"s mit, sei"s ohne, sei"s gar gegen seine christlich-kirchlichen Anhänger?

Den Messias von der Fülle messianischer Hoffnungen entlasten und sie an Gott allein, der sie geweckt hat, zurückgeben, das lässt sich an der Entwicklung des „messianischen Komplexes” im Judentum allenfalls als gemeinsame Tendenz erkennen: Die Wiederherstellung des Reiches für Israel, die Rück- und Heimkehr aller ins Land, der Weinstock für einen jeden, der Trost der Witwen und Waisen, die Heilung aller Krankheit, die Sicherheit der Schafe vor den Wölfen, die Öffnung des Gartens Eden, das neue Jerusalem.

Und nun muss ich sagen: Wäre ich Jude, sähe ich angesichts dieser Lage kaum Austauschmöglichkeiten mit Christen. Denn wie sollte ein Christ ein offener Teilnehmer an der messianischen Hoffnung Israels sein, wenn er nicht seine messianischen Festlegungen und Heilsverallgemeinerungen, und wäre es nur für einen Spalt, öffnen und die Frage noch einmal hören und aufnehmen könnte, die ihm sein eigenes Neues Testament als nicht verstummte jüdische Frage wenigstens ins Ohr flüstert: Bist du, der da kommen soll – oder sollen wir auf einen anderen warten? Dass Christen es überhaupt für denkbar, vielleicht sogar diskutabel hielten, dass man auch noch auf einen anderen als den Messias Jesus warten könnte – das erst könnte sie zu jüdisch interessanten Gesprächspartnern machen.

Ich persönlich wüsste schon, an wen ich bei einem solchen „Anderen” denken könnte. vorwärts an den Geist, den Jesus bei seinem Abschied seinen Jüngern zu schicken versprochen hat und den er ausdrücklich einen „anderen Beistand” nannte (Joh14,16): wobei „Beistand” vielleicht eine ganz gute Umschreibung für „das Messianische” sein könnte, Beistand besser als „Heil”, – oder rückwärts an ihn, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit all den Versprechungen und Verheißungen, die er in die Väter und Mütter Israels investiert hat. Wenn Jesus aus unserer Mitte fortgeht, geht er zu Gott, der den Abraham gesegnet hat mit der Zukunft: In deinem Namen werden sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde (Gen 12,3). Den Messias Jesus in Gott zurückdenken hieße nicht, ihm eine göttliche Natur, sondern geschichtlich in den von Gott gesegneten Abraham zurückdenken, in ihm ist das jüdisch-Besondere und das Menschheitlich-Universale des jüdischen Messianismus unmissverständlich da.

Mithin würden wir Christen jüdischgesprächsfähig, wenn wir den Messias Jesus aus dem Messianischen an Abraham „erkennen” lernten. Vielleicht dass dann umgekehrt Juden leichter „erkennen” könnten, was wir mit dem Messias Jesus meinen. Verbinden würde uns aber mit jüdischem Messianismus, wenn wir lernten, Jesus als Messias nicht einfach zu behaupten, sondern allererst zu erhoffen.

Enttäuschung über bisherige Messiasse

Das alles vielleicht schon Grund genug für eine jüdische reservatio mentalis unserem Unternehmen gegenüber. Aber anderes kommt hinzu, Innerjüdisches.

Vor allem die permanenten Enttäuschungen mit Menschen, die im Laufe der Geschichte sich selbst als Messiasse in Israel aufspielten oder solche, die als Messiasse breite Anerkennung fanden, wie Bar Kochba (132-135) oder Schabtai Zwi (1665) oder zu Luthers Lebzeiten David Reuweni (1523-1524) und dann doch enttäuschten, weil sie"s doch noch nicht waren. Es lassen sich – je nach dem – vor und nach Jesus, mehr noch nach Jesus, weit über 50 Messiasse in der Geschichte des jüdischen Volkes erkennen, ihre Geschichten erzählen; ihr Auftauchen und dann auch wieder Verschwinden. So dass wir im geschichtlichen Rückblick sagen müssen: Bisher gehört zum Phänomen eines Messias-in-Person, und übrigens auch zu allen messianischen Bewegungen die Enttäuschung – oder wie einmal Ernst Simon mir zu den biblischen Landverheißungen und zur israelischen Staatsgründung 1948 schrieb: die „Melancholie der Erfüllung”.

Nichts und niemand hielt bisher, was es oder er versprach, und zurück blieb, wenn nicht ein schaler Geschmack, dann doch eben eine „Melancholie”, eine schwarze Galle, ein Schwermut, ein Trübsinn, der sich gerade mit dem Messianischen verbindet. Dieses berühmte Wort zweier rabbinischer Lehrer Israels: des Ulla bar Jischmael aus der 3. Generation der Amoräer in Babylonien (an der Wende vom 3. zum 4. Jh. Zeitr.) und des Raba, des Josef bar Channa aus dem Lehrhaus von Machoza am Tigris (gest. 352 Zeitr.): „Möchte er [der Messias] doch kommen, ich ihn aber nicht mehr sehen!” (6 Sanhedrin 98b) Darin spricht sich ein solcher Überdruss an Hoffnung auf den Messias aus, dass wir gut nachempfinden können, warum die Ungeduld der Hoffenden eines Tages nichts mehr wissen wollte von einem Messias-in-Person und die Sehnsucht verlagerte nur noch auf eine kommende neue Welt.

Als „typisch-jüdisch” ist hier aber zu bemerken, dass im Talmud-Traktat Sanhedrin 98b an die Stimme des Überdrusses eine Stimme ungedämpfter Hoffnung – also wieder einmal das gerade Gegenteil von Ulla und Raba – angeschlossen wird: „Rab Josef hingegen ...” (bar Chiejja, Lehrer in Pumpadita, gest. 333, also Generationsgenosse der beiden anderen), der „sagte: Möchte er doch kommen und ich gewürdigt werden, im Schatten des Auswurfs seines Esels zu sitzen”; auch hier wohl ein Zurücktreten des Messias-in-Person zugunsten jenes Esels auf dem der Messias daher reiten soll, und selbst der Esel des Messias hält hier noch nicht die alte glühende Hoffnung fest, sondern der Auswurf des Esels, und nicht einmal sein Auswurf, nur im Schatten des Auswurfs hofft Rav Josef sich bergen zu können. Wenn das nicht Melancholie ist: Nicht der Messias, nicht sein Esel, nicht dessen Auswurf – nur der Schatten des Auswurfs; und daran klammert sich die Hoffnung, verzweifelt – aber sie gibt nicht auf, anders als bei Ulla und Raba.

Ich gestehe freimütig, mir fiele mein Bekenntnis zu Jesus Christus leichter, wenn meine Kirche und meine eigene Predigt damit so auf eine Zerreißprobe gestellt wären und auch seelisch soviel Melancholie freisetzten und freigäben, wie der Talmud es in der Bewahrung dieser drei Stimmen tut. Der Messias ist ein herzzerreißendes Projekt und Drama, mehr zu erleiden als damit laut und groß zu tun.

Je mehr sich nun freilich Israels Hoffen von einem Messias-in-Person zu einer messianischen Geschichtszeit und Gesellschaftswelt verlagerte, desto mehr trat die Last der Weltgeschichtlichkeit ins Bewusstsein. Zuerst spaltete sie die eine Person des Messias in zwei: eines politisch sich durchsetzenden David-Messias und einen für seinen Auftrag leidenden und an ihm sterbenden Josef-Messias. Aber dann hängte sich an die Messias-Erwartungen die Geisteswelt der aus Persien eingewanderten Apokalyptik an mit erschreckenden Katastrophen, Leidens- und Weltuntergangsansichten, die der Welt, wie sie jetzt ist, alle Verlässlichkeit absprach und durch und durch schlecht machte.

Allerdings war man im rabbinischen Judentum auch sensibel für den Preis, den die Aufnahme eines solchen weltgeschichtlichen, apokalyptischen Realismus in das Hoffen Israels kosten konnte: zu tiefes Akzeptieren der Leiden des jüdischen Volkes und – nicht nur, aber vor allem – in der christlichen Ära der Geschichte des Schattens des Kreuzes über Israel. Und damit vor allem: zu bedrohlicher Weltverlust und Verlust an Welt-Verantwortung zugunsten einer zu dubiosen Entweltlichung der jüdischen Existenz. Es gab rabbinische Lehrer, die das Lesen apokalyptischer oder auch nur apokalyptisch angehauchter Schriften verboten und ihre Aufnahme in den Tenach verhindern wollten, als seine Schriften im 2. Jahrhundert zu einem Bibel-Kanon gesammelt wurden.

Die Welt zum Guten verändern

Neben messianischer Melancholie nun auch noch Depressionen über den Zustand der Welt – ihnen sollte damit gewehrt werden. Und hier haben wir auch einen tiefsten Grund für das Nein zu Jesus als Messias: Er hat die Welt noch nicht zum Guten verändert, was allein die Aufgabe eines Messias wäre. Würden wir Jesus bei diesem gegenwärtigen Weltzustand als Messias begrüßen, dann müssten wir die Welt unserer geschichtlichen Katastrofen als unveränderbar akzeptieren, damit den wirklichen Messias ben David hingeben und die Pressionen der Weltgeschichte als Depresionen seelisch und geistig verinnerlichen. Damit aber gäben wir unser jüdisches Wünschen auf, Licht der Welt zu sein, und den glimmenden Docht unserer Gotteshoffnung nicht zertreten zu lassen (Jes 42,3).

Von daher versteht sich nun auch noch ein für heute letztes Vorbehalt der Vernunft gegen alles messianische Erwarten und Warten: Es wirkt irrational und kann ethisch lähmen. Das hat auch philosophische Zusammenhänge. Aber wie unsere kirchlichen Scholastiker des Mittelalters die Vernunft an den Glauben und Jesus Christus zurückgebunden haben, so die großen jüdischen Glaubensdenker des Mittelalters an die eigentümliche Gottes- und Weltvernunft der Tora. Die Vernunft der Tora dämpft jeden Ausbruch messianischen Erwartens in das, was auch Luther im Namen seines Christus als „Schwärmerei” bezeichnet und sowohl geistig wie blutig bekämpft hat. Die Tora mit ihren Geboten heftet Menschen an die Bewältigung je eines Tages und einer Nacht, so sehr sogar an Stunden und Minuten, dass kaum Kräfte bleiben für ein Hinüberträumen in fernere Zeiten.

Das heißt nicht, dass die Tora ihr Volk zukunftslos machte und nur im Jetzt festhielte. Freilich tat sie auch das. Fragt jemand nach messianischer Erfüllung, wird ihm geantwortet: Siehe jetzt ist der Tag des Heils – so wie auch Paulus es seinen Christen vorgehalten hat (2 Kor 6,2) – Heute, so ihr seine Stimme höret, verstockt eure Herzen nicht (Ps 95,7). Doch gleichzeitig begleitet die Tora die, die sie tun und studieren, diesen Äon hinüber in den kommenden, in den olam habba, hinüber in die kommende neue Welt. Sie „begleitet”, nicht sie zu „erfüllen” ist die Voraussetzung dafür, dass Gott uns die neue Welt öffnet. Nein, die Tora und unsere Beschäftigung mit ihr ist der Weg des Lebens und der Wahrheit. Also selbst eine messianische Wirklichkeit. Da sie aber von Menschen getan und studiert werden will Tag und Nacht, beteiligt sie Juden am messianischen Weg mit ihrem Tun und lehrt auf Gott zu warten, indem sie Tag für Tag auf Gott zuzueilen lehrt.

Durch diese Teilnahme der Menschen wird das Volk selbst zu einer messianischen Wirklichkeit, die wohl nicht einen kommenden Messias oder den kommenden Äon ersetzt, ihn auch nicht seiner eigenen Zeit vorwegnimmt, die aber einem tatenlosen Warten wehrt, und damit einer Unvernunft des Messianismus, der sich das Kommen des Messias oder der neuen Welt nur mythologisch wie einen rational unfassbaren Einbruch von Transzendenz in unsere Welt vorstellt – ganz gleich, ob der metaphysich von „oben” oder weltgeschichtlich aus menschlich-götllichen Weichenstellungen einer Theopolitik gedacht wird. Die Tora ernüchtert die messianische Sehnsucht, und rationalisiert das Hoffen, indem sie uns etwas zu tun gibt, was niemand außer uns tun kann.

Erst wenn wir Christen dem messianischen Tun Jesu beispringen, es nicht bei dem von ihm vollendeten Werk lassen, und erst, wenn wir nicht nur Seelen für ihn, sondern die Welt für Gott zu gewinnen suchen, sind wir vorbereitet, mit Juden über den jüdischen Messianismus, gar über „ihren” Messias so zu sprechen, dass wir damit vielleicht die Ebene von Ich und Du, und die Tiefe eines Dialogs von Hoffenden erreichen.