Jüdische Stimmen zu Jesus

In jüngerer Zeit läßt sich eine bemerkenswerte Wiederentdeckung Jesu durch jüdische Gelehrte feststellen. Dabei wird immer wieder auf seine tiefe Verwurzelung im Judentum hingewiesen. Die meisten Ansätze sind stark von (christlich-) dogmatischen Vorgaben wie Messiasvorstellung oder Hoheitstitel beeinflußt. Gefordert wird daher eine neue Diskussion um Jesus ohne christologische "Vor-Urteile".

Jüdische Stimmen zu Jesus

In jüngerer Zeit läßt sich eine bemerkenswerte Wiederentdeckung Jesu durch jüdische Gelehrte feststellen. Dabei wird immer wieder auf seine tiefe Verwurzelung im Judentum hingewiesen. Die meisten Ansätze sind stark von (christlich-) dogmatischen Vorgaben wie Messiasvorstellung oder Hoheitstitel beeinflußt. Gefordert wird daher eine neue Diskussion um Jesus ohne christologische „Vor-Urteile". . 

Der Umgang des Judentums mit dem Christentum schien in den letzten Jahrzehnten ausgespannt zu sein zwischen den beiden Polen der völligen Ignoranz und dem massiven Bestreben nach Dialog.[1] Bis heute findet sich auf der einen Seite dieses Spektrums die extreme Orthodoxie, die mit dem Christentum schlechterdings nichts anzufangen weiß und sich auch nicht um Verständigung bemüht. Ihr Hauptanliegen ist die "Neuevangelisierung" des Judentums von der Orthodoxie her.

Daneben existiert nach wie vor eine berechtige Skepsis gegenüber dem Christentum auch in nichtorthodoxen Kreisen. Der Holocaust-Theologe Eliezer Berkowitz formulierte es so: "Alles, was wir von den Christen wollen ist, daß sie ihre Finger von uns und unsern Kindern lassen"[2] Die andere, die dialogbereite Seite, wurde lange Zeit im deutschen Sprachraum von einigen wenigen Namen beherrscht, die von ganz unterschiedlicher Qualität zeugen.

1. Flusser, Ben-Chorin, Lapide

Neben Martin Buber, der Jesus stets als seinen "großen Bruder"[3] bezeichnete, sind Pinchas Lapide, Schalom Ben-Chorin oder David Flusser weiten Kreisen ein Begriff geworden. Während m. E. Pinchas Lapide im Judentum selbst kaum anerkannt wird, führte Schalom Ben-Chorin mit seinem Sohn eine liberale jüdische Gemeinde in Jerusalem (´Or Hadash), die inzwischen auch in Österreich einen Ableger hat. David Flusser wirkte jahrelang als Professor für Neues Testament und frühes Christentum an der Hebrew University in Jerusalem. Sein Vermittlungsversuch des Christentums soll Juden wie Christen betreffen. Flussers Zugang zu Jesus ist nun tatsächlich einige Beobachtungen wert. Bereits 1968 erschien bei Rowohlt sein "Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten". Darin findet sich viel Lesenswertes über Flussers Jesusbild. Jesus sei demnach in Nazaret geboren, habe - als Ältester - vier Brüder und Schwestern gehabt, sei um 28/29 getauft worden und im Jahr 30 oder 33 gestorben. Die Jungfräulichkeit Mariens leugnet er nicht, zumindest nicht explizit. Flusser betätigt sich als Biograf Jesu, berichtet über seine Bildung, die Spannung mit der Familie, die sich erst nach Jesu Tod zum "Glauben" bekennt. Flusser berichtet von der Taufe und Geistbegabung Jesu als historischem Ereignis. Johannes sei der endzeitliche Elija gewesen und mit Jesus sei das Königreich Gottes angebrochen. Jesus sei kein rationalistischer Theoretiker gewesen und habe sich zwar gegen den "Starrsinn der Stockfrommen"[4] gewendet, selbst aber nur die sittliche Seite gegenüber der rituellen des Gebotes betont und es nicht aufheben wollen. Insgesamt sei Jesus - und hier ist Flusser sicher auf dem richtigen Weg - ein Jude gewesen, der sich zu Juden gesandt fühlte. Die Pharisäer erscheinen bei Flusser wiederum recht unhistorisch klischeehaft, werden aber von jeder Schuld am Tode Jesu freigesprochen. Flusser legt Jesus in seiner Botschaft in der Peripherie der Essener an, ohne ihn mit diesen gleichzusetzen. Das Nahen des Königreichs Gottes sei ein zentraler Punkt der Verkündigung gewesen, in der die Umwertung aller Werte und nicht nur die soziale Dimension hervorstechen. Stichwort dazu wäre "realisierende Eschatologie" durch Jesus. Ähnlich wie später Geza Vermes bringt auch Flusser die Nähe Jesu zu den jüdischen Charismatikern Choni oder Chanina ein. Aber gegenüber Vermes betont er die Einzigartigkeit der Sohnschaft Jesu als Folge der Erwählung durch den Heiligen Geist. Diese sei historisch jedoch eigentlich erst bei der Verklärung erfolgt, die Flusser somit ebenfalls als geschichtlich ansieht. Dieses Bewußtsein der Sohnschaft sei von Anfang an überschattet von der Todesahnung gewesen. Jesus habe aber seinen Tod nicht gewünscht oder gar als heilbringend erachtet. Dies sei Ergebnis nachjesuanischer Theologie. Jesus selber habe sich aber - nach anfänglichem Zögern - wohl selber als Menschensohn im Sinne eines endzeitlichen Richters verstanden.

Über 20 Jahre später - 1990 - erschien im Kösel-Verlag München Flussers Buch "Das Christentum - eine jüdische Religion". In ihm äußert er sich zu Maria, zu Christusliedern, zu den jüdischen Wurzeln des Christentums, der Messiaserwartung Jesu, zu Paulus und zum gemeinsamen Auftrag der Brüderlichkeit. Viele Annahmen wiederholt er aus seinem Jesusbuch. Er insistiert darauf, daß Jesus Johannes als Elija gesehen habe und vor allem darauf, daß Jesus der einzige antike Jude gewesen sei, der den Anfang des Königreiches Gottes predigte. Er selbst habe sich als Messias gesehen: "Solange daran nicht manche christliche Neutestamentler zu zweifeln begonnen haben - und sogar erklärt haben, das Leben Jesu sei unmessianisch gewesen (wie sieht denn ein messianisch lebender Mensch aus?) -, ist es keinem Juden eingefallen, an dem messianischen Selbstbewußtsein Jesu zu zweifeln... ich habe in den letzten Jahren viel Kraft und Fleiß darauf verwendet, sowohl hebräisch als auch englisch zu zeigen, daß sich Jesus als der Messias, der kommende Menschensohn wirklich verstanden hat".[5] Nach Flusser habe Jesus urjüdische eschatologische Motive umgruppiert: nach der biblischen Zeit realisiert sich das Königreich des Himmels und wartet weiter auf das endzeitliche Gericht des Menschensohnes. Flusser gelingt es so - und dies muß man ihm als Verdienst anrechnen - die Bedeutung der irdischen Wirksamkeit Jesu gegenüber dem sog. Sühnetod zu betonen. Seine penetrante Verteidigung der Messianität Jesu als zukünftiger Menschensohn zeigt aber gerade seinen persönlichen Zugang auf. Flusser interpretiert Jesus als Juden, vor und nach der Auferstehung. Aber er macht den unübersehbaren Versuch, den Juden Jesus als einmalig, als göttlich, als Messias erscheinen zu lassen. Flusser ist zweifellos um den Dialog bemüht, er äußert bedenkenswerte theologische Positionen, bleibt in vielen Einzelfragen m. E. aber zu unkritisch. Die Bezüge zwischen Essenern und Johannes d. Täufer, Jesus und Paulus, die Theologie der "Pharisäer" u.a. bedürfen einer weit differenzierteren Sicht. Menschensohn, Messianität und Prophetenamt sind weitere Stichwörter, die viel Diskussion aufwerfen und in bezug auf Jesus mit großer Akribie untersucht wurden. Flusser ist hier zweifellos zu ergänzen und auch zu korrigieren.

Schalom Ben-Chorin hat schon in seinem Buchtitel "Bruder Jesus. Mensch - nicht Messias", München 1967, klargemacht, daß er Flussers Thesen nicht teilt. Seine Ausführungen unterliegen jedoch zum Teil derselben Kritik: zu viel wird als sicher vorausgesetzt, die Schulen Hillels und Schammais, die Pharisäer, all das sind Größen, die klar umrissen scheinen. Jesus stünde demnach den Pharisäern am nächsten. Er sei ein Rabbi, deshalb wohl auch verheiratet gewesen. Im einzelnen anders als Flusser und doch methodisch ihm gleich unterscheidet Ben-Chorin zwischen historisch glaubwürdigen und unglaubwürdigen Aussagen von und über Jesus. Die Auferstehung erscheint ihm so erst durch Paulus bedeutsam und historisch ungewiß. Anders als Flusser, der gerade in den Menschensohnworten Hinweise auf Jesu Messianität sieht, meint Ben-Chorin: "Das ist der Mensch schlechthin. Der Mensch, wie du und ich, der in seiner Geringfügigkeit exemplarische Mensch. Als diesen Menschen, der in seiner Menschlichkeit exemplarisch lebt, unbehaust und den Leiden ausgesetzt, hat sich Jesus selbst verstanden. Indem er sich als Menschensohn bezeichnet, steht er nicht als Prophet oder als Messias, sondern als Bruder vor uns. Und da er der Menschensohn ist, bricht in ihm die Frage des Menschen auf: `Wer bin ich?´"[6]

Pinchas Lapide schließlich ist bekannt für sein pointiertes Eintreten für den jüdischen Jesus und formuliert so etwa in einem 1979 erschienenen Buch "Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen"[7] 3 Thesen:

1. These: Jesus hat sich seinem Volk nicht als Messias kundgegeben;

2. These: Das Volk hat Jesus nicht abgelehnt, und

3. These: Jesus hat sein Volk nicht verworfen.

Die streitbare und leider zu plakative Form der Auseinandersetzung mit dem Thema prägt das gesamte Buch. Der historische Jesus soll darin von den Verfälschungen und Verzerrungen befreit werden, die bereits die Evangelisten anbrachten, um des Rabbi Jesu Messianität zu beweisen. Implizit unterstellt Lapide schon dem frühen Christentum, Jesus aus antijudaistischen Motiven hochstilisiert zu haben. Mag im einzelnen letztlich vieles von Lapides Grundannahmen stimmen, bleiben die Art und Weise der Darstellung und seine oft viel zu wenig reflektierten Behauptungen zu kritisieren. Sie stützen sich wie bei Flusser oder Ben-Chorin ebenso wieder auf ein vorliegendes unreflektiertes Bild des "Kernjudentums" zur Zeit Jesu. Je verschwommener, undeutlicher und offener dieses Bild wird, umso mehr versinken die Zugänge zum "Juden" Jesus in Spekulation. Allgemein kann festgehalten werden, daß die jüdischen Zugänge zu Jesus von einigen wenigen Fragen geleitet sind. Dazu gehören eben die Messiasfrage (Hoheitstitel), der Zugang zur Tora, seine "Gruppenzugehörigkeit" und die Frage nach der Schuld am Tod. Diesbezüglich erwähne ich auch die Arbeiten von J. T. Pawlikowski.[8]

2. Die Arbeit Donald A. Hagners

Vor allem in der englischsprachigen Literatur tat und tut sich einiges. Bruce Chilton faßt in seinem jüngst erschienenen Artikel die Ansätze zusammen[9] und bereits 1984 hat Donald A. Hagner in seinem Buch "The Jewish Reclamation of Jesus"[10] wichtige jüngere jüdische Stimmen zu Jesus zusammengetragen und befragt. Er konzentrierte sich dabei auf so wichtige Gelehrte wie Claude Goldsmith Montefiore, Israel Abrahams, Joseph Klausner, Geza Vermes, Samuel Sandmel und auf die schon genannten Ben-Chorin, Flusser, Lapide. Hagners Arbeit zeigt an vielen Beispielen die Bemühungen auf, die jüdische Autoren dieses Jahrhunderts darauf verwenden, Jesus als den ihren, den jüdischen, wiederzugewinnen. Hagner zeigt an heiklen Themen die jüdischen Standpunkte auf, so zu den Antithesen der Bergpredigt, den Sabbatregelungen, der Autoritätsfrage, dem Scheidungsrecht, den Speisegeboten, ethischen Weisungen Jesu, der Feindesliebe usw. Besonderen Raum nimmt natürlich auch die Person Jesu ein: Messiasfrage, Menschensohn, Sohn Gottes. Hagners Arbeit zeigt deutlich auf, wie sehr die eigenen theologischen Positionen in die Beurteilung Jesu eingeflossen sind. Er hebt die Bedeutung der Aufklärung im Judentum hervor, die das Interesse an Jesus beflügelt hat. Er geht auf die verschiedenartigen Schwierigkeiten ein, die sich den jüdischen Wissenschaftlern beim Umgang mit Jesus stellten. Vor allem in Fragen der Halakha, aber natürlich auch im Selbstverständnis Jesu suchen die Autoren ganz unterschiedlich nach Wegen, die es erlauben, Jesus im Kontext eines rabbinischen Judentums zu halten. Ich will dies an einem einzigen Beispiel erläutern, nämlich der Frage nach dem Sabbatgebot.[11] Montefiore etwa sah im Verhalten Jesu eine Bestätigung der von ihm vertretenen liberalen Position, daß manche Halakhagebote absurd und legalistisch waren. Abrahams sah ähnlich wie Montefiore Jesus die Halakha brechen, wobei er die Sabbatregelungen der Schulen Hillels und Schammais als historische Voraussetzungen akzeptierte. Auch für Klausner oder Cohen war Jesu Sabbatverhalten ein Halakhabruch. Andere wie Jacobs, Schonfield oder Trattner sahen in Jesu Verhalten keineswegs einen Halakhabruch, sondern nur einen Widerspruch gegenüber "haarspalterischen" Pharisäergruppen. Daube verwies auf die Argumentation Jesu in Mt 12, die ihm letztlich gut rabbinisch erschien. Nach Kohler habe sich Jesus einfach an die Schule des Hillel angehängt. Nach Flusser sei das Ährenraufen am Sabbat ein griechischer Übersetzungsfehler aus einem hebräischen Original des Mk. Das Aufheben herabgefallener Ähren, ihr Zerreiben in den Händen sei auch am Sabbat erlaubt gewesen. Erst die spätere Übersetzung habe daraus ein Ährenraufen gemacht. Nach Flusser komme dazu, daß nicht Jesus, sondern nur die Jünger sich diesbezüglich schuldig machten. Besonders interessant sei der Umstand, daß die Heilung einer verdorrten Hand am Sabbat, im Gegensatz zu anderen Heilungen, nur mit dem Wort und ohne Berührung erfolgte, was somit auch an Sabbaten erlaubt wäre. Lapide und Vermes schließen sich hier an. Vermes erwähnt allerdings gerechterweise auch Lk 13,13ff, wo Jesus eine kranke Frau am Sabbat sehr wohl berührt, deutet dies aber als Sondergut des Lukas, der damit die - ansonsten unverständlichen - Vorwürfe gegenüber einem die Sabbathalakha brechenden Jesus untermauern würde.

M. E. zeigen die Beispiele sehr deutlich ein Dilemma der jüdischen Auslegung auf, das sehr häufig anzutreffen ist. Ich meine den Versuch, Jesus mit dem sog. "rabbinischen Judentum" in Einklang zu bringen. Ein solches ist vor der Mischna und den frühesten Midraschim nicht greifbar, und das ist nun einmal fast 200 Jahre nach Jesus. Immer wieder strapazierte Texte wie die Pirqe Abot erweisen sich bei näherem Hinsehen zusehends als spät. Der konkrete politische, soziale und religiöse Einfluß der Rabbinen war in frühen Zeiten weit geringer als die Schriften vorgeben. Und insgesamt müßte weit eher die sog. zwischentestamentliche Literatur auf Parallelen zu Jesus befragt werden als die rabbinische, wenngleich freilich diese auch Reminiszenzen auf frühere Epochen bietet, die jedoch sehr genau zu prüfen sind. Die jüdische Jesusdeutung unterliegt hier auf weiten Strecken einem ähnlichen Problem wie die christliche. Ist es dort die traditionelle Sicht Jesu als Neuerer, der sich vom rabbinischen Judentum absetzt und dieses sprengt, so hat die jüdische Deutung sich bemüht, zumindest den historischen Jesus in die rabbinische Tradition einzufügen. M. E. verstellt das kontroverstheologische Vor-Urteil von vornherein eine ungezwungene Suche nach dem wirklichen Jesus von Nazaret. Bewußt oder unbewußt wird er in ein Schema gepreßt, vorgegeben von einem dogmatischen Christusbild und einer konservativen Rabbinistik. Dies gilt selbstverständlich für die klassische christliche Exegese, die Jesus zumeist in Abhebung von einem Strack-Billerbeck-Judentum als torakritischen Erneuerer definierte, mit einer nicht geringen eschatologischen Erwartung und starkem Selbstbewußtsein, das sich als Exklusivbeziehung zum Abba-Gott darstellt. Die jüdischen Gesprächspartner haben dagegen die Einbindung des toratreuen Jesus in das Judentum betont und nicht davor zurückgeschreckt, auch Zuordnungen zu Gruppen zu treffen (Pharisäer[12], Zelot{13). Neuere Zugänge bemühen sich um stärkere Flexibilität, aber die wirklich großen Entwürfe eines umfassenden Jesusbildes sind trotz unübersehbarer Literatur rar.

3. Geza Vermes

Ich möchte hier kurz an die Arbeiten von Geza Vermes erinnern.[14] Sein Ansatz scheint mir, bei kritikwürdigen Details, bislang der ausgereifteste und vernünftigste zu sein. Der britische jüdische Historiker hält fest, daß es ihm um den historischen Jesus geht. Er beginnt daher seine Ausführungen mit den Daten zur Person, stellt Jesus als Zimmermann, Lehrer, Heiler, Wundertäter und Exorzist vor, geht auf seine Einbindung in Galiläa ein und zeigt in besonderer Weise Parallelen zu den charismatischen Frommen auf. Bekannt sind hier Choni der Kreiszieher oder Chanina ben Dosa. Als in Galiläa beheimatete Wundertäter mit einer sehr persönlichen Gottesbeziehung seien sie am ehesten mit dem historischen Jesus zu vergleichen. Der gesamte zweite und dritte Teil des Buches ist - und hier entspricht Vermes ganz der genannten Tendenz - den Hoheitstiteln (Prophet, Herr, Messias, Menschensohn, Sohn Gottes) gewidmet. Auch Vermes sieht sich demnach genötigt, intensiv auf die Debatte um die Person des Christus einzugehen. Und er tut dies unter Rückgriff auf zwischentestamentliche und rabbinische Literatur äußerst gewissenhaft und argumentativ. Demnach ließe sich für Jesus weder ein Selbstverständnis als Messias noch als hoheitlich mißverstandener Menschensohn im Sinne der späteren Danielrezeption feststellen. Bezüglich der Sohnschaft Jesu weist Vermes wieder auf Parallelen zu den charismatischen Wundertätern hin. Choni galt als "Haussohn" bei Gott und von Chanina heißt es: "Die ganze Welt wird um meines Sohnes Chanina willen genährt; aber mein Sohn Chanina ist mit einem Kab Johannisbrot von einem Sabbatvorabend zum nächsten zufrieden" (bTaan 24b). Auch R. Meir wird von Gott als "mein Sohn" bezeichnet (vgl. bHag 15b). Wie bei Jesus erkennen auch die "rabbinischen" Dämonen die Wundertäter an. Chanina etwa wird von der Königin der Dämonen, Agrat, angefleht, ihr doch wenigstens Mittwoch und Freitag abend als Betätigungsfelder zu lassen, was Chanina gewährt. Für Vermes gilt jedenfalls, daß Jesus selbst sich im Rahmen eines bunten Spektrums jüdischer Persönlichkeiten der Zeit recht gut einordnen lasse und konstatiert erst für die hellenistische Kirche die Tendenz, den Jesus der Evangelien aus dem Judentum herauszureißen und als Gott zu überhöhen. In seinem äußerst unpolemisch gehaltenen Buch äußert Vermes nur sanft Vermutungen über die Motivation der Christen, Jesus als Messias zu verherrlichen: "Die Wortstreiter für das Christentum scheinen einem eingebürgerten Verfahren gefolgt zu sein: Das Evangelium war perfekt, aber mit den Juden war etwas grundsätzlich verkehrt. Deren Widerspenstigkeit in der Zurückweisung des Messias, der größten aller göttlichen Verheißungen an Israel, war der Höhepunkt einer uralten Verderbtheit, und diese war der Hauptgrund dafür, daß ihre Privilegien nun unwiderruflich auf die Nichtjuden übergegangen waren"[15]]. Eigentlicher Rädelsführer der Umdeutung Jesu zum Christus sei - und hier trifft sich Vermes mit beinahe allen jüdischen Jesusforschern - natürlich Paulus: "Ich vermute, daß von dem Augenblick an, als Paulus als »Apostel der Heiden« (Röm 11,13; Apg 9,15) anerkannt und eine an Nichtjuden gerichtete Mission von der Kirchenführung in Jerusalem gebilligt worden war (Apg 15), die urspüngliche Ausrichtung des Wirkens Jesu radikal umgeformt wurde. Nichtjuden traten der Kirche in großer Zahl bei, und sie tat - in Übereinstimmung mit dem damals im Judentum vorherrschenden Konversionsmodell - ihr bestes, den neuen Anforderungen gerecht zu werden und sich der veränderten Situation anzupassen... Eine andere einschneidende und an die Substanz gehende Veränderung infolge der Verpflanzung der christlichen Bewegung auf heidnischen Boden betraf den Status der Tora, die für Jesus die Quelle der Inspiration und den Maßstab für seine Lebensführung darstellte. Trotz Jesu gegenteiliger Anordnung wurde sie nicht nur für unverbindlich, sondern für abgeschafft, annulliert und überholt erklärt. Die Tora, die er mit solcher Einfachheit und Tiefe aufgefaßt und mit solcher Integrität für das, was er als dessen innere Wahrheit sah, umgesetzt hatte, wurde von Paulus hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkung als ein Instrument von Sünde und Tod definiert... Derselbe Paulus ist ... dafür verantwortlich, daß die imitatio Dei eine beispiellose Wendung nahm, die die große Kluft zwischen Judentum und Christentum schuf"[16]. Die Einführung von Mittlern und der Christozentrismus gegenüber dem Theozentrismus Jesu trenne daher Christen von Juden, nicht aber Juden von Jesus. Denn Jesus "aus Fleisch und Blut (wurde) in Galiläa und in Jerusalem gesehen und gehört, kompromißlos und beharrlich in seiner Gottes- und Nächstenliebe, überzeugt davon, daß er seine Mitmenschen durch Beispiel und Lehre mit seiner eigenen leidenschaftlichen Beziehung zum Vater im Himmel anstecken könnte. Und dies tat er... Viele Zeitalter sind vergangen, seit der einfache jüdische Mensch der Evangelien in den Hintergrund trat, um für die prächtige und majestätische Figur des kirchlichen Christus Platz zu machen".[17]

Nun ist die Zuordnung Jesu zu den Charismatikern nicht neu - Vermes greift hier selbst auf George Foot Moore zurück - und nicht alles am Entwurf unproblematisch. Chilton äußert mehrere Kritikpunkte, auf die ich hier nicht näher eingehe. Dennoch ist Vermes als positives Beispiel kritischer jüdischer Auseinandersetzung mit Jesus hervorzuheben.

4. Der jüdische Jesus wird wiederentdeckt

Insgesamt konnte Daniel Harrington[18] eine bemerkenswerte Tendenz moderner jüdischer Wissenschaftler feststellen, Jesus in das Judentum zu integrieren und gerade dadurch von vielen christlichen Forschern abzuheben.

Clemens Thoma gibt in seinem "Messiasprojekt"[19] einen kurzen Überlick über die jüdischen Stimmen zu Jesus, die ich hier noch kurz zitiere:

„Für die meisten mittelalterlichen Juden war Jesus eine gefährliche Unperson: ein Zauberer, ein Betrüger, ein Veranlasser der Judenfeindschaft, ein Unterdrücker der Tora und der Gründer einer götzendienerischen judenfeindlichen Religion. Es gab aber bereits damals einzelne Juden, die aus Mt 5,17f und Lk 18,18f herauslasen, daß Jesus die Tora nicht hatte abschaffen wollen, und daß er sich auch geweigert hatte, sich den Mantel der Gottheit umzuhängen. Diese Juden ergriffen die Gelegenheit, um Jesus gegen das Christentum auszuspielen. Jesus sei ein toraverbundener Jude gewesen, seine Botschaft sei aber im Christentum einer Idolatrie verdreht worden... Rabbi Menachen Ham-Meiri von Perpignan (1249-1316) erklärte, die Christen seien keine Götzendiener, sondern verträten eine Lehre von hohem ethischen Standard. Rabbi Jacob Emden (1697-1776) meinte, Jesus habe seine Botschaft nicht an das jüdische Volk gerichtet, sondern ausschließlich an die Völker, um diese zum Einhalten der Noachidischen Gebote zu bewegen. Moses Mendelssohn (1729-1786) betonte im Anschluß an mittelalterliche Vorstellungen, man könne auch dann gute Gründe gegen das Christentum vorbringen, wenn man vom moralischen Charakter seines Stifters überzeugt sei; allerdings müsse man die Voraussetzung akzeptieren, daß Jesus keinerlei Ansprüche auf Göttlichkeit für sich gemacht habe. Im 19. und 20. Jh. wurde jüdischerseits sehr viel über Jesus und das Christentum geschrieben. Liberale und zionistisch gestimm Untaber auch traditionelle Juden äußerten sich zu Jesus und zum Christentum in vielfältiger Weise. Jesus sei ein nationalistischer Jude gewesen, eine ethische hebräische Persönlichkeit par excellence. Er habe keine universale Religion gründen wollen: Joseph Klausner (1874-1958). Jesus sei ein Apokalyptiker gewesen, auch seine Anhänger seien an seinem Tod mitschuldig gewesen. Er habe nur eine jüdische Sekte gegründet. Diese sei dann zu einer universalen Religion umgewandelt worden. Der jüdische Monotheismus sei das ganze Geheimnis der Kraft und des Einflusses sowohl Jesu als auch des Christentums und des Islam. Die beiden nachjüdischen Religionen hätten nur deshalb Überlebenschancen, weil sich in ihnen der jüdische Monotheismus als Lebenselixier befinde: Yehezkel Kaufmann (1889-1963). Die christlichen Auslegungen der heiligen Schrift könnten jüdischerseits als eine der 70 Möglichkeiten, die Tora zu verstehen, akzeptiert werden: Jakob J. Petuchowski: 1925-1991."[20]

Die genannten Beispiele mögen genügen, um eine Tendenz anzugeben. Namhafte und hochgebildete jüdische Wissenschafter wie Geza Vermes oder David Flusser, engagierte Brückenbauer wie Schalom Ben-Chorin und viele andere haben Jesus als Juden wiederentdeckt und ins Bewußtsein gerufen. Dem entsprechen das verstärkte begrüßenswerte Interesse christlicher TheologInnen an einer Integration Jesu ins Judentum und die faszinierenden Ansätze jüdisch-christlicher Theologien.[21]

Die jüdisch-feministische Literatur hat ebenfalls Jesus zum Thema gemacht, wenn auch nicht in Form großer Monografien, so doch vor allem in der Auseinandersetzung mit einer zeitweilig antijudaistisch anmutenden Inbesitznahme des Jesus von Nazaret durch christliche oder postchristliche Feministinnen, die ihn, den "Neuen Mann" als einen die jüdische "Männerwirtschaft" überwindenden Feministen darstellen wollen. Diesbezüglich hat sich vor allem Susannah Heschel in verschiedenen Publikationen überaus kritisch geäußert.[22] Die große Dame der jüdischen Theologie, Pnina Navé Levinson hat jüngst in einem Interview für die feministische Zeitschrift "Schlangenbrut" sehr pointiert gesagt: "Solange an den theologischen Fakultäten die Prüfungsordnungen nicht geändert werden, wird sich nichts ändern; solange der Antijudaismus als Kirchenlehre vertreten wird, ebenfalls nicht. Feministinnen, die im Studium nur Abwertendes über das Judentum hören, daß Jesus die Frauen angenommen, die Kinder zu sich gelassen habe, von den Juden umgebracht wurde und die Juden uns den Vatergott eingebracht haben, solange kann sich nichts ändern."[23] Jüdische Frauen kämpfen hier also auch um eine ausgewogene, nicht antijudaistische Sicht Jesu in ihren eigenen Reihen.

5. Die "messianischen" Juden

Nur erwähnt werden sollen alle jene jüdischen Gruppen, die sich als "messianische Juden" bezeichnen und immerhin nach Schätzungen bis zu 100.000 Menschen ausmachen sollen.[24] Hier ist die "Internationale Judenchristliche Allianz" zu nennen oder amerikanische Vereinigungen wie die "Blue Collar Congregation" in Minneapolis, das "Beth Yeshua" in Philadelphia, das "Beth Messiah" in Washington, "Adat ha Tikvah" und "B´nai Maccabim" in Chicago oder ebensolche in Kanada. Am 27. Juni 1979 wurde von 19 Gruppen die amerikanische Dachorganisation "Union of Messianic Jewish Congregations" gegründet. Zentrale Inhalte sind das Vertrauen auf die Bibel als absolute Autorität in allen Fragen des Lebens und der Glaube an Jesus, der durch seinen Tod und die Auferstehung die Welt erlöst hat und als Messias und Gott anzuerkennen ist.

David H. Stern brachte in Amerika beispielsweise eine Übersetzung des Neuen Testaments als "Jüdisches Neues Testament" heraus und leitete diese mit Bemerkungen zu den jüdischen Wurzeln oder zum Messias Jeschua ein. Erstaunlicherweise kommt hier das "Verheißung-Erfüllung"-Schema voll zum tragen. Jesus erfüllt die Weissagungen des AT. Stellen wie Gen 3,15; 12,3; 17,19; 21,12; 28,14 oder Num 24,17.19 und noch viele mehr verwiesen auf Jesus. Das NT wird von ihm als "Neue Torah" verstanden. Ziel dieser Tora "ist der Messias, der jedem, der vertraut, Gerechtigkeit anbietet."[25]

In Deutschland ist der Verein "Ruf der Versöhnung" des Arie ben Israel zu nennen, der sich in den Dienst der Versöhnung von Juden und Christen aber auch Juden und Arabern gestellt hat und eine periodische Zeitschrift gleichen Namens herausgibt, Studienaufenthalte in Israel organisiert, Seelsorge betreibt, Altersheime und Jugendheime unterstützt. Auch wenn diese Aktivitäten als solche zweifellos positiv zu bewerten sind, bleibt der tatsächliche Gewinn für einen partnerschaftlichen jüdisch-christlichen Dialog durch diese Gruppen gering. Mitunter wird die theologische Position dieser Gruppen, wie die Übersetzung von Stern zeigt, sogar eher hinderlich für einen Dialog sein.

6. Zukunftsperspektiven

Eine wirkliche religiöse Annäherung wird es erst geben, wenn die über Jahrhunderte überlieferten gleichen Urteile und beschrittenen Wege verlassen werden. So wäre es - um abschließend nur ein Beispiel zu nennen - dringend an der Zeit, die Bedeutung der Messiasfrage für ein adäquates Verständnis von Juden- und Christentum grundsätzlich zu hinterfragen. Dogmatische Vorverständnisse müssen neuen Ansätzen weichen. Das - verdienstvollerweise gerade jüdischerseits betonte - Judesein Jesu hat konsequent ernst genommen zu werden. Juden und Christen sollten die dogmatische Ebene verlassen und müßten sich dennoch nicht auf einen rein historisierenden Standpunkt zurückziehen. Diese Abkehr von eingefahrenen dogmatischen Sichtweisen scheint aber den Kirchen schwerzufallen. Noch immer gilt, was Gerschom Scholem 1963 sagte: "Eine Erörterung des messianischen Problemkomplexes betrifft einen delikaten Bereich. Ist es doch hier, daß der essentielle Konflikt zwischen Judentum und Christentum sich entscheidend entwickelt hat und fortbesteht".[26] Eine Einsicht in die theologische Bandbreite des Judentums und der strukturelle Vergleich zwischen Tora-Theologie und Christologie könnten das jüdisch-christliche Gespräch auf theologischer Ebene enorm befruchten. Dazu bedarf es aber nicht zuletzt in der Kirche mehr judaistisch ausgebildeter TheologInnen.

[1] Vgl. als Überblick W. Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht, Weimar 1988.

[2] E.F. Talmage (Ed.), Disputation and Dialogue, New York 1975, 293.

[3] Vgl. dazu D. Berry, Buber´s View of Jesus as Brother, JES 14 (1977) 203-218.

[4] D. Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien), Reinbek 1968, 47.

[5] D. Flusser,Das Christentum - eine jüdische Religion, München 1990, 47f.

[6] S. Ben-Chorin, Bruder Jesus. Mensch - nicht Messias, München 1967, 134f.

[7] P. Lapide/U. Luz, Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen, Zürich u.a. 1979.

[8] J.T. Pawlikowski, The Trial and Death of Jesus: Reflections in Light of a new Understanding of Judaism, ChicStud 25 (1986) 79-94, u.a.

[9] B. Chilton, Jesus within Judaism, in: J. Neusner (Ed.), Judaism in Late Antiquity II (HO 17), Leiden u.a. 1995, 262-284.

[10] D.A. Hagner, An Analysis and Critique of Modern Jewish Study of Jesus, Grand Rapids 1984.

[11] Vgl. zu diesem Punkt Hagner, Analysis (Anm. 10) 105ff.

[12] Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei L. Swidler, Der umstrittene Jesus (Kaiser Taschenbücher 130), Gütersloh 1993, 59-67. Vgl. H. Falk, Jesus the Pharisee, New York 1985.

[13] Heute selten, vgl. z.B. R. Eisler, Jesus basileus ou basileusas, 2 Bde., Heidelberg 1929f.

[14] G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen 1993.

[15] Vermes, Jesus (Anm. 14) 139f.

[16] Vermes, Jesus (Anm. 14) 271-273.

[17] Vermes, Jesus (Anm. 14) 274.

[18] D. Harrington, The Jewishness of Jesus: Facing Some Problems, CBQ 49 (1987) 1-13.

[19] C. Thoma, Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994.

[20] Thoma, Messiasprojekt (Anm. 19) 335f.

[21] Vgl. die Arbeiten von F. W. Marquart oder C. Thoma.

[22] Vgl. etwa: S. Heschel, Jüdisch-feministische Theologie und Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie, in: L. Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte, München 1988, 54-103. In neuerer Zeit erschienen zwei wichtige Sammelbände: C. Kohn-Ley/I. Korotin (Hg.), Der feministische "Sündenfall", Wien 1994; L. Schottroff/M.-T. Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (Biblical Interpretation Series 17), Leiden u.a. 1996. In letzterem wenden sich christliche Theologinnen gegen die antijudaistische Ausdeutung der Bibel. Hervorzuheben ist der Artikel von M.S. Gnadt, "Abba isn´t Daddy". Aspekte einer feministisch-befreiungstheologischen Revision des Abba Jesu, 115-131.

[23] Schlangenbrut 51 (1995) 13.

[24] So zumindest nach D.H. Stern, Das jüdische Neue Testament. Eine Übersetzung des Neuen Testamentes, die seiner jüdischen Herkunft Rechnung trägt, Stuttgart 1994.

[25] Stern, Testament (Anm. 24) XXVI.

[26] G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, zuletzt in K. Koch/J.M. Schmidt (Hg.), Apokalyptik (WdF 365), Darmstadt 1982, 327-369: 327.