Jüdische messianische Erwartungen

Der Ausgangspunkt für diesen Aufsatz war die Bitte, den Schwerpunkt der Darstellung auf den Abschnitt Jeremia 23,5-8 zu legen. Dieser Text weist in seinem biblischen Kontext auf sehr spezifische Hoffnungen und Zukunftserwartungen.

Jüdische messianische Erwartungen

Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn –, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln, für Recht und Gerechtigkeit wird er sorgen im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden und Israel in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: ‚Der Herr ist unsere Gerechtigkeit’. Darum seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, da sagt man nicht mehr: So wahr der Herr lebt, der die Kinder Israels aus Ägypten herausgeführt hat!, sondern: So wahr der Herr lebt, der das Geschlecht des Hauses Israel aus dem Nordland und aus allen Ländern, in die er sie verstoßen hatte, herausgeführt und zurückgebracht hat. Dann werden sie wieder in ihrem Heimatland wohnen.

Jeremia 23,5-8

Bald oder in ferner Zukunft?

Der Ausgangspunkt für diesen Aufsatz war die Bitte, den Schwerpunkt der Darstellung auf den Abschnitt Jeremia 23,5-8 zu legen. Dieser Text weist in seinem biblischen Kontext auf sehr spezifische Hoffnungen und Zukunftserwartungen. Nimmt man ihn jedoch für sich, dann ist es nicht klar, ob er sich auf eine nahe Zukunft bezieht oder auf längerfristige Hoffnungen. Als politische Aussage könnte er einfach die Erwartung zur Zeit des Propheten Jeremia oder des Redaktors ausdrücken, dass ein zukünftiger König aus davidischem Geschlecht Gerechtigkeit zum Hauptanliegen seiner Herrschaft macht. Damit würde er sich von den Fehlern seiner Vorgänger unterscheiden. Die Verwendung des Wortes zaddik, „gerecht“, scheint dabei eine absichtliche Anspielung auf den Thronnamen des Königs Zedekiah zu sein und könnte dessen Regierungszeit vorwegnehmen oder andererseits seine Fehler kritisieren. Die besondere Herrschaft des zukünftigen Königs würde zudem die Errichtung sicherer Grenzen für das existierende Königreich Juda und die Wiederherstellung des Nordreiches Israel mit sich bringen – zumindest die Rückkehr der Verbannten, die aus diesem Königreich in die Gefangenschaft im Norden (Assyrien) weggeführt oder im Gefolge seiner Zerstörung in andere Orte zerstreut worden waren.

Es ist allerdings auch möglich, den gleichen Abschnitt als Freude auf eine Zeit jenseits des babylonischen Exils zu lesen, für die die gleichen Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der davidischen Dynastie und die Rückkehr der Verbannten aus den beiden ehemaligen Königreichen gehegt wurden. Was die letztgenannte Deutung wahrscheinlicher macht, ist die Betonung der wunderbaren Weise der Rückkehr, die sogar den Exodus aus Ägypten übertrifft. In der Tat ist das ein Thema, das in den Texten des zweiten Jesaja untersucht wird, was eine Menge von größtenteils unlösbaren Fragen über die relative Datierung dieser und ähnlicher Abschnitte mit sich bringt.

Bei jeder Lesart blicken wir auf einen relativ engen Bestand an politischen Bestrebungen. Dabei sollten wir uns dessen bewusst sein, dass „Politik“ in diesem biblischen Kontext als direkter Ausdruck des Willens Gottes betrachtet wird. Er betrifft das Schicksal eines bestimmten Volkes, das von ihm erwählt wurde, um umfangreichere Aufgaben in der Welt zu erfüllen. Deshalb haben wir hier zwei der Schlüsselelemente, die die Grundlage der jüdischen messianischen Hoffnungen und Erwartungen bilden und die das jüdische Volk durch fast 2000 Jahre politischen Exils hindurch erhalten haben: die Rückkehr des Volkes, das von den vier Enden der Erde gesammelt wird, in sein Land und die Wiederherstellung einer nationalen Identität unter einem „gerechten“ Anführer, einem Nachkommen Davids. Was in diesem speziellen Abschnitt fehlt, ist jeglicher Hinweis auf die Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels als dem zentralen Ort des Gottesdienstes. Das wird an anderer Stelle ausgeglichen: durch Jeremia (33,17-18) und durch eine andere prophetische Stimme, eine der letzten: Sacharja (6,12).

Jeremia 23,5-8 in der jüdischen Liturgie

Der Textabschnitt ist weder in seiner Ausdrucksweise noch in seinem Inhalt einzigartig. Er wurde nicht für die regelmäßige Lesung während des Jahres als eine der haftarot - der prophetischen Texte, die den wöchentlichen Zyklus der Toralesung (aus den fünf Büchern Mose) in der Synagoge begleiten – ausgewählt.

Der Zerstörung der beiden Tempel wird jährlich im „schwarzen Fasten“ an Tischa be-Av, dem neunten Tag des Monats Av, gedacht. In den darauffolgenden Sommermonaten, die zu Rosch Ha-Schana, dem Neujahrsfest, hinführen, werden dafür besänftigende und tröstende, Wiederherstellung verheißende Texte aus Deuterojesaja, beginnend mit Jesaja 40, ausgewählt. Direkt an Tischa be-Av wird Jeremia 8,13 – 9,23 gelesen. Ausschnitte aus Jeremia 31, die am zweiten Tag von Rosch Ha-Schana gelesen werden, enden bei Vers 20 mit tröstenden Worten und schließen Vers 31 mit dem Thema des „neuen Bundes“ nicht ein!

Der gerechte Spross Davids – Jer 23,5

Was später sein direktes Echo in jüdischen messianischen Hoffnungen fand, ist der Satz aus Vers 5: „Ich will David einen gerechten Spross (zemach zaddik) erwecken.“ Das Verb zamach, „sprossen“, bezieht sich auf das Hervorwachsen von Pflanzen aus dem Boden. Es wird jedoch metaphorisch in einer Anzahl von königsideologischen Texten gebraucht, die von zukünftigen „Trieben“ reden, die unter den Nachkommen Davids hervorkommen werden (2. Sam 23,1-7(5); Ps 132,17). Die Verwendung dieser Verbwurzel hier als Substantiv und ihr Bezug auf den wiedereingesetzten Herrscher mag dazu geführt haben, dass das Wort in Sacharja 3,8 als Eigenname oder Titel für die messianische Gestalt gebraucht wird, ebenso in Sacharja 6,12, wo die „Spross“ genannte Gestalt den Tempel wiederaufbauen wird. – Eine rabbinische Debatte über den Namen des Messias, die sich auf Jeremia 23,5-6 gründet, schließt zemach als möglichen Namen ein.

Anklänge an Jer 23,5-8 im Achtzehn-Bitten-Gebet

Ein direktes Echo der Sprache Jeremias in späteren jüdischen Traditionen findet sich in zwei Segnungen in der Amida, dem „stehenden Gebet“ oder den „Achtzehn Bitten“, das als das Herzstück der täglichen Liturgie dreimal am Tag rezitiert wird. Die Segnungen lauten folgendermaßen:

Nach Jerusalem, deiner Stadt, kehre zurück in Erbarmen, und wohne in ihrer Mitte, wie du gesagt hast,

und erbaue sie bald in unseren Tagen als ewigen Bau,

und den Thron Davids richte bald in ihrer Mitte auf.

Gelobt seist du, Herr, der Jerusalem erbaut


Den Spross (zemach) Davids, deines Knechtes,

lass bald erstehen,

und erhöhe sein Horn durch dein rettendes Handeln,

denn auf dein rettendes Handeln hoffen wir den ganzen Tag.

Gelobt seist du, Herr,

der das Horn der Rettung aufsprießen (mazmiach) lässt!

Die zweite Segnung baut besonders deutlich auf der Sprache von Jeremia 33,15 auf: „In jenen Tagen und zu jener Zeit will ich David einen gerechten Spross (zemach) aufsprießen lassen (azmiach); der wird Recht und Gerechtigkeit schaffen im Lande.“ Ebenso gegenwärtig ist die Sprache von Ez 29,21: „An jenem Tag werde ich das Horn des Hauses Israel aufsprießen lassen (azmiach).“ Das erhobene Horn, das dem Bild der gedeihenden Pflanze ein Bild aus dem Tierreich an die Seite stellt, ist weit verbreitet als Symbol für die Stärke eines Ochsen. Hier wird es auf die Macht und den Stolz eines Menschen bezogen. Zusammen mit einer dritten Segnung, die die Hoffnung auf die Rückkehr Gottes in einen wiedererbauten Tempel bekundet, drücken diese Segnungen die klassischen jüdischen messianischen Hoffnungen aus.

Moderne jüdische messianische Erwartungen

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass seit der Emanzipation der Juden und der radikal veränderten Situation jüdischer Existenz als unabhängige Bürger der westlichen Gesellschaft im Judentum viele Fragen über diese traditionellen Glaubensinhalte aufgeworfen wurden. Diejenigen, die sich dem Reformjudentum verbunden fühlten, das in Deutschland im 19. Jahrhundert begann, waren sich keineswegs sicher, ob die Rückkehr ins Land Israel oder die Wiederherstellung des davidischen Königtums und erst recht der Wiederaufbau des Tempels und die Einrichtung täglicher Tieropfer ihre Hoffnungen und Sehnsüchte für die Zukunft ausdrückten. Die Vorstellung eines personalen Messias war für sie nicht akzeptabel. Stattdessen sprachen sie von einem messianischen Zeitalter des Friedens und sahen ihre eigene neue Situation der Befreiung als Vorläufer eines universalen Zustandes. Als die Reformer eine Überarbeitung der Liturgie in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Glauben erreichten, wurde eine Reihe von Veränderungen an diesen Segnungen vorgenommen: von der völligen Streichung des Satzes „und den Thron Davids richte bald in ihrer Mitte auf“ bis zu sprachlichen Änderungen. Ein neueres Beispiel behält den Eröffnungssatz bei: „Erwecke bald einen neuen Spross aus David, deinem Knecht“, setzt aber dann mit einer Universalisierung fort, in der die Sprache von Jer 33,15 verwendet wird: zemach zedaka, „einen Spross der Gerechtigkeit“. Das bewirkt, dass die partikularen und die universalen Elemente der messianischen Erwartungen zusammengehalten werden.

Natürlich gibt es hier eine Spannung zwischen dem überlieferten traditionellen Text und den Erwartungen, Realitäten und Glaubensmaximen der heutigen jüdischen Welt. Die Pluralität der religiösen Bewegungen und Ausdrucksformen innerhalb des Judentums, von verschiedenen orthodoxen Abstufungen („ultra-“, „toratreu“, „chassidisch“ – in unterschiedlichen Spielarten, „modern-“) über „traditionell“, „konservativ“, „masorti“ und „reconstruktionist“ bis zu „reformiert“, „liberal“ und „progressiv“, jeweils in verschiedenen landestypischen Nuancen, zeigt die Bandbreite der vertretenen Glaubensüberzeugungen.

Die religiös orientierten Bewegungen repräsentieren jedoch nur einen relativ kleinen Teil der Juden. Viele andere vertreten nicht-theologische, humanistische Positionen oder ersetzen ein Glaubenssystem durch Nationalismus oder Volkszugehörigkeit oder sind einfach indifferent gegenüber religiösen Fragen. Das zugegeben ist es eine faszinierende historische Tatsache, dass Juden unter den Initiatoren und Anhängern der großen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren. Darin kann man Elemente jüdischen messianischen Denkens entdecken, die jedoch rein säkular ausgedrückt werden. Die Bandbreite reicht vom Zionismus, der messianischen Hoffnung von der Rückkehr der Vertriebenen - allerdings ohne das Warten darauf, dass Gott sie verwirklicht -, bis zum Sozialismus und Kommunismus mit ihrem Universalismus und dem Ruf nach Gerechtigkeit und menschlicher Solidarität.

Messianische Erwartungen in der jüdischen Geschichte

Im Kontext der jüdisch-christlichen Beziehungen gibt es vielleicht eine andere Dimension jüdischer „messianischer“ Erwartungen, die angesprochen werden sollte. Es ist deutlich, dass sich die Idee eines „messianischen Retters“ historisch gesehen für das jüdische Volk zu verschiedenen Zeiten als katastrophal erwiesen hat. Die Gestalt Jesu und all die darauf folgenden Erfahrungen von Juden unter dem Christentum sind schon ein Beispiel für das Problem. Die Rebellion gegen Rom unter Bar Kochba, der von einem so bedeutenden rabbinischem Gelehrten seiner Zeit wie Akiba für den messianischen König gehalten wurde, führte zur Zerstörung des jüdischen Lebens in Palästina. Der Pseudo-Messias Sabbatai Zwi und sein Nachfolger Jacob Frank verursachten eine jahrhunderte lange völlige Störung des jüdischen Lebens. Sogar heute bilden der Glaube unter einigen Chassidim, der Lubawitscher Rebbe sei der Messias gewesen, und die Erwartung seines „zweiten Kommens“ eine bizarre Parodie jüdischer Erwartungen vermischt mit christlichen Glaubensinhalten.

Klassische jüdische Hoffnungen, wie sie in der Kodifikation des jüdischen Gesetzes durch Maimonides ausgedrückt wurden, beschränkten den Messias auf eine politisch mächtige, aber letztendlich nicht übernatürliche Gestalt, die jüdisches Leben im verheißenen Land durch Sammlung der im Exil Lebenden wiederherstellen und in eine Epoche universalen Friedens bringen würde. Maimonides beschreibt zum Beispiel das Zusammenliegen von Leopard und Lamm als Metapher für die Versöhnung politisch entgegengesetzter Nationen, nicht als eine Verwandlung der Natur.

Die Frage drängt sich auf, ob es überhaupt zu einer jüdischen Konzentration auf den Messias, der nur ein Element biblischer Tradition ist, gekommen wäre, wenn nicht unter christlichem Druck die Notwendigkeit bestanden hätte, eine Alternativtheologie zu einer so wichtigen Gestalt zu entwickeln. Die Perikope über den „leidenden Knecht“ in Jes 52,13 – 53,12 hat beispielsweise im Lauf der Jahrhunderte eine Reihe jüdischer Interpretationen hervorgerufen, die klar darauf abzielen, alternative Sichtweisen gegenüber christlichen Ansprüchen anzubieten. Die Gestalt könnte ein ehemaliger oder zukünftiger König Israels sein; einer der Propheten, vielleicht sogar Jeremia, der durch die Hände seines eigenen Volkes leiden musste. Die Beschreibung des „Knechts“ als „um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen“ ist deshalb kein „stellvertretendes Leiden“. Jeremia war vielmehr direktes Opfer der Taten seines Volkes, er wurde letztendlich in eine Grube geworfen und dem Tod überlassen. Andere sehen den Knecht als den Messias, der noch kommen wird. Eine beliebte Deutung ist auch, dass der Knecht das jüdische Volk als Ganzes repräsentiert, das im Exil für Gott leidet.

Der Staat Israel – ein messianisches Ereignis?

Ebenfalls problematisch, wenn auch aus ganz anderen Gründen, ist es, wie die Erschaffung des Staates Israel in klassisches messianisches Denken integriert werden kann. Die größten frühen Gegner des Zionismus waren die Reformer, die keine Notwendigkeit für eine primitive Spielart des Nationalismus sahen, weil sie an ihren Orten sehr zufrieden waren und darüber hinaus überall Weiterentwicklungen in Richtung einer Welt der Vernunft und universalen menschlichen Fortschritts wahrnahmen, ein messianischen Zeitalter ohne Messias. Als anderes Extrem betrachteten orthodoxe Gruppen den Versuch, Gottes messianisches Eingreifen in der Geschichte durch menschliche Bemühungen vorwegzunehmen, als Häresie. Es braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden, dass sich – mit einigen Ausnahmen bei beiden Extrempositionen – die zwei Flügel des religiösen Judentums schon längst mit der politischen Realität der Existenz des Staates und seines außergewöhnlichen Einflusses auf das jüdische Leben weltweit abgefunden haben. Sie haben versucht, religiöse Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Ansichten zu finden, aber die Frage bleibt bestehen, ob die Staatsgründung als „messianisches Ereignis“ betrachtet werden sollte. Das orthodoxe Rabbinat in Israel gab bei der Formulierung eines Staatsgebetes eine vorsichtige Antwort, indem es sie als reschit zmichut ge’ulatenu, den „Anfang des Sprießens unserer Erlösung“, bezeichnete. Das zemach aus unserem Jeremiavers ist dabei hörbar. Der „Anfang des Sprießens“ ist sicher ein Kompromiss, jedoch einer, der die Gegenwart mit Bedeutung erfüllt und dabei die Zukunft offen lässt.

Der Widerspruch der Schoa

Über allen diesen Fragen und Spekulationen liegt der Schatten der Schoa, des Holocaust. Welcher Gott würde so etwas seinem Volk zustoßen lassen? Welche möglichen messianischen Hoffnungen könnten solch eine Gottverlassenheit verzeihen lassen? Manche argumentieren, dass die Erschaffung des Staates Israel eine „Kompensierung“ für den Verlust sei oder dass Gott, der während der Schoa für einen kurzen Moment anderswohin gesehen hätte, zumindest jetzt wieder fest an unserer Seite stünde. Aber der Preis von sechs Millionen Menschenleben, einschließlich einer Million Kinder, ist zu hoch für derart vereinfachende Gleichungen. Sogar das Stellen der legitimen Frage – nicht: „Wo war Gott?“, sondern: „Wo war die Menschheit?“ – weist nur auf eine entscheidende Schwierigkeit hin, ohne in irgendeiner Weise das eigentliche Problem der Theodizee zu lösen. In der Tat kann es Generationen dauern, bis aus dem, was passiert ist, irgendeine Art religiöser Sinn gewonnen werden kann. Aber der Einfluss der Schoa, der zu den radikalen Veränderungen des jüdischen Lebens seit der Emanzipation mit der Aufspaltung der ethnischen und der religiösen Komponente der jüdischen Identität hinzukommt, führt dazu, dass solche klassischen religiösen Fragen einigen wenigen „Experten“ überlassen bleiben, den durchschnittlichen Juden jedoch kaum berühren.

Messianische Hoffnungen – heute kein Thema?

Außer bei denen, die sich ernsthaft mit dem jüdischen religiösen Denken und Handeln befassen, bei wenigen, manchmal gefährlichen jüdischen Fanatikern oder bei denen, die heute mit Elementen jüdisch-mystischer Lehre jonglieren, ist die messianische Frage im Moment eher auf Eis gelegt. Sie wurde durch eine „Theologie aus dem Bauch“ ersetzt, die sich auf „Überleben“ und Volksgemeinschaft – vor allem ethnisch und nicht religiös verstanden – gründet. Der Zionismus war wahrscheinlich der letzte bedeutende Ausflug des messianischen Traumes, wenn auch in säkularem, dadurch jedoch nicht weniger emotionalem und irrationalem Gewand. Was mit dem Staat Israel passiert, sein Schicksal in der Zunderschachtel des Nahen Ostens und sein dramatischer Bedarf, 2000 Jahre jüdischen Minderheitsstatus zu verarbeiten und mit der Macht zurechtzukommen, wird ein wichtiger jüdischer Tagesordnungspunkt in der näheren Zukunft sein – gemeinsam mit den in der Diaspora virulenten Problemen der Assimilierung, der Mischehen, des Antisemitismus und des völligen Aufgehens in der Umwelt. Pragmatismus und die politische Realität stehen im Mittelpunkt und mühen sich ab mit den Resten der theologischen Versprechen und Fantasien. So sieht es heute aus. Aber wenn man die außerordentlichen Änderungen in der jüdischen Geschichte betrachtet, die fast über Nacht geschehen sind: Wer weiß dann, was morgen passieren wird?

Editorische Anmerkungen

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft 4, 2005.