Jüdisch-Christlicher Dialog. Konkrete Möglichkeiten und Freiräume in der Pfarrgemeinde

Dem Anti-Judaismus in Gemeinde, Predigt und Liturgie entgegenwirken.

Norbert W. Höslinger

Jüdisch-Christlicher Dialog

Konkrete Möglichkeiten und Freiräume in der Pfarrgemeinde

Zu Beginn drei Begebenheiten:

  • Eine Dame schlägt vor, im Bildungswerk über Judentum ein Referat halten zu lassen. Die Reaktion des Pfarrers: „Wie kommen Sie auf eine solche Idee?“
  • Nach einem Vortrag über christlich-jüdische Beziehung meldet sich ein Teilnehmer sofort zu Wort mit der Feststellung: „Einen Antisemitismus gibt es heute überhaupt nicht mehr.“ Darauf hin frage ich ihn: „Sind sie der Meinung, dass im Fernsehen sehr viele Juden beschäftigt sind?“ Er antwortet spontan: „Ja, viel zu viel!“
  • In der Slowakei hörte ich den Ausspruch: „Gut, dass wir von den Tschechen weg sind, in Prag regieren ja nur mehr Juden und Freimaurer…“

Auch bei uns kann man bei älteren Zeitgenossen ähnliche Äußerungen hören, so etwa: Die Juden haben das Geld der ganzen Welt in der Hand, sie bilden eine weltweite, unvergleichbare Lobby (Rückgabe!), sie benützen die Schoa für ihre Interessen. Manche äußern sich vorsichtig und sprechen von „gewissen Kreisen“ wenn sie „die Juden“ meinen.

Initiativen in den Gemeinden

Allgemein wird beobachtet, dass die jüngere Generation das Denken in Vorurteilen ablehnt. Das berichten vor allem Personen, die in höheren Schulen über Judentum sprechen. Dennoch sollte man den ganzen Fragenkomplex nicht der allgemeinen Entwicklung belassen. Das Beispiel 1 zeigt das Desinteresse und die Gleichgültigkeit im Verhältnis der Christen den Juden gegenüber. Wie hat die Diözesansynode von Wien (1969-1971) die Verantwortung der Katholiken in dieser Frage beschrieben?

„Die Kirche von Wien erwartet von den Katholiken, dass sie nichts unversucht lassen, um die zwischen ihnen und den Juden bestehende und durch traditionelle Missverständnisse genährte Entfremdung zu überwinden.“ (art. 836).

Das heißt: in den Gemeinden müssen Aktivitäten gesetzt werden. Aber auch der Einzelne muss seine Verantwortung sehen, wie es das 2. Vatikanische Konzil in seinem Dokument „Nostra aetate“ fordert:

„Da also das Christen und Juden gemeinsame Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist“ (art. 4).

Es werden also Interesse und Neugier wachgerufen, die zu Initiativen drängen. Auf diesem Gebiet hat sich seit dem Konzil schon sehr viel getan, wie Besuche von Synagogen, jüdischen Museen, Einladung von Rabbinern und anderen Repräsentanten des Judentums, Reisen nach Israel, die sich nicht bloß auf das Neue Testament beziehen, sondern auch das Alte Testament und das nachbiblische Judentum berücksichtigen. Nicht zu übersehen ist die in reichem Maße blühende Literatur über Judentum und christlich-jüdische Beziehungen. All das sind jedoch Einzelveranstaltungen oder Einzelerlebnisse, die bald im Meer der Vergessenheit versinken. Im Konzilstext steht ein Satz, der Ansporn sein soll für Aktivitäten unter einem weiteren Horizont:

„Die Kirche kann nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing.“

„Die Kirche kann nicht vergessen“: Gerade das Vergessen muss verhindert werden! Daher nicht nur ein Programm von Einzelveranstaltungen organisieren, sondern wie es sich ergibt, vor allem aus den Texten der Bibel und der Liturgie. Die Verkündiger sind da vor allem den Gottesdienstbesuchern etwas schuldig: Wenn sie bei der Bibelauslegung kommentarlos permanent das Judentum nicht mit bedenken, sondern die Schrift einfach vorgesetzt wird, kann es zu Missverständnissen kommen, besonders, was christlich-jüdische Beziehung betrifft. Das heißt, dass in der Sonntagspredigt in dieser Hinsicht ständig Bewusstseinsbildung stattfinden muss. Ich möchte das anhand eines Beispieles zeigen:

Ist das Matthäusevangelium antijüdisch?

Angenommen, es wird eine Perikope aus dem Matthäusevangelium gelesen. Friedrich Heer hat in seinem Buch „Gottes erste Liebe“ dieses Evangelium als die Wurzel des christlichen Antijudaismus gesehen. Kurt Schubert hat dieser Auffassung seines Freundes heftigst widersprochen. Er wies auf den Ablösungsprozess hin, der sich im 1.Jahrhundert nach Christus vollzogen hat. Das Matthäusevangelium will Juden und Judenchristen davon überzeugen, dass der Weg des Judentums über Jesus Christus weitergeht. Es wäre also falsch, davon auszugehen, dass „die Juden“ Jesus abgelehnt und ihn schließlich gekreuzigt haben. Der Pauschalbegriff „die Juden“ ist in traditionell christlicher Weise auf alle Juden bezogen worden: sowohl auf die Zeitgenossen Jesu, als auf die Juden aller Zeiten. Dabei wurde nicht bedacht, dass Jesus, Maria, die Apostel usw. Juden waren. So formulierte die Deutsche Bischofskonferenz im Jahr 1980 in einer Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum: „Wer Jesus begegnet, begegnet dem Judentum.“

Es ist immer gut, in der Verkündigung das 2. Vatikanische Konzil zu zitieren, denn allzu schnell neigen die Zuhörer dazu, eine vielleicht nicht so bekannte oder ungewohnte Einstellung des Predigers als dessen persönliche Auffassung zu verstehen. Im gegebenen Fall wäre es gut, die folgende Passage von „Nostra aetate“ zu zitieren:

„Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied, noch den heutigen Juden zur Last legen“.

Wenn nun aus dem Matthäusevangelium das Jesuswort „Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, aber die Gäste waren es nicht wert, eingeladen zu werden“ (27. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A) vorgelesen wird, erfordert das eine Interpretation im obigen Sinn. Historisch gesehen spiegeln sich darin innerjüdische Auseinandersetzungen wider, im weiteren Sinn sind allzu selbstsichere „Gläubige“ angesprochen, die unreflektiert Traditionen bewahren, aber keinen Sinn für Weiterentwicklung haben. Das heißt: wir blicken nicht nur auf die Zeit Jesu zurück, sondern wir stellen die Aussage Jesu in unseren Zeitzusammenhang: Gläubige Menschen neigen zu Verfestigungen im Gebetsleben, in der Liturgie. Sie sind weniger darauf eingestellt, sich von Gott beschenken zu lassen, auf seine Stimme zu hören, sie wissen schon, was sie zu tun haben. So wird einerseits die historische Situation dargestellt, anderseits auch die Aktualität des Jesus-Spruchs.

„Erinnerung“ — ein wichtiger theologischer Begriff aus dem Judentum

Es gibt jüdisch-christliches Gedankengut, das nicht nur in vielen Texten zum Ausdruck kommt, sondern auch in einigen grundlegenden Begriffen. So bedeutet nach jüdischem Verständnis „Erinnerung“ im theologischen Kontext mehr als ein Zurückdenken an Vergangenes, das was seinerzeit geschehen ist, geschieht auch jetzt. Die alten Heilstaten Gottes sind unter uns präsent. So ist die Befreiung aus dem „Sklavenhaus Ägypten“ mehr als Zurückdenken und Dank – zu Pesach wird Befreiung erlebt. Wir Christen werden in der Feier der Liturgie nicht nur an Worte und Taten Jesu erinnert, sondern das, was uns verkündet wird, geschieht auch an uns: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Das 2. Vatikanum drückt diesen Sachverhalt so aus: „In der Liturgie, besonders im heiligen Opfer der Eucharistie vollzieht sich das Werk unserer Erlösung“ (Liturgiekonstitution, art.2).

Probleme in der Heiligen Woche

Bei der Gestaltung der Liturgie ist es unbedingt erforderlich, Missverständnisse zu vermeiden. Das gilt in besonderem Maße für die Liturgie der Heiligen Woche.

Ein Lokalpolitiker, der von Journalisten auf antijüdische Aussagen angesprochen wurde, rechtfertigte sich damit, dass er schon als Ministrant durch die Mitfeier der Karwoche zu einer antijüdischen Einstellung gekommen sei. Sicher kann durch ein oberflächliches Hören der Passionsgeschichten der Eindruck entstehen, das ganze jüdische Volk habe die Kreuzigung Jesu verlangt. Wer genau hinhört, nimmt aber auch andere Aussagen wahr, wie zum Beispiel: Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn (Joh 11,45). Allerdings stehen „die Juden“ im Johannesevangelium als die Gegner Jesu da. Aus den Texten geht jedoch hervor, dass die jüdische Obrigkeit damit gemeint ist. Die Juden dürfen daher nicht in die Rolle von „Buhmännern und Feindbildern gedrängt werden“ (Josef Blank).

Die ökumenische Bibelübersetzung „Die Gute Nachricht“ führt in den Passionserzählungen bei Johannes an Stelle von „die Juden“ die Formulierung „die führenden Priester“ ein. In einer Einführung oder in einer an die Passionsverlesung anschließenden Homilie kann man die Sache klären. Auch eine Dramatisierung des Vortrags der Passionsgeschichte kann unerwünschten Effekt erzeugen. Es ist daher geraten, die Passion nicht mit verteilten Rollen lesen zu lassen, sondern abschnittsweise von mehreren Lektoren. Auch die Improperien (O, du, mein Volk, was tat ich dir) bedürfen, falls sie gesungen werden, einer Erklärung: Auch wir sind gemeint. Besser ist es, ein anderes Lied zu singen, etwa „Heil’ges Kreuz, sei hochverehret“ oder „Im Kreuz ist Heil“ oder das schon österlich klingende „Dein Kreuz, o Herr, verehren wir“, das im Messbuch sogar vorgesehen ist.

Hinweise für den Gebrauch theologischer Sprache und Begriffe

  • Der christliche Verkündiger sollte nicht immer nur im Namen der christlichen Religion sprechen, sondern auch von den biblischen Religionen, wenn es um Gemeinsames geht, zum Beispiel um den Begriff Wort Gottes.
  • Christen sollten die jüdische Religion nicht einfach in nicht christliche Religionen einordnen; es sollte vielmehr die enge Verwandtschaft zwischen christlicher und jüdischer Religion im Bewusstsein vorhanden sein. Von den Festen und Gebräuchen der Juden sollte man nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart sprechen.
  • Die jüdischen Wurzeln von Ostern und Pfingsten sollten aufgezeigt werden.
  • Auch wenn die Auswahl der alttestamentlichen Lesungen in der gegenwärtigen Ordnung nicht immer als ideal gesehen wird, sollte man sie doch verwenden, ja sie sogar zum Ausgangspunkt für die Predigt machen.
  • Der Einwand, dass diese Schrifttexte schwierig seien, entspringt einem Vorurteil; jedenfalls sind auch die paulinischen Episteln nicht immer leicht verständlich.
  • In Bildungswerkveranstaltungen, Gesprächsrunden, Jugendgruppen usw. sollten immer wieder Texte aus dem Alten Testament vorgestellt, erklärt und durchgesprochen werden, vor allem Psalmen, Profetentexte und Weisheitsliteratur. Das 2. Vatikanum weist in seinem Dokument „Über die göttliche Offenbarung“ darauf hin, dass im Alten Testament „hohe Lehren über Gott, heilbringende Lebensweisheit und wunderbare Gebetsschätze“ enthalten seien; es muss die weit verbreitete Vorstellung überwunden werden, die Grundaussage des Alten Testamentes laute einfach „Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn“, wobei dieses Diktum aus seinem Zusammenhang heraus auch einmal erklärt werden müsste.
  • Bei all diesen Bemühungen ist es wichtig, dass keinesfalls der Eindruck von Philojudaismus entstehen sollte. Die Thematik muss in die allgemeine, breite Verkündigung eingebettet sein. Hämmern wirkt kontraproduktiv.

Auf keinen Fall dürfen wir aufhören, unser Ziel zu verfolgen, das sind wir Christen unseren Schwestern und Brüdern im Judentum schuldig!