Judentum und Jüdisches in unseren Kirchen entdecken

Gedanken zum Tag des Judentums - 17. Jänner 2023.

Das Judentum wird in der theologischen Diskussion bisweilen als „Sakrament des Anderen“[1] bezeichnet: das Judentum als Ort der Gegenwart der Heilswirklichkeit des Gottes Israels, des Vaters Jesu. Es ist eine andere Heilswirklichkeit als der Weg der Nachfolge Jesu, aber es ist tatsächlich die Heil bringende Offenbarung des Ewigen an das jüdische Volk.

Das Judentum ist aber nicht nur das unverfügbare Gegenüber, etwas Äußerliches, sondern es gehört – wie es Papst Johannes Paul II. genannt hat – „in gewisser Weise zum »Inneren« unserer Religion.“[2]. Papst Johannes Paul bezieht sich dabei auf das Richtung weisende Kon-zilsdekret Nostra Aetate, bei dem programmatisch davon gesprochen wird, dass die Kirche sich mit sich selbst beschäftigt, wenn sie über das Judentum spricht: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“

Meine Gedanken zum diesjährigen Tag des Judentums möchten Sie einladen, das Judentum im Inneren unseres eigenen Glaubens zu entdecken.

Beim Beten und Feiern

Dass Jesus Jude war, gilt schon fast ein Allgemeinplatz. Aber denken wir auch daran, dass ebenso Maria, Mutter Jesu und Mutter der Kirche, jüdisch war? Wir finden Apostelkreuze in vielen Kirchen. Sie verweisen auf jene zwölf jüdischen Männer, die Zeugen der Auferstehungs-botschaft sind. Maria aus Magdala ist eine weitere Zeugin dieser jüdischen Glaubenshoffnung, dass Gott der Ewige jene, die ihn lieben, stets in seiner lebendigen Gegenwart hält. Darstel-lungen der Magdalena – Apostolin der Apostel – haben aber in unseren Kirchen allerdings nicht diese Prominenz wie ihre männlichen Gegenüber.

Das Amen und das Halleluja in unseren Gottesdiensten sind hebräische Akklamationen. Das Vaterunser findet eine Parallele im Kaddisch-Gebet, das in den Synagogen und bei jüdischen Totenandachten gesprochen wird. Halten wir uns stets präsent, dass die Quelle des Glaubens Jesu, der Tanach, unser Erstes Testament zugleich auch die Heilige Schrift des Judentums ist! Zwar müssen Christinnen und Christen und die Kirchen sich nicht die jüdische Lesart der Schrift zu Eigen machen, so das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Hl. Schrift in der christlichen Bibel (Nr. 22)[3], doch bleibt sie „die Heilige Schrift Israels“ (ebd., Nr. 11). Das Neue Testament hat fast durchwegs jüdische Autoren und wenn in der Eucharistiefeier das Hochgebet gesprochen wird, so ist dies bewusst jüdischen Segens-sprüchen nachempfunden.

In jeder Pfarrkirche

In jeder Pfarrkirche finden wir das Ewige Licht, ebenso wie weltweit in jeder Synagoge. Es hat seine Herkunft im Tempel von Jerusalem, der im Jahr 70 u. Z. zerstört worden ist. Das Ewige Licht verweist auf das Allerheiligste, den Raum der Gegenwart des namenlosen Gottes. In unserer Kirche verweist es auf die Gegenwart des Auferstandenen Christus in der Eucharistie.

Hebräische Buchstaben erinnern immer wieder an das Judentum. Zum Beispiel die vier Zei-chen des unaussprechlichen Namens Gottes JHWH., etwa in Altenhof am Hausruck oder in Attnang Heiliger Geist. Die Heilige Anna, legendarische Mutter von Maria, wird mit einem Buch dargestellt. In Steinbach am Attersee ist dieses Buch mit hebräischen Schriftzeichen beschrie-ben. Im Eingang des neu errichteten Pfarrheims von Weyregg am Attersee steht unübersehbar der hebräische Schriftzug „bereschit“, die ersten Worte der Heiligen Schrift, der Beginn der biblischen Schöpfungserzählung: im Anfang. Der Schöpferwille des einen und einzigen Gottes, wie er sich in der Heiligen Tora des Volkes Israel offenbart hat, ist die Quelle von allem, was ist.

Krippen

In diesen Wochen bis Mariä Lichtmess sind vielerorts noch die traditionellen Weihnachtskrip-pen aufgestellt. In so manchen Szenen dort werden wir auf das Judentum hingewiesen: Wir finden jüdische Gelehrte dargestellt, die die Schrift deuten und bisweilen auch die Szene der Beschneidung Jesu – wie sie vom Evangelisten Lukas überliefert ist. Die Beschneidung am 8. Tag nach der Geburt ist bis heute bei Männern das Zeichen des Bundes Gottes mit seinem Volk, das Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum.

Bei manchen Krippen im Salzkammergut finden wir auch die Traubenträger – symbolische Figuren, die aus der Tora (Numeri 13,23) entnommen sind: Eine Traube im Gelobten Land war so groß und schwer, dass sie von zwei Kundschaftern gemeinsam getragen werden musste. Sie schulterten dazu eine Stange, auf der die Traube zwischen ihnen hing. In der Auslegung des Kirchenvaters Evagrius symbolisiert die Stange das Holz des Kreuzes, an dem Christus als Traube hängt, getragen von den Männern, die den Alten und den Neuen Bund verkörpern[4]. Der vordere Träger steht in dieser Auslegung für das Judentum: Er geht voran, gibt die Richtung vor und trägt die Traube mit, wenn auch er nicht den Blick auf die Traube richten kann.

Bei einer Darstellung müssen wir uns allerdings neue Sehgewohnheiten angewöhnen: der zwölfjährige Jesus im Tempel. Jeder und jede hat die Szene schnell im Auge: Jesus sitzt im Zentrum oder erhöht, er predigt und die als Juden gekennzeichneten Schriftgelehrten schwan-ken je nach Darstellung zwischen beschämt, staunend und empört. Der Evangelist Lukas, der diese Szene überliefert, erzählt es ganz anders und ohne negative Tendenz dem Judentum gegenüber: Jesus „saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen.“

Alttestamentliche Szenen

Beim Betrachten der Bilder und Statuen unserer Kirchen werden Sie viele alttestamentliche Szenen entdecken: Die Bundeslade und die Quellen lebendigen Wassers vom Sinai in der Pfarrkirche Unterach. Im Mittelalter werden alttestamentliche Personen, etwa Propheten, mit einem Judenhut besonders gekennzeichnet – ohne abwertende Polemik. Etwa auf den Glas-fenstern in der Stadtpfarrkirche von Wels.

Bei der Vierung kommen in einer Kirche das Haupt- und das Querschiff zusammen – ein zent-raler Ort in der architektonischen Gestaltung eines Bauwerks. In der Basilika Maria Puchheim finden wir gerade an jener Stelle die Szene „Darstellung des Herrn“ mit einer Menora, dem siebenarmigen Leuchter fast am höchsten Punkt der Wölbung.

Der Grundstein der Stadtpfarrkirche Schwanenstadt ist ein Stein vom Ölberg in Jerusalem, mitgebracht von einer großen Heilig-Land-Wallfahrt unserer Diözese zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Ebenfalls in Schwanenstadt finden wir alttestamentliche Motive einem neutestamentlichen ge-genübergestellt: das Pessachmahl der Jüdinnen und Juden vor der Befreiung aus der Knecht-schaft sowie das Manna in der Wüste mit dem Letzten Abendmahl Jesu. Die Rokoko-Kirche Pfarrkirchen bei Bad Hall ist mit Fresken zu diesem Themenkomplex reich ausgestattet. Auch hier lernen wir heute eine neue Interpretation dieser Zusammenhänge. Das „Alte Testament als Wahrheitsraum des neuen“ (Frank Crüsemann), als Wurzel und Quelle unserer christlichen Interpretation – und nicht als Überwindung, Überbietung oder Nichtig-Setzung des Früheren.

Das sind nur exemplarische Nennungen. Unsere Gotteshäuser und die dort wirkenden Künst-lerinnen und Künstler haben durch die Jahrhunderte vielfältige und kreative Ausdrucksformen für das Jüdische in unserem Glauben gefunden. Ich wünsche Ihnen anregende Entdeckungs-reisen: eine Entdeckungsreise zum Judentum, eine Entdeckungsreise zum Glauben Jesu und der Apostel, eine Entdeckungsreise zu den Quellen unserer eigenen Spiritualität.

Editorische Anmerkungen

Manfred Scheuer ist Bischof von Linz.

Quelle: Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Österreich.