Judentum heute – Emmanuel Levinas
Alisa Bach
Judentum ist, obwohl universal denkend, eine sehr spezifische Form des Monotheismus: ein eigenständiger, unverwechselbarer Beitrag zum monotheistischen religiösen Denken. Also solches ist dieses Denken immer noch aktuell und lebendig.1
Das Judentum ist eine seltsame und „ungewöhnliche Verbindung von Texten und Menschen“.2 Zwar beruhen alle Weltreligionen auf heiligen Büchern, jedoch ist im Judentum das Verhältnis von Mensch und Text insofern ungewöhnlich, als alle Juden aufgerufen sind, Tag und Nacht, wie es im Gebetbuch heißt, durch Studium den göttlichen Willen und Auftrag beständig neu zu erforschen. Diese Verbindung von Juden und Tora erneuert sich in Zeiten der Krise und Verfolgung und ist Grundlage der jüdischen Selbstbehauptung.
Levinas wendet sich dagegen,
dass die Stimme Israels in der Welt bestenfalls als die Stimme eines Vorläufers vernommen wird, als die Stimme des Alten Testaments, das wir Juden, einem Ausspruch Bubers zufolge, weder als Testament noch als alt zu betrachten berechtigt seien und das wir nicht in der Perspektive des Neuen Testaments sähen… Damit die Vereinigung zwischen Menschen guten Willens, die ich mir wünsche, nicht im Abstrakten und Ungefähren stattfindet, erlaube ich mir, …auf den besonderen Wegen des jüdischen Monotheismus zu beharren. Ihre Besonderheit gefährdet den Universalismus nicht, sondern fördert ihn.“3
Es ist erfreulich, aus heutiger Sicht aufgrund des weiter geführten christlich-jüdischen Dialogs sagen zu können, dass diese Forderung weitgehend erfüllt ist. Levinas geht es aber um mehr als um Anerkennung der Juden als soziale Gruppe, es geht ihm um die philosophische Explikation zentraler jüdischer Botschaften und um die Untersuchung ihrer Werthaltigkeit für die moderne Gesellschaft. Er schreibt als Philosoph, nicht als Rabbiner über das Judentum. Sein Anliegen ist es, in Begriffen der Philosophie, d.h. also unabhängig von Glaubensfragen, diese Botschaft universal verständlich zu machen.
Bedeutung des jüdischen Monotheismus
Es geht bei diesem Wort „Monotheismus“ noch um anderes als um die Zeugenschaft für den einzigen und höchsten Gott. Nach Levinas ist Monotheismus nicht nur ein Glaubenssatz oder Dogma, Judentum nicht nur ein Glaube, sondern eine Aufforderung, ein Anruf an den Einzelnen. In vielen Variationen formuliert Levinas seinen Grundgedanken zum jüdischen Monotheismus dahingehend, dass jüdische Religiösität mit Ethik zusammenfällt. Darin – nicht in einer vordergründigen Diesseitigkeit – besteht die Besonderheit des jüdischen Monotheismus.
Aber das Wort bezeichnet eine Gesamtheit von Bedeutungen, vor deren Hintergrund der Schatten des Göttlichen, jenseits aller Theologie und allen Dogmatismus, auf die Wüsten der Barbarei fällt: dem Höchsten folgen, nur dem Einen die Treue bewahren; dem Mythos misstrauen … dem Höchsten folgen, da nichts höher ist als das zugehen auf den Mitmenschen, als die Sorge um das Schicksal der „Witwen und Waisen, Fremden und Armen“… das Trauma meiner Sklaverei in Ägypten begründet meine Menschlichkeit … in der Verantwortung für den andern Menschen liegt meine Einmaligkeit … daher der Begriff eines Geschöpfes, das die Chance hat, sich zu retten, ohne dem Egoismus des Heils zu verfallen…4
„Egoismus des Heils“ – diese Wendung radikalisiert die weitgehende Ablehnung von Askese, weltabgewandter Meditation und extensiver Introspektion als Wege zum Glauben, die in vielen andern Religionen stärker ausgeprägt sind. Auch das Judentum kennt die Versunkenheit ins Gebet, die mystische Annäherung an den Höchsten in der Ekstase und die Selbstreflexion. Alles dies macht jedoch für Levinas nicht das Wesentliche der jüdischen Botschaft aus. Man könnte mit Levinas sagen: das Göttliche ist in der menschlichen Beziehung und in der für diese Beziehung von Anfang an konstitutiven, wechselseitigen Verantwortung füreinander präsent und erfahrbar.
Rationalität
Damit steht Levinas im Gegensatz zu mystischen, auch zu chassidischen Strömungen des Judentums und ist der spezifisch rationalistischen Interpretation des Judentums, wie sie in seiner litauischen Heimat traditionell verankert ist, zuzuordnen. Dort wirkte im 18.Jahrhundert der berühmte Gaon von Wilna, der historische Gegenspieler des Baal schem Tow, des Begründers des Chassidismus. Levinas wurde auch von Gerschom Scholem als echter „Litwak“ – ein jiddischer Spottname für jüdische Aufklärer – bezeichnet.
Für das Judentum besteht das Ziel der Erziehung darin, zwischen dem Menschen und der Heiligkeit Gottes eine Beziehung herzustellen und den Menschen in dieser Beziehung festzuhalten. Doch sein ganzes Bemühen…besteht darin, diese Heiligkeit Gottes in einem Sinn zu begreifen, der sich von der numinosen Bedeutung dieses Wortes abhebt… Das Judentum hat die Welt entzaubert, hat sich von dieser angeblichen Entwicklung der Religionen aus dem Enthusiasmus und dem Heiligen abgehoben. Dem Judentum steht jede offensive Rückkehr dieser Formen menschlicher Erhebung fern. Es sieht in ihnen das Wesen des Götzendienstes… Der Gott der Juden ist nicht der Überlebende mythischer Götter.5
Intellektualität
Das Judentum erschließt sich nur durch kontinuierliches und anstrengendes Studium von Texten: der Bibel und des Talmud. Judentum ist daher eine „Religion für Erwachsene“ und es ist eine Religion, die ein umfangreiches intellektuelles Training verlangt. Sehr hart – aber durchaus in Fortsetzung entsprechender Auffassungen der Tradition formuliert Levinas: „Der Ungebildete kann nicht wahrhaft fromm sein“. Der jüdische Monotheismus muss
…in der von ihren Quellen umgebenen Bibel gesucht werden, wo sie, der jüdischen und der christlichen Tradition gemeinsam, ihre spezifisch jüdische Physiognomie bewahrt. Ich nannte die mündliche Tradition der Exegese, die sich im Talmud und seinen Kommentaren niedergeschlagen hat. Die Manier, die diese Tradition begründete, macht das rabbinische Judentum aus... Das Judentum als historische Realität – kurz, das Judentum – ist rabbinisch.6
Ethnische, nationale und kulturelle Zugehörigkeit können allein keine jüdische Identität begründen. Ein volkstümliches Judentum des Gefühls läuft Gefahr, rückwärts gewandt, sentimental zu werden und ein vergangenes Judentum nur nachzuvollziehen.
Der andere Weg – der einzige, der steile – bietet sich an: zu den Quellen, zu den vergessenen, schwierigen alten Büchern, in einem harten, mühsamen und strengen Studium. Die jüdische Identität ist in diese alten Dokumente eingeschrieben.7
Dabei geht es Levinas keineswegs um ein historisierendes Studium, um ein Verständnis der Texte aus ihrer Zeit heraus. Er ist von der Möglichkeit überzeugt, die Aussagen der alten Texte im Dialog mit der Moderne –d. h. mit den Erkenntnissen der Philosophie in ihrem Wesensgehalt zu reformulieren.
Judentum der wurmstichigen Traktate im Gegensatz zum Judentum der Juden? Warum nicht! Noch weiß man nicht, welches von beiden das lebendigere ist. Sind die wahren Bücher nichts als Bücher? Sind sie nicht auch die Glut, die unter der Asche schläft, wie Rabbi Elieser zufolge die Worte der Weisen?8
Jüdische Religiosität ist Ethik
Levinas verneint eine Entwicklung vom Glauben zur Ethik, im Judentum sind Glauben und Ethik eins.
Die moralische Beziehung (d. h. die zwischenmenschliche Beziehung, d.V.), vereint also zugleich das Selbstbewusstsein und das Bewusstsein von Gott. Die Ethik ist nicht die Folge der Gottesschau, sie ist diese Schau selbst. Die Ethik ist eine Optik, so dass alles, was ich von Gott weiß und alles, was ich von Seinem Wort hören und ihm vernünftigerweise sagen kann, einen ethischen Ausdruck finden muss.9
Gebet und Liturgie dienen der Erziehung und Selbsterziehung, der Bestärkung des Einzelnen durch die Gemeinschaft. Doch ohne Gerechtigkeit bedeuten sie nichts. Nur Gerechtigkeit bewirkt die Nähe zu Gott:
Der Fromme, das ist der Gerechte. Gerechtigkeit ist der Terminus, den der Jude gefühlsbetonteren Termini vorzieht.10
Dass die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt, eben dies ist der Geist der jüdischen Bibel.11
Rituale
In Anknüpfung an Maimonides beschreibt Levinas die Bedeutung der Rituale des Judentums als Erziehung zu Selbstdisziplin. Rituale sind keine Sakramente – für sich genommen, bewirken sie gar nichts.
In diesem Punkt setzt sich Levinas deutlich von seinem orthodoxen Zeitgenossen Jeschajahu Leibovitz ab, der die Rituale, jenseits ihrer Verstehbarkeit und eines formulierbaren Sinnes oder einer historischen Bedingtheit als von Gott befohlen und absolut verpflichtend beschreibt, sozusagen als nicht hintergehbares und nicht hinterfragbares Axiom jüdischen Lebens. Levinas geht es nicht um die Befolgung von göttlichen Befehlen – die Worte ‚Gehorsam’ und ‚Dienst’ kommen in seinen Aufsätzen zum Judentum nicht vor – wohl aber ‚Treue’ zu den Texten, Selbstdisziplin und Erziehung zum ethischen Handeln als wesentliche Botschaft des Judentums.
Der Weg, der zu Gott führt, führt also ipso facto – und nicht obendrein – zum Menschen; und der Weg, der zum Menschen führt, bringt uns zur rituellen Disziplin, zur Selbsterziehung. Ihre Größe lieg in ihrer täglichen Regelmäßigkeit… Das Gesetz ist Anstrengung.12
Er selbst erfüllte seine jüdischen Pflichten penibel: häusliche Gebete, koscherer Haushalt, Teilnahme an den Gottesdiensten. Dieser Ritualismus darf jedoch nicht mit Orthodoxie und Dogmatismus verwechselt werden. Nichts war Levinas fremder als blinde Buchstabengläubigkeit – aber er war ein Anhänger der strengen Disziplin und der fortwährenden Konfrontation mit den jüdischen Botschaften, die ein ritualisiertes Leben beinhalten. Der für das Judentum so charakteristische Ritualismus bedingt eine gewisse Künstlichkeit im alltäglichen Leben und entfernt den Juden in seiner natürlichen Existenz von der Natur. Diese Distanz zur Natur hält ihn aber gleichsam in der „Gegenwart des Höchsten“.13
Die Haltung zum Atheismus
Im jüdischen Denken ist die Trennung von Gott, der Atheismus, mit gedacht und wird als von Gott ermöglichte Lebensweise und Ausdruck der von Gott gewollten Freiheit des Menschen akzeptiert. Atheismus ist nicht Götzendienst. An dieser Stelle, in der Konzeption des Menschen als „frei geschaffen“ (Schiller) berühren sich jüdisches Denken und abendländische Philosophie.
Es gereicht dem Schöpfer zu hoher Ehre, ein Wesen auf die Beine gestellt zu haben, das ihn bejaht, nachdem es ihn im Blendwerk des Mythos und des Enthusiasmus angefochten und geleugnet hatte; es gereicht Gott zu hoher Ehre, ein Wesen geschaffen zu haben, ihn zu suchen oder aus der Ferne zu hören, vor dem Hintergrund der Trennung, des Atheismus… Der Monotheismus überwindet und umschließt den Atheismus, aber er ist demjenigen verwehrt, der nicht das Alter des Zweifels, der Einsamkeit und Auflehnung erreicht hat.14
Universalität und Besonderheit
Trotz seiner Besonderheit und rituellen Absonderung denkt das Judentum universell. Die im Judentum formulierte Auserwähltheit begreift Levinas –mit der rabbinischen Tradition – als Annahme einer besonderen Weltverantwortlichkeit. Levinas definiert Universalität wie folgt:
Eine Wahrheit ist universell, wenn sie für jedes vernunftbegabte Wesen gilt. Eine Religion ist universell, wenn sie allen offen steht. Und in diesem Sinn hat sich das Judentum, indem es das Göttliche mit der Moral verband, immer als universell verstanden.15
Die Beziehung des jüdischen Volkes zu anderen Völkern beschreibt Levinas auf der Grundlage seiner philosophischen Formulierung der allgemeinen Beziehung des „Ich“ zum „Andern“. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis der grundlegenden und unaufhebbaren Differenz –Unterscheidung – eines „Ich“ und des „Anderen“. Jeder Mensch ist als „Ich“ gegenüber dem Anderen eine so abgeschlossene Entität, dass der „Andere“ weder erkannt noch erfasst werden kann. Der „Andere“ ist immer ein unerkanntes und absolut unerkennbares Individuum. Der Andere repräsentiert gegenüber dem Ich nicht nur das andere „Ich“ sondern auch jedes andere „Ich“ –, den „Dritten“. Im Andern tritt dem Ich die Welt entgegen. Damit wird die Beziehung des Ich zum Anderen zur Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung überhaupt und zur absoluten Grundlage der Ethik. Die Grundlage der menschlichen Beziehung ist somit die Begegnung eines „Ich“ mit dem unerkennbaren „Anderen“. In dieser Begegnung ist immer schon und konstitutiv ein Anruf enthalten: jedes Ich erfährt in der Begegnung mit dem Anderen den für die menschliche Beziehung grundlegenden, ethischen Anruf: „Töte mich nicht“. Levinas weist die Idee der Gleichheit aller Menschen, beziehungsweise des Gleich-Seins aller Menschen zugunsten der Differenz, der Unterscheidung als Basis des Menschlichen zurück. Die Anerkennung und Akzeptanz des unerkennbaren „Anderen“ und die Annahme des Anrufs durch den Andern konstituiert das Ich als ethisches Individuum. Die Anerkennung des Anderen ist eine unhintergehbare moralische Pflicht, die ohne jede Vorleistung seitens des Anderen geschuldet ist.
Die grundlegende Intuition der Moral besteht vielleicht darin, zu erkennen, dass ich dem Anderen nicht gleich bin; und zwar im folgenden, sehr strengen Sinn: ich sehe mich dem Anderen gegenüber verpflichtet, und infolgedessen bin ich mir selbst gegenüber unendlich anspruchsvoller als gegenüber den anderen. „Je gerechter ich bin, desto strenger wird über mich gerichtet“, sagt ein Text des Talmud. Daher gibt es kein moralisches Bewusstsein, dass nicht Bewusstsein dieser außergewöhnlichen Position ist, das nicht ein Bewusstsein der Auserwählung ist. Die Gegenseitigkeit ist eine Struktur, die auf einer ursprünglichen Ungleichheit beruht. Damit die Gleichheit in die Welt Einzug halten kann, müssen die Menschen imstande sein, mehr von sich selbst zu fordern, als von anderen, spüren, dass sie eine Verantwortung tragen, von der das Schicksal der Menschheit abhängt, und sich in diesem Sinn von der Menschheit absetzen. Diese „Stellung abseits der Völker“ – von denen der Pentateuch spricht – ist im Begriff Israels und seiner Besonderheit verwirklicht. Es handelt sich um eine Besonderheit, die die Universalität bedingt. Und es handelt sich mehr um eine moralische Kategorie denn um das historische Faktum Israel, auch wenn das historische Israel tatsächlich dem Begriff Israel treu geblieben ist…16
Die menschliche Beziehung im Mittelpunkt des Denkens, nicht Landschaften oder Orte
Diese Auffassung widerspricht nur auf den ersten Blick der Bindung des jüdischen Volkes an das Land Israel. Der Ursprung des Judentums liegt im Niemandsland, in der Wüste. Die Verheißung des Landes ist an die Verwirklichung des ethischen Auftrags geknüpft. Obwohl Levinas selbst nicht nach Israel übersiedelte, war er ein glühender Verfechter der Rückkehr des jüdischen Volkes nach Israel und sah darin eine fantastische Chance zur Regeneration jüdischen Denkens und Glaubens. Dennoch betont er die Heimatlosigkeit und örtlichen Ungebundenheit der Juden als das Wesentliche, nämlich als Voraussetzung der Freiheit.
Der Mensch beginnt in der Wüste, wo er in Zelten wohnt und wo er Gott in einem Tempel anbetet, der sich transportieren lässt. Im Laufe seiner ganzen Geschichte erinnert sich das Judentum [an] diese freie Existenz – frei gegenüber den Landschaften und den Architekturen…Das Laubhüttenfest ist die liturgische Form dieses Gedächtnisses, und der Prophet Sacharja kündigt für die messianischen Zeiten das Laubhüttenfest als Fest aller Völker an. Die Freiheit gegenüber den sesshaften Formen der Existenz ist vielleicht die menschliche Art und Weise, auf der Welt zu sein. Für das Judentum wird die Welt durch ein menschliches Antlitz intelligibel und nicht … durch Häuser, Tempel und Brücken. 17
Messianismus
Erlösung ist nach Levinas’ Interpretation des Judentums etwas, was der Mensch selbst vollbringt – nicht ein künftiges Ereignis aus göttlicher Gnade sondern die Krönung der menschlichen Entwicklung.
Der Mensch kann was er soll; er kann die feindlichen Kräfte der Geschichte beherrschen, indem er ein messianisches Reich verwirklicht, ein Reich der Gerechtigkeit, wie es die Propheten verkündeten; das Warten auf den Messias ist die Dauer der Zeit selbst.18
Levinas bemüht sich sehr um eine Explikation der sehr komplexen Gedankenwelt der Rabbinen zum messianischen Zeitalter und zur kommenden Welt – zwei durchaus zu unterscheidende Zeiten. Einerseits vertreten die Rabbinen die Erwartung des messianischen Zeitalters aus göttlicher Gnade und unabhängig von menschlichen Verdiensten, während nach anderer Meinung der Eintritt des messianischen Zeitalters von der menschlichen Vorbereitung abhängig ist, letztlich also vom politischen Denken und handeln der Menschen. Im Komplex des messianischen Denkens verläuft die Scheidelinie zwischen den Polen Rationalität und menschlicher Freiheit einerseits und damit der Möglichkeit eines letztendlichen Sieges von Ungerechtigkeit und Bosheit. Am andern Pol steht die Überzeugung vom letztendlichen Sieg des Guten – der Glaube an die göttliche Gnade. Auf dieser Seite, die im jüdischen Mittelalter die vorherrschende war, als die Juden keinerlei Möglichkeiten hatten, in den Gang der Geschichte einzugreifen, herrscht eine kritische Distanz zu Politik und Geschichte, eine Passivität, die im Zeitalter der Emanzipation nachließ. Dieser historische Wandel des messianischen Denkens – einhergehend mit dem Eintritt der Juden in Geschichte und Politik- ist nicht umkehrbar. Allerdings behauptet Levinas die reelle Möglichkeit des Menschen, das messianische Zeitalter herbeizuführen im Sinne einer realisierbaren Utopie.
Judentum, biblisches und rabbinisches Denken sind immer noch aktuell
Judentum ist eine Kultur, der die moderne Welt mindestens ebensoviel verdankt wie der griechischen und römischen Antike: die Entzauberung der Religion und eben die Formulierung der Ethik als Sinn des Daseins.
In der Tat gehört das Judentum … zur lebendigen Aktualität, neben seinem Beitrag an Begriffen und Büchern, dank Männern und Frauen, die als Pioniere großer Unternehmungen und Opfer großer historischer Erschütterungen in gerader und ununterbrochener Linie mit dem Volk der Heiligen Geschichte verbunden sind. Der Versuch, in Palästina einen Staat wiederzuerrichten und die einstigen schöpferischen Eingebungen von universeller Bedeutung wiederzufinden, ist außerhalb der Bibel nicht vorstellbar. 19
Emmanuel Levinas Biographie
190612. Januar, geboren in Kaunas, Litauen. Erziehung in er jüdischen Tradition und in der russischsprachigen Umwelt.
1914-1918 Besuch des russischsprachigen Gymnasiums in Charkow. Für Juden damals eine Auszeichnung.
1923 Beginn des Philosophiestudiums in Straßburg.
1928/29 Studium bei Husserl und Heidegger in Freiburg.
1930 Dissertation über die Husserlsche Phänomenologie. Er übersetzt Husserl ins Französische.
1931 Einbürgerung in Frankreich.
1932 Heirat mit der Musikstudentin und Jugendfreundin Raissa Lévy.
1934 Lehrer an der Alliance Israélite (sephardisch). 1935 Beschäftigung mit Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“.
1940 gerät als französischer Unteroffizier in deutsche Kriegsgefangenschaft; Lager in Fallingbostel.
Seine Frau und Tochter überleben versteckt in einem Kloster.
1945 Befreiung und Nachricht von der Ermordung seiner Familie in Litauen.
1946-1963 Direktor eines Lehrerausbildungsseminars der Alliance Israélite.
1960 Beginn er jährlichen Talmudvorlesungen
1961 Beginn der Lehrtätigkeit an den Universitäten Poitiers und Nanterre, seit 1973 an der Sorbonne.
1961 sein erstes großes Werk Totalität und Unendlichkeit“ erscheint. Ausgehend von den Dialogphilosophien Franz Rosenzweigs und Martin Bubers entwickelt Levinas eine Philosophie der Ethik, die die ethische Neutralität traditioneller Ontologie aufgibt, indem er die Beziehung zum ‚Anderen’ analysiert.
1974 erscheint sein zweites großes Werk „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“.
1995 Emmanuel Levinas stirbt am 25. Dezember.
Anmerkungen
- Vortrag zum Studientag des Vereins Begegnung – Christen und Juden e.V. am 29.9.05
- Emmanuel Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt 1992, 39.
- A. a. O., 23f.
- A.a.O., 40.
- A.a.O., 24f.
- A.a.O., 24.
- A.a.O., 56.
- A.a.O.
- A.a.O., 29.
- A.a.O., 30.
- A.a.O., 32.
- A.a.O., 30.
- A.a.O., 41.
- A.a.O., 27.
- SF, S.34, Ethik und Geist, erstmals veröffentlicht 1952)
- A.a.O., 34f.
- A.a.O., 36.
- A.a.O., 40f.
- A.a.O., 38f.