Juden und Christen: 'Vorwärts und nicht vergessen!'

Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Berlin, hielt diesen Vortrag anlässlich der Generalversammlung 2001 des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wien.

Friedrich-Wilhelm Marquardt

Juden und Christen: „Vorwärts und nicht vergessen!“

Bewusst habe ich für den heutigen Abend ein Motto aus dem Arbeiterkampfmilieu gewählt, und nicht aus der religiösen Welt. „Vorwärts und nicht vergessen!“ sang der Trommler der Arbeiterbewegung, der Kieler Proletariersohn, Spanienkämpfer, Internationalist, der Gefangene der Nazis und der später vom DDR-Stalinismus gebeutelte Ernst Busch, Verse von Bertolt Brecht nach der Melodie des Wieners Hans Eisler am Ende des UFA-Films „Kuhle Wampe“ im Jahre 1932. Der Film hatte mit dem Selbstmord eines Arbeitslosen begonnen und zeigt, wie Arbeiter vor 1933 persönliche Schicksale zu bewältigen versuchten. Sie schließen sich nur um so überzeugter zu einer kollektiven Einheit zusammen, draußen vor den Toren der Stadt Berlin, auf dem Zeltplatz Kuhle Wampe. Wo ein Einzelner mit seinem Wollen und seinen schwachen Kräften strandet, kämpfen sie nun um eine gemeinsame Richtung und Linie. Und wenn sie dann am Samstagabend aus der grünen Vorstadt gestärkt wieder mit der S-Bahn zurückfahren in der „grauen Städte Mauern“, dann beginnt der junge Ernst Busch im Refrain zu singen: „Vorwärts und nicht vergessen die Solidarität!“ Der Blick richtet sich nach vorne in die Zukunft der nächsten Woche, der kommenden Zeit; auch vorwärts auf neue Ziele hin, nicht mehr rückwärts auf das tragische Vorkommnis des Selbstmords eines Kameraden - aufs Leben also, nicht auf den Tod. Es ist eine ungeheure Willensenergie in dem Lied, von der ich mich als heutiger Christ gerne anstecken lassen möchte.

Vorwärts

Wir haben es ja auch in den Beziehungen von Christen und Juden nach der Schoa bitter nötig, voranzukommen und nicht auf der Stelle zu treten. Auf beiden Seiten wächst eine neue Generation heran, die von Hitler aus eigenen Verstrickungen „nicht mehr weiß“. Gewiss ist es viel zu wenig der Quantität nach, was diese Jungen von ihren Großeltern und Eltern in Erfahrung gebracht haben über dieses unsagbare Gemisch von seelischer Kälte, geistiger Gleichgültigkeit und kollektiver Feigheit jener Generationen; und es ist vor allem auch qualitativ „zu wenig“ (wenn man so mit „viel und wenig“ überhaupt wägen und abmessen darf); was brennt schon den Älteren unter uns Christen wirklich im Gewissen?

Eine Gewissenserziehung bleibt darum unverzichtbar, und sie wird nur gelingen, wenn wir Älteren beharrlich an unserer Selbsterziehung arbeiten, der Erinnerungen nicht müde werden und uns aussetzen dem immer neuen Andrang von Schrecklichkeiten, von denen wir bisher wenig oder gar nichts gehört haben; - wie erst in der vergangenen Woche von dem hierzulande geborenen Massenmörder Alois Brunner und den 232 französischen, nach Auschwitz verschleppten Kindern und von der nicht weniger schrecklichen Nachgeschichte: Nachdem er, von allem verschont, aus dem Krieg herausgekommen war, hat ihn mit großer Wahrscheinlichkeit der amerikanische Geheimdienst in die ihm wertvollen Dienste genommen; jedenfalls hören wir, dass er beim CIA in Kairo auf einer Gehaltsliste stand; wahrscheinlich haben ihn dann die Amerikaner an den Bundesdeutschen Nachrichtendienst weitergegeben, für den er womöglich, wohldotiert, in Damaskus weitergearbeitet hat – wo er bis heute „verschwunden“ sein soll, aber doch wohl eher gedeckt und verborgen von der syrischen Regierung. Als die Justiz unserer Länder – Österreichs und Deutschlands – in Damaskus um Brunners Auslieferung nachsuchte, war er dort, so hieß die Auskunft, nicht bekannt, obgleich er unter dem falschen Namen „Fischer“ bis in die achtziger Jahre eine völlig offene und erreichbare Anschrift in Damaskus besaß. Und über das alles hinaus hat er sich mehr als einmal öffentlich zu Wort gemeldet, alle Verbrechen, die ihm vorzuwerfen sind, bestätigt, sich ihrer gerühmt und bedauert, „dass er nicht noch mehr Menschen in den Tod schicken konnte“ (Tagesspiegel Berlin, 01.03.2001). Sie haben das alles ja auch in Ihren Zeitungen gelesen.

Das Material für unser Wissen ist noch lange nicht erschöpft. Verbrecherische Judenmörder standen auch nach dem Ende Hitlers in Diensten westlicher Staaten und wurden von ihnen geschützt; der Boden wurde, wie Brecht sagte, fruchtbar gehalten, aus dem die Schande der Menschheit gekrochen war, und das Erbe Hitlers wurde eingebunden in unseren angeblichen Neubeginn nach 1945. Israel umgebende Staaten decken Hitlersche Massenmörder: die rechte Hand von Adolf Eichmann – wie soll man da als Israeli nicht von Entsetzen geschüttelt werden! Und selbst wenn der Israelische Geheimdienst ihn schon fast „hatte“ und Briefbomben ihm die Hände verstümmeln konnten: Der Mördergeist der Hitler-Tage überdauert ihr Ende, und wir sehen heute schon jugendliche Nazis an Horst Wessels Grab in Berlin und am Todestag von Rudolf Hess den „Toten der Bewegung“ ihre Treue schwören.

Wir wollen wohl gern, dass die vergehende Zeit „alles heilt“, wir durch den Zeitabstand alles historisch ruhiger sehen können, differenziert und jedenfalls nicht mehr unter einem Druck unserer Betroffenheiten. Aber die Zeit tut"s nicht. Sie bleibt noch stehen und fesselt uns in ihren Bann. Und doch: Vorwärts – gerade weil wir uns nicht ins Vergessen fallen lassen können, wie viele wohl gerne möchten. Vorwärts – auch Christen vorwärts! Erlauben Sie mir, es unter dem Andrang der Zeit zunächst ganz parolenhaft-kurz auszudrücken: Von heute an wollen wir Christen ein neues Zusammenleben mit Juden zu beginnen versuchen; uns reinigen von zweitausend Jahren christlichem Judenhass; einer falschen antijüdischen Art, die Bibel zu lesen; von den Zwängen religiöser Feindbilder, Gebilden eines christlichen Hochmuts, der in Wahrheit nur einen Minderwertigkeitskomplex anzeigt, eine gemeine Aggression unseres christlichen Selbstzweifels. Weil wir nie stark genug wissen, wer wir selber sind als Christen, hassen wir „die Anderen“.

Aber mehr noch als „reinigend“. Vorwärts! Von heute an wollen wir kämpfen um einen neuen Sinn, eine christliche Mehrheit zu sein, - dazu: die Minderheiten überhaupt, und ganz besonders die jüdische Minderheit, in den Schutz unserer Stärke zu nehmen vor allen wahnsinnigen Biedermännern und Brandstiftern, Hakenkreuzschmierern und Friedhofsschändern, Fenstereinwerfern und Molotowcocktail-Werfern aus unseren Reihen. Sollte es nötig werden, werden christliche Gemeinden von nun an Tag – und Nacht – Wachen rund um die Uhr an jüdischen Orten postieren, wenn, wie bei uns in Berlin, für so etwas nicht mehr genug Polizeischutz gestellt werden kann; oder christliche Gemeinden werden Kollekten sammeln, um Wachdienste zu beauftragen und zu bezahlen. Noch mehr als das. Vorwärts! Von nun an tun wir uns, wenn sie es innerlich schon können und mögen, mit Juden zusammen und fragen, was sie und wir uns gemeinsam für Ziele einer gesellschaftlichen Arbeit vornehmen können, zur Stärkung von Demokratie und Recht, von sozialem Gewissen und bürgerlicher Bildung,

von Hilfe für unter die Räder Gekommene, vor allem zur Abwehr jeder offenen, noch mehr jeder verborgenen und in hehre Ideen verpackten Aversion gegen das Fremde und „die Anderen“.

Wir haben mit den Juden die biblischen Profeten gemeinsam und Jesus, den Juden: unerschöpfliche und längst nicht genug erschlossene und praktisch umgesetzte Soziallehre, viel radikaler als irgendeine evangelische oder katholische Soziallehre in ihren Anforderungen, viel einfallsreicher in ihren Anregungen und Angeboten.

Dreimal vorwärts also:

1. Christliche Selbstreinigung.

2. Minderheitenschutz.

3. Gemeinsam kämpfen für Ziele von Recht, Hilfe und Fremdenfreundlichkeit – was mehr ist als bürgerliche Toleranz.

Und nicht vergessen

Aber natürlich keine Amnesie, kein Vergessen. Vorwärts kommt nur, wer nicht vergessen will.

Auch das Verhältnis zur Vergangenheit, zur Geschichte, ist eine Willenssache, und sie geht im Verhältnis zu den Juden gerade uns Christen an. Juden werden über Generationen hin „nicht vergessen"“, nicht „einschlafen“ können mit ruhigen Gedanken. Bei uns wollen nur zu viele alles einstige vergessen machen. Wir Christen aber stehen fürs Nicht-vergessen-Wollen. Natürlich wissen wir, dass Vergessen-Können eine Wohltat und ein Trost der Seele sein kann, also etwas gut Menschliches. Aber nur um so mehr stellt sich Christen die Aufgabe, nicht vergessen zu wollen. Wir machen uns selten klar, dass Nicht-vergessen-Wollen das Wesen des jüdischen und des christlichen Glaubens ausmacht.

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ lehrt uns ein großer Psalmensänger (Ps 103,2) und „Solches tut zu meinem Gedächtnis“, ist die Überlebenslehre Jesu an seine Freundinnen und Freunde bei seinem Abschied von ihnen. Jesus folgen heißt nichts anderes, als ihn nicht vergessen.

Nun könnten wir freilich denken, Glauben meint: das Gute nicht vergessen. Aber das Wort schließt in der Bibel doch alles ein; Gutes und Schlechtes zusammen, mit Gottes Treue auch unser Versagen.

Mir ist ein Wort aus dem jüdischen Buch Jesus Sirach (7,29) besonders lieb, das heißt: „Vergiss nie, wie sauer du deiner Mutter geworden bist“, auch deiner jüdischen Mutter. – „Ich gedenke heute an meine Sünden“ heißt es im l. Buch Mose (41,9), oder in der Übersetzung des jüdischen Gelehrten Martin Buber: „Meine Sünden muss ich heute erinnern.“ Ein Tag des Gedenkens der eigenen Sünde gehört zum Judentum: Jom Kippur; zum protestantischen Christentum: Bußtag. Da gedenkt man Gottes, indem man sich der eigenen Sünde erinnert, sich ihrer nicht schämt und sie laut sagt, hörbar in der Gemeinde und vor Gottes Ohren. Juden und Christen sind geübt in einer solchen Schamlosigkeit; oder soll ich sagen, in einer solchen Unverschämtheit. Jedenfalls darin, nicht ihre eigene Schuld und Fehler zu vertuschen und vor anderen zu verheimlichen. Das feit sie gegen seelische Zwänge, gegen Verdrängen und sich auf die Couch in der Wiener Berggasse legen zu müssen.

Natürlich muss man fragen, lässt sich solche innere Offenheit und freie Ehrlichkeit von der religiösen Gemeinschaft auf das ganze Volk übertragen, aus religiösen Innenräumen in die Außenwelt?

Wir haben das in Deutschland im Jahre 1945 versucht, als ein paar Evangelische das Stuttgarter Schuldbekenntnis laut vor den Ohren von Ausländern abgaben. Das gab einen Aufschrei in der Öffentlichkeit, leider auch in der Kirche. Schuld, hieß es, lässt sich nur vor Gott bekennen, und nur für einen einzelnen Menschen ganz persönlich. Welche Anmaßung, es für das ganze Volk zu tun, welche politische Dummheit und Ungeheuerlichkeit, denn damit gibt man sich ja in die Hände all derer, die etwas gegen uns haben und macht sich erpressbar! Von keinem Volksvertreter, keinem Politiker könne man das verlangen, im Gegenteil: Er sei von Amtswegen verpflichtet, Schaden vom Volk abzuwehren, gerade auch Schaden, den ein Volk sich selbst zufügen würde, wenn es sich ganz konkret als schuldig bekennte.

Ähnlich hat auch der Bodensee-Dichter Martin Walser vor drei Jahren, 1998, argumentiert, als er in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt und dort sagte, wir dürften nicht weiter diese Erinnerung an unsere Schande von Auschwitz so in den Vordergrund des geistigen Lebens stellen, denn dann könnte Auschwitz politisch und gesellschaftlich, wie er sagte, ,,instrumentalisiert“ und zu einer „Moralkeule“ missbraucht werden auch gegen alle die, die gar nichts mit Auschwitz zu tun gehabt hätten.

Ich erinnere an beides, Stuttgart 1945 und Frankfurt 1998, nur um zu sagen: Ich weiß schon, es ist zweierlei, ob wir unserer Schande im Gottesdienst oder irgendwo anders in der Öffentlichkeit gedenken, und ob wir Christen das bloß für uns oder für viele andere gleich mittun.

Aber nun wollen wir heute Abend die Losung: „Nicht vergessen“ ins Zeichen des „Vorwärts“, eines Neuanfangs, stellen; da gehört dann meines Erachtens dazu, dass wir unsere schuldhafte Vergangenheit aus einem Verhängnis zu einer Willenssache verwandeln. Nur so kann ja unsere Nazi-Vergangenheit das Bedrückende, Beschämende verlieren und zu einem Teil eines neuen Lebens und Zusammenlebens mit Juden werden.

Uns Christen sehe ich zwei Aufgaben sich stellen, die wir anpacken können:

Erstens:

Wir sollten auch beim gottesdienstlichen Sündenbekenntnis nicht länger nur an unser ganz persönliches Sündigen und an die Not denken, die wir Gott damit bereiten; wir sollten auch an so viel Falsches denken, was in der Gesellschaft, zu der wir gehören, auch durch unser persönliches Dazutun angerichtet wird. Lasst uns dafür nicht so allgemeine, sondern konkrete Worte finden, Ursachen und Folgen bedenken, benennen, erkennen. Jedes Sündenbekenntnis habe etwas von analytischem und kritischem Geist, selbstkritischem vor allem, aber auch genauem. Lasst uns also unterscheiden, was heute Siebzigjährige und Fünfzigjährige und Zehnjährige „nicht vergessen“ wollen; unterscheiden, was Ärzte, was Universitätslehrer, was Eisenbahner, was Büroleute, was Hausfrauen, was Kaufleute, was Industriearbeiter, was Gasthauswirte, was Bauern, was wir Pfarrer. Lasst uns nicht alles in einen Topf zusammenwerfen. Jeder finde sich mit dem Seinen und jede mit dem ihren im Nicht-vergessen-Wollen der Kirche wieder.

Und dann sollten wir auch nicht bloß vor Gott gedenken, sondern auch vor den Mitmenschen. Jesus sagte: Bevor wir zum Altar kommen, sollen wir uns mit dem Bruder versöhnen, der etwas gegen uns hat (Mt 5,23). So etwas wie eine jüdisch-christliche Erneuerung wäre, wenn es in der Kirche nach Jesus ginge, nicht die Folge, sondern die unabdingbare Voraussetzung für einen christlichen Gottesdienst; und wir hätten, wenn es nach Jesus ginge, seit 1945, oder schon seit 1933, Ihr Österreicher spätestens seit 1938, gar keinen Gottesdienst mehr feiern sollen. Einfach deswegen, weil es in Jesu Augen Frieden mit Gott oder von Gott gar nicht geben kann, solange unser Bruder Israel, unsere Schwester Zion, noch etwas gegen uns haben - und wären es schlechte Träume und neue Angst. Daher kommt es, dass wir Gott nur dann „nicht vergessen“ und verleugnen, wenn wir unser Verhältnis zum jüdischen Volk, dem Volk dieses Gottes, „nicht vergessen“.

Und auch hier wollen wir in Zukunft konkret sein. Unsere Juden- und Gottvergessenheit nistet vor allem in unseren Seelen, als klammheimliches Ressentiment gegen Jüdisches, - als das seelisch völlig unkontrollierte Wirtshaus- und Nachbarinnengeschwätz, - als abschätzige Bemerkung über Israel, - als Judenwitz. wenn er nicht a1s Witz über eine besonders gewitzte lebens- und leiderfahrene Menschlichkeit erzählt wird („Ariel“ und „Saubermann“), nicht als Überlebensschläue, sondern boshaft und gemein und vernichtend.

Sie nistet in Ideologien unserer Köpfe von „jüdischer Weltherrschaft“, in verquasten Weltanschauungen von Heimatgefühl und „mir san mir“. Vor allem, Gott sei es geklagt, in einer unaufgeräumten theologischen Lehre, in oft totaler Israel-Vergessenheit protestantischer Predigten, in Anschauungen vom Wesen des christlichen, in denen Juden immer noch Gott- und Jesus-feindliche Monster oder Gespenster sind, - in einem Stolz auf unsere evangelische Freiheit, die nur in Verachtung jüdischer „Gesetzesreligion“ sich ausdrücken kann, - im sprichwörtlichem Vorurteil gegen das „Pharisäische“ und wer weiß, was alles für Unsinn noch. Nur eine solche Art von Selbstaufklärung im gottesdienstlichen Sündenbekenntnis könnte uns befähigen, mit neuen Einsichten aus dem kirchlichen Innenraum in den Außenraum der Öffentlichkeit unseres Volkes, unserer Gesellschaft überzuwechseln, und das sollen wir ja.

Zweitens:

Es ist Zeit, dass Christen, erfahren in einem Willen zum Nicht-Vergessen und geübt in analytischer Genauigkeit des Nicht-Vergessens, jetzt damit beginnen, die Last der Vergangenheit in das Selbstverständnis des eigenen Volkes einzuordnen. Ich bin der Meinung, dass wir (erstens) nationale Identitäten grade unter den Zwängen der kapitalistischen Globalisierung brauchen, (zweitens) dass wir eine österreichische und eine deutsche Identität nicht mehr nur über Sprache und Kultur werden finden und erneuern können, also nicht über unser stolzes historisches und kulturelles „Erbe“, sondern noch einmal gute Österreicher und Deutsche werden wir nur, wenn wir aufrecht, nicht mit gebeugtem Kopf und niedergeschlagenen Augen, sondern sehend (hinsehend) auch das Schwarze Loch, in das wir unsere Humanität versenkt haben, uns zu eigen machen, den Abgrund einer zu uns gehörenden Abgründigkeit bejahen. Nicht als Schattenseite und Blackout unseres eigentlich hellen Nationalcharakters, sondern als das Moment eines positiven Selbstverständnisses, zu dem gehört: Wir verstehen uns selbst nicht. Wie konnten wir das zulassen? Wie das wollen? Wir wollen nie vergessen, dass wir nicht wissen, wie wir das wollen konnten! Wir brauchen keinen Nationalstolz, auch keinen nationalen Selbsthass, aber eine nationale Selbstgewissheit, zu der gehört, dass wir einiges, was wir von unserer Geschichte wissen, doch nicht mit uns in Einklang bringen können. Lasst uns in unseren Völkern für einen Frieden mit uns selbst arbeiten, den wir nicht mit blöder biedermeierlicher Selbstzufriedenheit verwechseln wollen, der aber ein innerer, wissender Friede über dem Abgrund unserer geschichtlichen Verantwortung ist. Ein Friede von Leuten, die wissen, das sie „noch einmal davongekommen“ sind, ins Überleben gerettet, und dass sie für immer Überlebende der Katastrofe sind, die sie selbst verursacht haben. - Sagen wir analytisch vorsichtiger: mitverursacht haben: durch völkischen Idealismus, - durch Mitläufertum und Feigheit gegenüber den eigenen Hemmungen, - durch Wegsehen. Solche Verhaltensweisen sind Schäden an unserem Ich. Denn wahrer Mensch bin ich nicht in meinem heimlichen Wollen, sondern in meinem Vollbringen (auch wenn dies kein Gelingen ist), - in meinen Skrupeln, nicht in mein er Skrupellosigkeit, - nicht in einer Mystik der verschlossenen Augen vor der bösen Welt, sondern in einem Hinschauen ohne Illusion.

Es kann zu unserer Ehre gehören, wenn wir freimütig sagen, ja, auch ich entstamme einer Nazi-Familie. Auch mein Vater trug irgendeine von Hitlers vielen Partei- oder Soldatenuniformen, ich selbst die des Jungvolks. Auch meine Großmutter war trunken von dem berühmten tiefen Blick in die Augen des „Führers“. Und wenn ich später geboren bin: Ja auch mich haben diese Großeltern und Eltern nicht mehr so interessiert, dass ich sie mit ihrer verschwiegenen Geschichte herausgefordert hätte. Auch ich habe nichts von ihnen erfahren und mir auch kein Bild über meine Herkunft von ihren Mentalitäten und Lebenslügen machen wollen. Auch ich wollte von mir selbst, meinem unterirdischen Wurzeln, nichts wissen, als ich von ihnen nichts wissen wollte. Unsere Ehre hieße hier: Treue zu den Eltern und Großeltern, deren Verschwiegenheit aufzubrechen wäre.

Dazu umgekehrt aber: Es wäre unsere Ehre, in einem politischen-geistigen und religiösen Milieu zu leben, das Wissbegier und Lernbegier und Selbsterkenntnis aufstachelt und das Nicht-Vergessen zur höchsten Tugend macht. Gerade wir Christen wissen, dass durch Jahrtausende hindurch Sonntag für Sonntag und Tag für Tag die uralte Profeten- und Jesusgeschichte immerzu wiederholt wird und machen dabei die Erfahrung, dass sie sich nicht überholen lässt, sie darum auch nicht langweilig und nichtssagend werden kann. Ja, dass wir jede Woche, jeden Tag im tiefsten davon zehren, dass diese alte Geschichte immerzu wiederholt wird. Juden und Christen sind Menschen, denen ihre Vergangenheit nicht über wird. Und nun ist es gewiss nicht dasselbe, wenn wir uns unsere Geschichte mit Hitler und unsere Verantwortung für Auschwitz unermüdet wiederholen; Gott hat zu unserem Glück einen längeren Atem als unsere Schuld.

Aber auf die Frage: „Wie lange denn noch?“ habe ich mir folgende Antwort erarbeitet: Schlicht solange, solange Hitler-Opfer und Juden unsere Zeitgenossen sind und um ihren Schlaf gebracht werden, wenn sie an uns denken. Das sind ja, wie wir lernen mussten, nicht nur die unmittelbar Überlebenden der Konzentrationslager, auch ihre Kinder und Enkel tragen zum Teil schwere seelische Störungen, weil sie mit gequälten, schlaflosen, unglücklichen Eltern und Großeltern heranwuchsen. Wie sollen wir Deutschen und Österreicher unbetroffen daran vorbeieilen und es uns einfach nur gut sein lassen?!

Und noch etwas, was uns erst seit der europäischen Wende in den letzten zehn Jahren bewusst wird. Immer noch kaum eine Woche ohne Bombenfunde aus dem Krieg auf den Grundstücken unserer Städte. Die sind auch in fünfzig Jahren nicht verrottet und entschärft. Unsere Feuerwerker sind immer wieder dabei, unter Lebensgefahr die Funde des Krieges ungefährlich zu machen. So nah ist uns diese Zeit noch!

Und so auch: Woche für Woche neue Dokumente aus den jetzt geöffneten Archiven der ehemaligen Sowjetunion über Besitzverhältnisse an Häusern und Grundstücken, die von den Nazis erzwungen wurden, - über Konten, über Bilder und Kunstgegenstände. In den Häusern ganzer Straßenzüge in Berlin tauchen jetzt erst die Namen einstiger Besitzer und die Rechtsansprüche geretteter Nachkommen auf. Erst jetzt müssen Firmen an ihre Arisierungsgewinne, - Familien an ihre ukrainischen Hausmädchen, - Bauern an ihre „Fremdarbeiter“ aus den Lagern, und Kirchgemeinden an Zwangsarbeiter auf ihren Friedhöfen denken.

Und ich weiß nicht, wie es in Österreich aussieht; Kaum ein Monat, in dem nicht jetzt erst durch Dokumente die Erinnerung an KZ-Außenlager geweckt wird, von denen bisher niemand „etwas wusste“. Mein ganzes Deutschland sehe ich geografisch neu: Es war bis in einsamste Fernen und allernächste Nähen ein einziges Netz an Konzentrationslagern, und ich habe viel dazulernen müssen: Zuerst hieß es, die großen Schreckenslager befanden sich mit wenigen Ausnahmen außerhalb der Grenzen des „Reichs“ und darum haben wir es nicht wissen müssen. Dann wuchs die Kenntnis von Lagern im Reich. Und nun - dritte Phase des Erwachens - reiht sich sogar im gedrängten Stadtgebiet Berlins ein sogenanntes „Außenlager“ an das andere. Eine Reise durchs Vaterland schnürt mir heute den Hals zu. Dass sich jetzt so viele 16jährige bei uns als Jungnazis gebärden und betätigen, sehe ich einerseits - wie schon 1968 bei der Studentenbewegung - als Kehrseite der Unehrlichkeit, die in der DDR die Deutschen zu „Siegern“ eines guten Deutschlands erklärte, in der alten westdeutschen Bundesrepublik die Politik: „Es ist genug gebüßt“ propagierte. Auch Ihr Österreicher habt ja erst den schmerzlichen Weg des Ehrlichwerdens antreten müssen; von Opfern des deutschen Faschismus zum “Hitler in Wien“ und zum „Heldenplatz“.

Ich denke an all das nur, weil es zeigt: Nicht vergessen ist keineswegs nur eine Sehnsucht von innen und ein Kampf um Tugend und um Ehre. Es ist unvermeidlich, weil jene Vergangenheit wirklich noch nicht vergangen ist. Wollten wir vergessen, würden wir hoffnungslos gegenwartsblind. Nur wer nicht vergisst, ist up to date - Mensch von heute: Zeitgenosse, und gerade nicht „von gestern“.

Freilich braucht ein Volk einen ausgeglichenen seelischen Haushalt. Darum bringt eine einseitige Betrachtung nichts Gutes. Auch Menschen unserer Völker haben gelitten, und auch da kommt jetzt erst viel Verdrängtes oder bisher unter Tabu Gestelltes ans Tageslicht, z.B. diese armen Kinder des Himmlerschen Rassenwahns, die, in den Zuchtanstalten des sogenannten „Lebensborns e.V.“ gezeugt und geboren, ohne Wissen um ihre Eltern aufwachsen mussten, in Norwegen z.B. als Bastarde gesellschaftlich ausgeschlossen, z. T. für schreckliche chemische Experimente benützt, in Europa hin- und hergeschoben, und - wie wir jetzt wissen - auch von der DDR als politisches Erpressungsmittel missbraucht, um das Wissen von sich selbst betrogen worden. Erst seit zehn Jahren gelingt es einzelnen, noch Spuren zu uralten leiblichen Müttern und Vätern zu finden. Ich wusste bisher nicht, wie schrecklich es ist, Mensch ohne Wissen um die eigenen Wurzeln zu sein. Diese Opfer wurden krank an ihrer persönlichen Geschichtslosigkeit; und keiner von ihnen könnte, nicht einmal im Traum - gerade dort nicht - auf die Idee kommen: „Macht endlich Schluss mit diesen Geschichten!“ Sie sind ein Beispiel für das Selbstzerstörerische an einer Hochschätzung unserer „Art“, und für das Unmenschliche, von den eigenen Müttern und Vätern nichts zu wissen.

Ja, auch bei uns wurde und wird auch noch gelitten. Nur stoßen wir überall, wenn wir ehrlich sind, darauf: Unser Leiden war von Anfang bis Ende ein Leiden an uns selbst.

Hier sehe ich das Schwierige an unserer Aufgabe, an einem Selbstverständnis unserer Völker zu arbeiten zwischen Selbsthass und gleichgültiger Selbstzufriedenheit. Innerlich zerrissen sind unsere beiden Völker schon genug. Die „zwei Seelen, ach, in unserer Brust“ lassen uns oft auf andere Völker ganz deppert wirken, pathetisch, dramatisch unausgeglichen und darin unberechenbar gefährlich nach wie vor. Ihr Österreicher habt es jetzt wieder erfahren müssen an der Europäerreaktion auf den Kanzler Schüssel, der sich von Jörg Haider hat tragen lassen. Uns Deutschen könnte es genauso gehen. Dabei habt ihr in eurer Wiener Kultur, was uns Deutschen so abgeht: eine Heiterkeit, aus einer Melancholie über den eigenen Tod, über den Schatten, den wir Menschen werfen, und eine katholische Unschulds-Schuld. Für unsere Zukunft käme es aber darauf an, mit Leben und Tod, Gut und Böse, Licht und Schatten nicht weiter zu spielen, sondern eins im anderen zu bejahen. In dem, was uns auszeichnet, gibt es etwas, was uns bald unerträglich machen kann, in unserem deutschen Sprach- und Kulturbewusstsein, in dem so viele, die wir vertrieben haben, sich in der Fremde bargen, unsere Überheblichkeit und Unwahrheit: als stünde „unser“ Mozart wirklich für uns alle. Aber auch umgekehrt: Aus dem Schwarzen Loch, in das wir unsere Humanität versenkt haben, kann eine neue Menschlichkeit aufsteigen, ein Ringen ums Wahrwerden ohne Selbsttäuschung, und so ein Drang zum vere homo, zu einem wahren Menschentum. Beides also. Und hier sind gerade wir Protestanten unseren Völkern einen Dienst schuldig.

Wo wir gelernt haben, dass wir vor Gott nicht zwei Halbe sind, sondern ganz „gerecht“ und, ohne aufzuhören, ganz gerecht zu sein, zugleich auch ganz „Sünder“; ja, wo wir von unserem Lehrer Martin Luther gelernt haben, dass wir gerade darin ganz „gerecht“ und „wahre“ Menschen sind, dass wir uns ganz als Sünder erkennen und bekennen, ohne Wenn und Aber: Da könnten wir, wenn es uns gelänge, das aus dem Dogmatischen ins Menschliche zu übersetzen, unseren Völkern behilflich sein, sich ohne Minderwertigkeitskomplexe gut zu wissen und schuldig zugleich; nicht halb gut, halb schuldig, sondern ganz gut und ganz schuldig, mit „aufrechtem Gang“ zu gehen (ich zitiere jetzt Bert Brecht) “wie andere Völker auch“ und doch ganz „krumm gewachsenes Holz“.

Die Solidarität

Schließen möchte ich nun mit dem dritten Satzteil des Kuhle-Wampe-Liedes. Der erste Satzteil hieß „Vorwärts“, der zweite „und nicht vergessen“. Nun der dritte: „die Solidarität“. Das Herzwort der alten Arbeiterbewegung, durch Solidarnosc in Polen 1980 noch einmal aufgeblüht.

Ich schließe jetzt biblisch.

Wie oft zeigt uns das Neue Testament Jesus Christus in einer Synagoge: in Nazareth, in Kapernaum, in Galilea, in Judäa, nicht zuletzt auf dem Tempelberg in Jerusalem. Von dort her hat er seine Lehre. Dort lehrt er auch. Mir wird immer anrührend bleiben, wie Jesus um Hilfe gebeten wird für den im Sterben liegenden Knecht des römischen Hauptmanns von Kapernaum: Komm, er verdient es, dass du ihm das gewährst, denn er hat unser jüdisches Volk lieb und er ist es, der unsere Synagoge gebaut hat (Lk 7,5). Der Heide hat den Juden ihre Synagoge gebaut, und Juden bitten ihren Landsmann Jesus: Hilf jetzt du seinem Knecht; und Jesus tut es.

Und da denke ich jetzt mit Scham an die zerstörte Synagoge auf Eurem Judenplatz und ihre von uns Christen in den Tod getriebene Gemeinde von 1420 - und mit Dankbarkeit dafür, dass Eure Stadt Wien jetzt den protestantischen Pfarrerssohn Lessing so jung, so stark und energisch auf den Kubus Eures Eingedenkens an die zerstörte Synagoge zuschreiten lässt.

Aber zuletzt kommt mir noch etwas anderes in den Sinn. Der Zeltmacher und Jesusprediger Paulus kam nach Korinth. Ordentlicher Jude, der er auch, wie Jesus, war, ging er am Schabbat in die dortige Synagoge und versuchte, die jüdische Gemeinde für seinen Jesus zu gewinnen. Das schaffte er nicht. Da tat er, was sein Herr und Meister seinen Anhängern für einen solchen Fall geraten hatte: „Wenn man euch nicht aufnimmt und eure Worte nicht ankommen, dann geht fort aus jenem Haus und schüttelt den Staub von euren Füßen“ (Mk 10,14). Also: verflucht die Synagogengemeinde deswegen nicht, macht kein Getöse darum, dass ihr sie nicht mit eurem Evangelium gewinnen könnt. Sucht euer Gluck an einer anderen Tür.

So hat es Paulus auch bei seinem Misserfolg in Korinth getan. Und nun kommt’s, was an dieser Geschichte so gut und wichtig für uns werden kann: Ja, er schüttelte seine Kleider aus und suchte jetzt andere Hörer fürs Evangelium: Nicht-Juden. Es heißt, er siedelte von dort - von der Synagoge - über und ging in ein anderes Haus, in ein nicht-jüdisches Haus, das einem Mann namens Titius Justus gehörte, seinem Namen nach einem Römer. Dort fing Paulus von vorne an zu predigen. Aber, so lesen wir, das Haus des Titius Justus „stieß an die Synagoge“ an, d.h. es grenzte an die Synagoge. Also: Die Christen leben Wand an Wand mit der Synagoge. Näher geht’s nicht: Wand an Wand, wenn auch nicht unter einem Dach. Juden und Christen – Grenznachbarn, einander die Nächsten (vgl. Apg 18,7).

Und damit dann: Vorwärts! Und nicht vergessen! Die Solidarität! Also: die gute Grenznachbarschaft!

 

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Berlin, hielt diesen Vortrag anlässlich der Generalversammlung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wien.

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